17. Dezember

Freya stand mit zittrigen Händen in der Schlange des Süßigkeitenstandes auf dem festlich geschmückten Weihnachtsmarkt. Unter ihren - mit dickem Fell gefütterten - Schnürstiefeln knirschte der Schnee und ihre Zehen fingen schon an taub zu werden. Schnell zog sie ihren dicken schwarzen Wollmantel fester um ihren Körper und vergrub ihre Hände in ihren Taschen. Wieso hatte sie nur ihre Handschuhe zu Hause vergessen?

Sie sah sich etwas genauer um. Links und rechts am Weg entlang zwängten sich kleine Weihnachtsstände mit Glühwein, Essen und allerlei selbst gemachten Waren aneinander.

Für Freya war ein solcher Weihnachtsmarktbesuch etwas ganz besonderes, denn als Prinzessin von Ilaledo, einer kleinen Insel, die zwischen Island und England lag, blieb sie selten unerkannt. Besonders in ihrem kleinen Königreich war sie sehr beliebt und wurde nicht selten von einer ihrer vielen Bewunderern angesprochen. Ganz anders als üblich wurde sie dieses Mal jedoch nicht von ihrem Security-Team begleitet. Mit einer blonden Perücke - die ihr glattes schwarzes Haar verdecken sollte -, der Mütze und dem dicken Schal würde sie hoffentlich niemand so schnell erkennen.

Obwohl Freya bereits seit einem Monat volljährig war, schrieben ihre Eltern ihr immer noch sehr, SEHR gerne vor, was sie zu tun, und was zu lassen hatte. Als Königin des Landes war ihre Mutter auch nichts anderes gewohnt. Regeln aufstellen war ihr Ding. Ihr Vater war auch nicht viel besser. Alles musste immer perfekt sein. Sie sollten die perfekte Familie sein und Freya die perfekte Tochter. Mit perfekten Noten und einem perfekten Aussehen. Warum sollte sie sonst noch den Pony tragen, den ihre Eltern ihr mit drei Jahren geschnitten hatten „weil sie damit so süß aussah"?

Bei solchen Eltern gab es nur einen Weg in die Freiheit: Für sich selbst einstehen und ihnen die Meinung sagen? Nein. Freya hatte schon im Alter von fünfzehn Jahren den idealen Weg aus ihrem Zimmer hinaus, durch den Garten, über das Tor und rein in die Freiheit entdeckt. Keine Kamera und kein Wachposten hatte sie je dabei entdeckt. Es war eine riesige Sicherheitslücke des Palastes, aber darüber machte Freya sich keinen Kopf. So friedlich wie Ilaledo war, würde höchstens jemand einbrechen, um Blumen für die Königin vorbeizubringen.

„Was möchtest du?" Freya erschrak. Der Mann hinter der Theke sah sie grimmig an. Sie musste wohl schon etwas länger weggetreten gewesen sein, denn die Schlange - die eben noch vor ihr gestanden hatte - war plötzlich verschwunden. Freya trat näher an den Tresen heran. Was sollte sie sich kaufen? Alles in der Auslage sah so lecker aus.

Sie räusperte sich und zeigte auf die Schokoerdbeeren mit weißer Schokoglasur. „Einmal die weißen Schokoerdbeeren, bitte."

Der Mann packte die Erdbeeren ein und legte sie auf den Tresen. „Das macht dann fünf Euro."

Wow. Seitdem Ilaledo den Euro eingeführt hatte, waren die Preise echt durch die Decke gegangen! Was hatten sich ihre Eltern und das Parlament nur dabei gedacht? Kein Wunder, dass die königliche Familie seit einigen Wochen in den ganzen Klatschblättern zur Sau gemacht wurde.

Schnell kramte Freya drei Euro aus ihrer Jackentasche hervor. „Moment, ich bin gleich so weit." Hektisch kramte sie weiter. Aber da war nichts mehr.

Das Gesicht des Verkäufers wurde mit jeder Sekunde grimmiger. Zum Glück kam Freya als Prinzessin nur selten in solche Situationen. Wenn sie ansonsten unterwegs war, bezahlten immer ihre Berater und Personenschützer für sie, die auf Freyas Geld aufpassten. In Wahrheit schützten sie das Geld aber gar nicht vor Dritten, sondern vor Freyas Schusseligkeit. Denn nicht nur einmal war ihr ihr Portemonnaie in den Gulli gefallen.

Bevor Freya in weiteren Jacken- und Hosentaschen nach Geld suchen konnte, trat ein Mann zu ihr nach vorne. „Hier." Auf seiner ausgestreckten Hand lag eine Zweieuromünze. Freya blickte hoch. Der Mann war in Wirklichkeit gar kein Mann, sondern eine Junge der ungefähr in ihrem Alter sein musste. Auch seine Stimme war längst nicht so tief. Er überragte Freya um ungefähr anderthalb Köpfe und durch seine graue Daunenjacke zeichneten sich breite Schultern ab. In seinem kantigen Gesicht war kein Ansatz eines Bartes zu sehen, dafür kräuselten sich aber umso mehr kurze braune Locken auf seinem quadratisch wirkendem Kopf.

Verschmitzt sah er sie an. Die Hand mit dem Geldstück darauf hielt er ihr immer noch entgegen gestreckt. Als Freya nicht reagierte, bezahlte er das restliche Geld und nahm die Erdbeeren entgegen, und gab sie sofort an Freya weiter.

Verschämt blickte sie ihn an. „Danke, aber das hättest du nicht machen müssen."

Der gutaussehende unbekannte zuckte mit den Schultern. „Es ist doch bald Weihnachten, sollte man da nicht etwas gutes tun?" Er bestellte eine Schokobanane, bezahlte, und wand sich dann wieder Freya zu. Sie musste grinsen. Der Kerl sah echt heiß aus.

Als er zurück lächelte, lief Freya rot an und senkte schnell den Blick.

„Danke, dass du mir eben geholfen hast", bedankte sie sich erneut und traute sich wieder, ihm in die Augen zu sehen.

„Kein Problem. Hey, weißt du zufällig, wo es hier diese riesigen Plüschtiere gibt?"

Freyas Blick folge seinem Finger, der auf einen Vater zeigte, der seine kleine Tochter auf den Schultern sitzen hatte. Mit ihren kleinen Ärmchen hielt sie eine riesige Giraffe umklammert.

„Ja, da hinten gibt es einen ganzen Stand davon", Freya zeigte über ihre Schulter. „Ich kann dir gerne zeigen, wo."

Der mysteriöse Fremde lächelte sie wieder so charmant an. „Das wäre echt super, danke!"

Eigentlich hätte Freya sich darum sorgen müssen, eventuell von ihm erkannt zu werden, aber in den drei Jahren, in denen sie sich nun schon aus ihrem Fenster schlich, war sie immer unentdeckt geblieben. Die Angst, erkannt zu werden, war immer weniger geworden, bis sie schließlich ganz verschwunden war.

Ihre Süßigkeiten essend, schlenderten sie zu zweit über den Weihnachtsmarkt. In der Luft lag der kühle Duft von Schnee, gemischt mit einer süßlichen Note von Glühwein, Kerzen und Tannenzweigen. Als Freya ihre Erdbeeren aufgegessen hatte, schloss sie für einen kurzen Augenblick die Augen und genoss den Moment in vollen Zügen. Im Hintergrund lief leise Weihnachtsmusik und rundete die friedliche Szene perfekt ab.

In dem Moment fühlte Freya sich so richtig frei!

„Aua!" Freya blieb stehen, rieb sich den Kopf, und öffnete die Augen. Sie war gegen einen Laternenmast gelaufen. Ernsthaft ? Warum passierte sowas immer ihr? Das würde bestimmt eine fette Beule geben.

Neben ihr ertönte ein tiefes Lachen. Empört sah Freya zum mysteriösen Fremden. „Lachst du mich gerade etwa aus? Sowas macht man nicht! Schon gar nicht bei ..." Freya zögerte. Sie konnte wohl kaum „bei einer Lady" sagen. Auch wenn es nur ein Sprichwort war.

Der Fremde schüttelte den Kopf und stülpte seine Lippen nach innen, um sein Lachen zu unterdrücken. Aber es klappte nicht.

Immer noch empört schüttelte Freya den Kopf und piekte ihn mit den Fingern die Seite. Der Fremde sprang zurück und quickte auf. Ha! An dieser Stelle war jeder kitzlig!

Jetzt lachte Freya ihrerseits den mysteriösen Fremden aus.

„Hey!", beschwerte er sich. „Ich habe fast meine Banane fallen lassen!" Lachend deutete er auf seine halb aufgegessene Schokobanane.

„Du armer", nahm Freya ihn lachend auf den Arm und strich sich das blonde Haar der Perücke aus dem Gesicht. Schnell überprüfte sie dabei noch unauffällig, ob ihre Mütze den unnatürlichen Ansatz verdeckte.

Alles gut. Die Mütze saß noch so, wie sie es sollte.

„Wie heißt du eigentlich?", fragte sie dann.

„Alarik, und du?" Er sah Freya mit funkelnden Augen an, und knabberte den Rest der Banane vom länglichen Holzspieß.

Kurz zögerte Freya. Bisher hatte sie niemandem ihren wahren Namen verraten, wenn sie alleine unterwegs war. Doch Alarik machte auf sie nicht den Eindruck, als würde er sie mit ihrer Perücke erkennen.

„Ich heiße Freya."

Jetzt war die Katze aus dem Sack. Freya beobachtete jede Regung in Alariks Gesicht, aber er schien sie wirklich nicht mit der Prinzessin in Verbindung zu bringen.

„Das ist ein schöner Name", war seine einzige Reaktion.

„Danke", Freya wurde erneut rot und guckte auf ihre dicken Stiefel herunter. Dann setzte sie sich wieder in Bewegung.

Wohin wollte sie nochmal? Ach ja, zum Plüschtier-Stand!

„Kommst du hier aus dem Dorf?", fragte Alarik und fuhr sich mit der Hand durch seine braunen Locken, die dadurch noch wilder fielen.

Freya schüttelte den Kopf. Wie viel konnte sie ihm wohl verraten? „Ich komme von außerhalb, aber der Weihnachtsmarkt hier ist immer der schönste."

„Schade, ich bin gerade erst hergezogen. Es wäre schön gewesen, schon jemanden zu kennen."

„Woher kommst du denn?", wollte Freya neugierig wissen.

„Island."

„Was? Aber du hast doch gar keinen isländischen Dialekt!" Auf Ilaledo wurde zwar auch Isländisch gesprochen, aber die Sprache klang ganz anders.

Alarik griste. „Meine Mutter kommt von hier. Von ihr habe ich auch den Dialekt. Ihretwegen sind wir übrigens wieder zurück nach Ilaledo gezogen."

„Klingt logisch."

Alarik lachte kurz auf, nahm Freya dann ihren abgeknabberten Holzspieß aus der Hand, und warf ihn gemeinsam mit seinem eigenen in die nächste Mülltonne. Dabei erhaschte Freya einen guten Blick auf seinen breiten Rücken.

Sie schüttelte den Kopf. So durfte sie nicht denken!

Ja, er sah heiß aus , war nett, und am wichtigsten: Er hatte Humor und Charakter! Aber nach dem heutigen Tage, würden sie sich nicht mehr sehen können. Ihre Schwärmereien für Alarik konnte sie sich also gleich sonst wohin stecken. Leider ...

Als er wieder zu ihr zurück kam, zwang Freya sich ein Lächeln ab.

„Hast du Lust, Schlittschuhlaufen zu gehen?" Seine Stimme hatte einen leicht scherzhaften Unterton angenommen.

Freya sah ihn irritiert an. „Was?"

Alarik zeigte nach rechts. Dort stand eine - von vielen Familien befahrene - ovale Eisfläche. Die Banden an den Seiten wurden durch wunderschöne Tannengestecke mit roten und weißen Kugeln geschmückt.

„Oh", machte sie. „Ich kann das gar nicht." Verlegen kratze sie sich an der Perücke. Das Ding juckte wie Hölle.

Alarik nahm sie trotzdem am Arm und zog sie hinter sich her. „Das macht nichts. Ich bring es dir bei. Das Plüschtier für meine Schwester kann ich auch noch danach holen."

Freya versuchte sich noch aus der Affäre zu ziehen. „Aber mein Geld liegt noch bei mir im Auto." Sie zeigte in Richtung Parkplatz.

„Ich bezahle für dich." Alarik drehte sich nicht einmal zu ihr um, als er antwortete, und schritt stur auf den torartigen Einlass der Eisfläche zu.

„Das kann ich doch nicht von dir verlangen!"

Endlich blieb Alarik stehen und drehte sich ihr zu. Anstatt ihren Arm loszulassen, nahm er nun allerdings ihre Hand. Sie war warm und weich, aber zugleich auch stark. Und diese Adern ...

Schnell sah Freya wieder in Alariks braune Augen. Früher hatte sie braune Augen langweilig gefunden, und war deshalb noch stolzer auf ihre Grünen. Aber Alariks Augen funkelten. Außerdem hatte er kleine goldene Sprenkel um die Pupille herum. Wie Feuerwerk.

„Ich habe eine Idee. Ich bezahle dir das Schlittschuhfahren, und du fährst mich gleich nach Hause." Seine Stimme klang amüsiert.

Freya wollte gerade etwas erwidern, als Alarik sie schon weiterzog. Ihre Hand immer noch in Seiner.

Keine zehn Minuten später stand Freya in Schlittschuhen vor der Eisbahn und hielt sich an der Bande fest, bereit, das Eis zu betreten. Das Höllen-Eis, wie sie es heimlich nannte.

„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist, Alarik. Ich bin durch die dicken Klamotten total in meiner Bewegung eingeschränkt."

Alarik stand hinter ihr. „Das macht nichts." Er selbst trug nur eine Daunenjacke. Freya trug eine Mütze, einen Schal und einen dicken Mantel. Aber leider keine Handschuhe. „Du kannst sonst auch noch etwas ausziehen", schlug Alarik vor. „Im Schließfach ist noch Platz."

Freya schüttelte den Kopf. Sie blieb lieber dick gepolstert, falls sie das Eis knutschen müsste.

„Dann nicht." Alarik trat an ihr vorbei auf die Eisfläche und bot Freya seine Hände an. Dankbar ließ diese die Bande los und ließ sich von ihm stützen.
Dann setzte sie langsam einen Fuß auf die Eisfläche. Ganz schön rutschig.

„Stell dich am besten gerade hin", gab Alarik ihr mit weicher Stimme kleine Ratschläge. Freya stellte sich gerade hin.

Als sie komplett auf der Eisfläche stand, fing Alarik langsam an, rückwärts zu fahren. An seinen Händen festgekrallt, ließ Freya sich mitziehen.

„Nicht so schnell!", rief sie, als Alarik sein Tempo nach einer halben Runde drastisch beschleunigte. Auf ihren Wunsch hin wurde er wieder langsamer.

„Versuch mal, mich anzugucken", riet Alarik ihr. Freya hob den Blick von der Eisfläche und betrachtete erneut Alariks Gesicht. Die harten Kanten seiner Kochen wirkten dank seines Lausbuben-Lächelns viel weicher, als Freya sie vorhin noch wahrgenommen hatte.

Als Alarik nach ein paar Runden ihr Hände los ließ, um neben ihr herzufahren, machte Freyas Herz einen Satz. Nicht nur, dass sie nun wieder fürchten musste hinzufallen, nein, sie vermisste auch das warme Gefühl seiner Hände.

Als Alarik jedoch einen Arm um ihre Hüfte legte, um sie zu stützen, war auch das vergessen.

Nach ein paar Stürzen, viel Lachen und noch mehr vielsagenden Blicken, konnte Freya von sich behaupten, ganz okay Schlittschuhlaufen zu können. Lachend und händchenhaltend fuhren die beiden nun nebeneinander her. So frei wie jetzt hatte Freya sich noch nie gefühlt. Nie war sie so schnell mit einer fremdem Person auf der selben Längenwelle gewesen.

Was machte Alarik nur mit ihr?

Zwischen all den Gefühlen und wilden Schmetterlingen in ihrem Bauch blieb Freya kein Platz mehr für Vorsicht. Gemeinsam mit Alarik wirbelte sie über die Eisfläche, stolperte, und riss sie beide zu Boden.

Mit einem dumpfen „Urghh" landeten sie auf dem Eis. Freya hatte sich den Sturz schmerzhafter vorgestellt, bis sie feststellte, dass sie auf Alarik gelandet war. Er lag mit dem Rücken auf der Eisfläche, sie Brust-an-Brust auf seinem Bauch.

Lachend blickten sie sich in die Augen.

Alarik fing an, ganz leicht über ihre Arme zu streichen, und Freya erwischte sich dabei, wie sie auf seine volle Lippen starrte.

Das Lachen erlosch, und es lag ein knistern in der Luft. Freya schaute wieder auf seine Lippen.

Eine Gänsehaut kroch ihr den Rücken hoch.

Konnte man jemanden küssen, den man erst seit knapp einer Stunde kannte?

Freya schob den Gedanken beiseite und beugte sich vor. So weit es ihr diese Liegeposition erlaubte. Erst sah Alarik sie überrascht an, doch dann änderte sich sein Blick. Fast schon wissend streckte er sich ihr entgegen.

Sein Atem streifte ihre Wange, und die Schmetterlinge in Freyas Bauch schienen eine Party zu feiern. Sie war so aufgeregt, dass sie zusammengebrochen wäre, wenn sich nicht schon am Boden gelegen hätte. Auf Alarik drauf!

Zögernd überbrückte Freya die letzten Millimeter zwischen ihren Lippen und schloss ihre Augen. Alariks Lippen fühlten sich warm und weich an. Sie passten perfekt zu ihren. Bewegten sich perfekt zu ihren.

Doch bevor der Kuss intensiver werden konnte, schreckte Freya hoch „Oh Gott!"

Was tat sie hier? Sie lag in der Öffentlichkeit auf einer Eisbahn und knutschte mit einem Fremden herum! Wenn ihre Eltern das herausfinden würden, hätte sie ein mächtiges Problem. Freya schüttelte den Kopf. Wie konnte sie in dieser Situation nur an ihre Eltern denken?

Schnell rappelte sie sich auf und bot Alarik eine Hand an. Als beide wieder auf den Füßen standen, wuschelte sich Alarik verlegen durch die Locken. „War ich so mies?"

Freya prustete los. „Oh Gott, nein, es lag nicht an dir. Du warst super." Wenn sie nicht schon aussah wie eine Tomate, dann tat sie es spätestens jetzt. Was hatte sie da gerade gesagt? „Aber knutschend auf der Eisbahn zu liegen, ist nicht so meins."

Jetzt stimmte auch Alarik in das Lachen ein. Dann stockte er jedoch abrupt und kniff leicht die Augen zusammen. „Irgendwie ... sind deine Haare ... schief", brachte er zögernd hervor.

„Was?", rief Freya hysterisch. Sie griff sich an den Kopf, doch ihre Perücke war nicht mehr zu retten und fiel samt Mütze auf die Eisfläche. Freya riss vor Schock die Augen auf. „Scheiße!"

Jetzt konnte jeder ihre langen, glatten, schwarzen Haare mit dem Pony sehen, die als Prinzessin von Ilaledo ihr Markenzeichen waren.

Mit gerunzelter Stirn sah Alarik sie an. Was ging wohl gerade in seinem Kopf vor?

Egal.

Erstmal musste sie hier heile rauskommen. Die ersten Menschen auf der Eisfläche beäugten sie schon misstrauisch und zeigten mit dem Finger auf sie. Eine Frau in pink kramte schon energisch nach ihrem Handy.

Mist! Mist! Mist!

Ausgerechnet jetzt wollte die Perücke nicht mehr halten? Warum nur?

Schnell griff Freya nach Alariks Hand. Er schien das Benehmen seiner Mitmenschen noch nicht bemerkt zu haben. „Wir müssen schnell weg!"

„Warte, warum?" Alarik wollte sich ihrem Griff entziehen und sah sie verwirrt an. „Warum trägst du eine Perücke?" Er zeigte auf das blonde Haar, das aufgefächert am Boden lag.

Hastig packte Freya die Perücke und zog weiter an Alariks Arm. Dass sie noch sehr wackelig auf dem Eis war, war in diesem Moment sehr kontraproduktiv.

„Ich erkläre dir alles im Auto, versprochen! Aber wir müssen erst mal hier weg." Sie sah ihn flehend an. „Bitte!"

Alarik nickte - die Stirn immer noch in Falten gelegt - und folgte ihr. Freya hielt den Kopf unten und zog sich die Mütze auf den Kopf. Besser als gar nichts. Zumindest konnte sie so ihren Pony verdecken.

Schnell gaben sie die Schlittschuhe zurück und schlüpften in ihre Straßenschuhe, bevor der ganze Schwall an Menschen von der Eisfläche bei ihnen war. Denn obwohl der Weihnachtsmarkt in einem kleinen Dorf stattfand, in dem Freya nie im Leben etwas passiert wäre, wollten viele Besucher mit der zukünftigen Königin ihres Landes reden. Schade nur, dass die zukünftige Königin gerade keinen Bock darauf hatte.

Freya und Alarik rannten eilig in Richtung Parkplatz. Die kalte Winterluft brannte in den Lungen, doch Freya lief nur noch schneller. Als sie den Weihnachtsmarkt verließen, fanden sich die beiden in einem kleinen Park wieder. Der Weg war nur noch zu erahnen. Mehrmals blieb Freya an einer Baumwurzel hängen und fiel fast hin. Hier fehlten eindeutig Lampen!

Am Parkplatz angekommen, steuerte Freya auf ihr schwarzes Auto zu.

„Ernsthaft? Ein Rolls Royce?", kam es von hinten.

„Jepp. Technisch gesehen gehört der aber meinen Eltern."

Alarik starrte sie an. „Seid ihr reich, oder was? Moment Mal! Mussten wir deshalb so schnell abhauen? Bist du irgendein Undercover-Superstar, von dem niemand wissen darf, dass er hier ist?"

Freya zog eine Grimasse und nickte anerkennend während sie ins Auto stieg. „So ungefähr. Jetzt steig ein, sonst fahre ich ohne dich los."

Genauso wie in Island, herrschte auf Ilaledo Rechtsverkehr. Alarik stieg auf der Beifahrerseite ein und kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. „Die Rückbank sieht aus wie in einer Limousine!"

„Ja, aber wirklich bequem sind die Sitze nicht", versuchte Freya die unangenehme Situation zu überbrücken.

„Nicht bequem?", regte sich Alarik auf. „Auf der Fernbedienung dahinten steht ‚Massagestufen'. Wie kann etwas mit Massagestufen nicht bequem sein?"

Freya blieb still und parkte aus, während Alarik seine Adresse in das Navi eingab. Tatsächlich waren ihnen einige Besucher vom Weihnachtsmarkt nachgelaufen und beobachteten sie nun. Zum Glück kannte niemand die privaten Autos der Königsfamilie, und auch die Scheiben waren getönt.
Andererseits ... Ein Rolls Royce war nicht gerade unauffällig.
Im Gegenteil.

Früher hatte Freya sogar gedacht, es hieße Royals Royce.

Sie bog auf die nächst größere Straße ab. Aus dem Radio dröhnte die entspannende Melodie von ‚Driving Home for Christmas', doch Freya selbst war alles andere als entspannt. Immerhin musste sie Alarik gleich die Wahrheit über sich erzählen.

„Hier hättest du eigentlich blinken müssen."

„Was?" Freya sah Alarik irritiert an. Er lächelte leicht provokant zurück.

„Naja, ich mache gerade meinen Führerschein, weil ich in zwei Monaten achtzehn werde. Dahinten hättest du eigentlich blinken müssen ... Und du bist viel zu schnell."

Freya grummelte etwas Unverständliches und nahm den Fuß vom Gaspedal. „So besser?", fragte sie patzig.

Alarik machte mit seiner linken Hand das Zeichen für Okay, was Freya mit den Augen rollen ließ.

Nach einem kurzen Moment der Ruhe ergriff Alarik wieder das Wort. „Schade, wir haben es gar nicht mehr geschafft, das Plüschtier für meine Schwester zu holen. Apropos: Warum hattest du eben eine Perücke auf? Und warum mussten wir danach so schnell weglaufen? Wirst du verfolgt?"

Freya schüttelte den Kopf und bog auf eine Landstraße ab. Vor ihr auf der Fahrbahn war Blaulicht zu sehen. Dahinter standen die Autos in Reihen und wurden langsam von den Polizisten durchgewunken. Was war denn da los?

Alarik schien sich das selbe zu fragen. „Meinst du, da ist ein Unfall passiert?"

Erneut schüttelte Freya den Kopf. „Mist, ich glaube, das ist eine Polizeikontrolle." Hoffentlich erkannten die Polizisten sie nicht. Das würde sehr unangenehm werden.

Alarmiert sah Alarik sie an. „Du trägst eine Perücke, fliehst vom Weihnachtsmarkt, fährst einen teuren Wagen und jetzt hast du Panik wegen einer kleinen Polizeikontrolle? Bitte, wenn ich dein Geisel bin, sag mir einfach Bescheid. Ich kann mich auch selbst fesseln, wenn du willst, aber bitte tu mir nicht weh."

Freya konnte nicht sagen, ob er es sarkastisch, oder ernst meinte.

„Du kannst dich selbst fesseln?", fragte sie daher nur und zog eine Augenbraue in die Höhe. Langsam rollten sie auf die Polizeikontrolle zu.

Stolz nickte Alarik. „Das ist mein bester Party-Trick."

Freya lachte auf. Was hatte sie auch anderes erwartet?

„Wenn du eine Entführerin bist, bist du auf jeden Fall eine Sympathische! So viel steht fest!"

„Verdammt, Alarik! Ich will dich nicht entführen! Was sollte ich denn mit die anstellen wollen?" So langsam konnte Freya sich selbst nicht mehr ganz ernst nehmen und hatte große Mühe ihr Lachen zu unterdrücken.

Alarik wackelte provokant mit den Augenbrauen. „Naja, das auf der Eisbahn spricht für sich."

Freya verdrehte erneut die Augen.

Sie fuhr noch ein Stückchen vor - bis sie neben einem Polizisten zum stehen kam - und öffnete ihr Fenster. Ein mittelalter Polizist mit Bierbauch beugte sich zu ihr herunter. Bevor er auch nur den Mund aufmachen konnte, hielt sie ihm schon ihren Führerschein und die Fahrzeugpapiere entgegen, die sie bereits in weiser Voraussicht aus der Mittelkonsole geholt hatte.

Doch den Polizisten interessierten die Papiere gar nicht. Mit offenem Mund starrte er sie an. „Eure Hoheit?"

„Ähm ..." Super! Wieso musste ausgerechnet heute alles schieflaufen?

Der Polizist redete einfach weiter. Wie ein Wasserfall. Ein fröhlicher Wasserfall. „Wenn ich meinem Mann und meiner Tochter heute Abend erzähle, dass ich die Prinzessin kontrollieren musste! Das wird mir niemand glauben!" Sein Blick viel auf Alarik, der noch verdutzter wirkte als zuvor schon. „Entschuldigt, ich wollte Euch nicht bei Eurem Date stören!"

Freya schüttelte den Kopf. „Kein Date." Wow. Das war das einzige, was sie zu dieser absurden Situation zu sagen hatte?

Verlegen kratzte sich der Polizist am Hinterkopf. „Dürfte ich vielleicht ein Foto von Euch für meine kleine Tochter machen? Sie ist erst fünf Jahre alt, aber schon ein riesiger Fan!"

„Ähm ..."

„Oh Gott, wie unhöflich von mir! Ich will Euch gar nicht weiter belästigen. Gute Weiterfahrt!" Der Polizist trat einen Schritt zurück und verbeugte sich leicht vor Freya. Gar nicht unangenehm.

Freya lächelte ihm verlegen zu und fuhr los. Das war komisch. Selbst für sie war das Benehmen des Polizisten etwas drüber gewesen.

„Also jetzt musst du mir das aber wirklich erklären, Eure Hoheit.", forderte Alarik - nicht ohne ein Lächeln in den Mundwinkeln stehen zu haben. Lachte er sie etwa wieder aus?

Freya seufzte. „Ich habe die Perücke getragen, um ungestört auf den Weihnachtsmarkt gehen zu können. Ich bin quasi die Prinzessin von Ilaledo."
Zögerlich spinkste sie zu Alarik herüber. Wie würde er die Nachricht aufnehmen?

Alarik saß lässig im Sitz, schlang die Arme um die Kopflehne und sah zu ihr herüber. „Mit Krönchen und so?" Seine Locken ließen ihn ganz schön schalkhaft aussehen.

„Was?"

„Musst du auch auf Bällen tanzen oder wie soll ich mir das vorstellen?" Alarik lachte auf.

„Du nimmst das besser auf als gedacht. Findest du das nicht krass?"

„Naja, immerhin entführst du mich wirklich nicht. Glaub mir, ich dachte kurz du wärst eine Juwelendiebin, oder so."

Freya sah ihn empört an. „Und du bist trotzdem mit mir ins Auto gestiegen? Und hast mir auch noch deine Adresse gegeben?"

Alarik zuckte mit den Schultern. „Du kannst gut küssen."

Freya lief rot an. Idiot.

„Aber im Grunde genommen bist du doch ein ganz normales Mädchen, das zufälligerweise das Glück oder das Pech - kommt ganz darauf an wie man es nimmt - hatte, in die königliche Familie geboren zu werden", fuhr Alarik fort.

Wow. Noch nie hatte jemand Freya für ganz normal gehalten. Alle wollten immer nur in das Schloss eingeladen werden oder mal ein Diadem tragen dürfen. Kurz gesagt: Freya hatte keine echten Freunde.

„Danke. Das bedeutet mir sehr viel", bedankte sie sich gerührt bei Alarik.

Alarik wirkte irritiert. „Was?"

„Dass du mich normal behandelst. Weißt du, meine Eltern sind total konservativ und steif. Alle anderen Königshäuser sind viel näher an ihrem Volk, aber meine Eltern sehen sich als etwas besseres an. Das färbt auch auf mich ab. Die Bürger Ilaledos behandeln mich, als wäre ich eine Gottheit, wenn sie mich sehen. Oder sie denken, ich wäre eine abgehobene, verzogene Göre. Aber ich glaube, wenn wir mehr Kontakt zu ihnen hätten, würden sie endlich einsehen, dass wir auch nur Menschen sind. Dann müsste ich mich auch nicht mehr verstecken oder weglaufen."

Alarik nickte, und Freyas Herz machte vor Freude einen kleinen Hüpfer.

Er verstand sie! Er schien sie wirklich zu verstehen!

Schweigend bog sie in eine kleine Wohnsiedlung ein.

„Ihr Ziel befindet sich auf der rechten Seite", ertönte die künstliche Stimme aus dem Navi.

Alarik schnallte sich ab. „Danke. Nicht nur für das nach Hause fahren, sondern für den ganzen Abend." Seine Stimme war ungewohnt weich geworden, gar nicht mehr scherzhaft oder neckend.

„Wenn dann, muss ich mich bei dir bedanken! Du hast mir Schlittschuhfahren beigebracht!" Freya fiel etwas ein. „Apropos Schlittschuhlaufen, ich kann dir jetzt das Geld zurückgeben. Warte kurz."

Sie reckte sich nach hinten, um an ihre große Tasche zu kommen, die auf der Rückbank lag. Doch Alarik hielt sie zurück. „Hey, schon vergessen? Wir hatten eine Abmachung. Ich habe für dich bezahlt und du hast mich nach Hause gefahren. Wir sind Quitt."

Freya zog eine Schnute. „Na gut."

Alarik lächelte, beugte sich vor und hauchte ihr einen zarten Kuss auf die Lippen. „Ich fand es heute sehr schön", flüsterte er. Seine Lippen streiften Freyas Wange, und in ihrem Inneren begann es erneut zu brodeln. „Meinst du, wir können das wiederholen?" Er strich ihr sachte mit den Fingerspitzen über den Oberarm, wie schon zuvor. Doch durch die Winterjacke spürte sie es kaum.

Trunken vor Glück und mit Schmetterlingen im Magen nickte Freya. „Ich kann dich morgen um fünfzehn Uhr abholen kommen." Sie zögerte kurz, fuhr dann jedoch verschmitzt fort. „Wenn du willst, können wir zu mir fahren. Mal gucken, ob du immer noch so cool drauf bist, wenn du die Königin triffst."

War das zu früh? Hätte sie das lieber nicht sagen sollen?

Doch Alarik schien mitzuspielen und lächelte verschmitzt. „Die böse Königin?"

Freya lachte auf. „Nah dran, aber unter den Angestellten ist sie eher als die Eiskönigin bekannt."

Alarik riss die Augen auf. „Nicht im Ernst!"

Freya hielt sich vor lauter Lachen den Bauch. „Doch, meine Mutter ist schlimm. Mein Vater auch. Ich kann es kaum erwarten ihre Gesichter zu sehen, wenn ich dich ihnen vorstelle."

Alarik sah sie entgeistert an. „Ich hoffe, du machst nur Scherze." Es klang fast wie eine Frage.

Freya schüttelte den Kopf. „Warum glaubst du denn, schleiche ich mich nachts heimlich raus?" Sie wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel.

„Das kann ja noch heiter werden." Alarik öffnete die Tür, gab Freya einen kleinen Kuss auf die Wange und stieg aus. „Gute Nacht, Prinzessin. Bis morgen." Als ihm das Wort Prinzessin über die Lippen kam, funkelte etwas in seinen Augen schelmisch auf.

Mit Alarik würde Freya garantiert noch jede Menge zu lachen haben.

„Gute Nacht, mysteriöser Fremder."

---

Noch eine kleine Anmerkung: Freya heißt soviel wie Herrin/ Herrscherin und Alarik steht für Anführer. Damit geben die beiden doch ein perfektes Paar ab ...

18. März 2024 🌼

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top