Szene ③
Der kalte Wind der Winternacht peitschte in ihre Gesichter, als Lilia, Jasper und Kristina in einer außerordentlichen Geschwindigkeit durch die träumenden Wälder ritten.
Laut der jungen Reiterin befand sich das Gebäude, in welchem Suzanne, Benno und Fria eingesperrt waren, circa eine halbe Stunde Reitweg entfernt von ihnen.
Das erklärte auch, warum die Polizei dort noch nicht gesucht hatte.
Heute waren sie erst einmal in den vorderen Teil der Wälder aufgebrochen.
Außerdem befand sich das alte Haus im Privatbesitz einer Person. Die Polizei konnte deshalb nicht ohne triftigen Grund hineinspazieren.
Jasper und Lilia wussten leider nicht mehr, wem das Haus gehörte. Außerdem bedeutete das nicht, dass der Förster sein Besitzer war. Vielleicht war er einfach eingebrochen, weil das Gebäude seit Jahren unbewohnt war.
„Es ist nicht mehr weit", hörte man Kristina rufen. Sie saß ganz vorne auf ihrem Pferd. Durch den starken Gegenwind verstand man sie deshalb schlecht.
Hoffentlich würde die Polizei Jaspers Nachrichten verstehen und den Weg schnell finden. Durch den schlechten Empfang kamen die Mitteilungen an seinen Vater nur langsam durch und die Standortübermittlung konnte man ganz vergessen.
Die Polizei war hoffentlich trotzdem schon losgefahren. Durch den dichten Wald gab es nur einen einzigen, schwer befahrbaren Weg, der sie zu dem Haus bringen konnte, weshalb es noch einige Zeit dauern würde, bis sie hier auftauchten.
Außerdem wussten sie wahrscheinlich, im Gegensatz zu den Freunden, noch immer nicht genau, wo sie überhaupt hinmussten. Kristinas Beschreibung in der Wache war nicht die beste gewesen und Jasper Internetverbindung ließ zu wünschen übrig. Für eine konstante Übertragung im Wald war das Internet zu schlecht.
„Wie hast du herausgefunden, wo sich Benno, Fria und Suzanne befinden?", rief Lilia und strauchelte mal wieder. Sie saß hinter Kristina auf dem Pferd, doch da sie gar keine Reiterfahrung hatte, gab es immer mal wieder Momente, in denen sie dachte, sie würde hinunterfallen.
Jasper hinter ihr sah nicht besser aus. Mit aller Kraft krallte er sich an Lilias Rücken fest und starrte nach vorne, um bloß nicht nach unten zu sehen.
In der Geschwindigkeit, in der das Pferd über den unebenen Waldboden galoppierte, würde man sich garantiert etwas brechen, sollte man fallen.
„Der Förster hat mich ebenfalls mal in diesem Haus untergebracht", berichtete Kristina. „Dort versucht er, einem ein normales Leben vorzugaukeln."
„Was meinst du damit?", fragte Lilia gespannt. Vielleicht würden sie jetzt endlich mehr über die Motive des Försters erfahren.
„Sein Ziel ist es, Menschen so zu manipulieren, dass sie alles für ihn tun. Wie Marionetten. Emma und ich sind von ihm entführt worden, als wir noch ganz klein waren und er hatte gehofft, uns damit ganz für sich zu gewinnen. Er wollte Menschen erschaffen, die ganz allein ihm unterlagen."
„Seit wann weißt du denn, dass ihr entführt wurdet? Hat sich euer Leben im Bunker nicht wie ein normales angefühlt, wenn ihr nichts anderes kanntet?"
„Natürlich. Die ersten Jahre schon. Der Förster muss uns persönlich aufgezogen haben, sonst wären Emma und ich gestorben. Wir waren ja noch Babys. Doch daran kann ich mich deshalb auch nicht mehr erinnern. Für mich gibt es nur eine Zeit, in der Hans und Lani, bereits da waren. Sie haben uns davon berichtet, wie das Leben außerhalb des Gefängnisses ist. Ich glaube, der Förster hat damit einen Fehler begangen, uns zusammen unterzubringen. Durch die beiden ist bei Emma und mir der Wunsch entstanden, frei zu sein. Fortan haben seine Experimente nicht mehr gezogen. Wir waren ihm bereist unterstellt gewesen, doch Hans' überzeugende Argumente haben alles zunichte gemacht."
„Warum hat der Förster euch trotzdem in Jesingen rumlaufen lassen?", fragte Jasper.
„Wir haben ihm etwas vorgespielt. Emma und ich wussten, dass wir nur an die Freiheit gelangen, wenn wir ihm weißmachen, wir wären noch immer auf seiner Seite. Also haben wir so getan, als würden wir auf alles hören, was er von uns wollte, damit er mit seinen Experimenten in die nächste Phase gehen konnte. Ich durfte mit neuem Namen und einer einstudierten Persönlichkeit auf dem Reiterhof Reitstunden nehmen. Emma war leider keine so überzeugende Schauspielerin, weshalb sie sich nie sonderlich weit vom Bunker entfernen durfte."
„Das ist echt krass", sagte Lilia grübelnd. Kristina war also zum Reiten gekommen, da sie beim kranken Spiel des Försters mitgespielt hatte. „Warum bist du nicht einfach zur Polizei gegangen? Oder hast du jemandem davon erzählt, wer du bist? Tilo zum Beispiel."
„Ich war ja erst einmal auf dem Reiterhof im Nachbarsort, damit ich weniger auffalle. Auch wenn man in mir nicht das entführte Baby von vor neunzehn Jahren erkennt, hätte trotzdem jemand stutzig werden können. Und Neu-Mühlheim ist zumindest nicht Jesingen. Der Förster hat es also erst einmal dort versucht."
„Stimmt. Du warst ja nicht von Anfang an hier. Das hatte ich vergessen ..."
„Ist ja nicht schlimm. Und du hast ja recht, theoretisch hätte ich jemanden von dort in mein Geheimnis einweihen können. Hilfe anfordern, weil ich entführt worden war. Doch so einfach war das nicht. Der Förster bewachte mich auf Schritt und Tritt. Mein Handy war immer angeschaltet an meiner Seite und hätte ich es ausgemacht, wäre der Förster sofort vorbeigekommen. Ich weiß auch immer noch nicht, wie der Förster es geschafft hat, mich beim Reiten anzumelden. Unter welchem Namen er die Rechnungen bezahlt hat. Doch ehrlich gesagt war es mir egal. Das Reiten hat mir so viel Spaß gemacht, dass ich es nicht mit einer waghalsigen Aktion verbocken wollte. Der Förster ist noch immer im Besitz einer schussbereiten Waffe und mein Leben war mir heilig. Auch wenn es ein Leben in Ketten war, ich hatte immer die Hoffnung, dass ich eines Tages wie durch ein Wunder befreit werde."
„Da du uns das jetzt alles erzählst, gehst du also davon aus, dass heute dieser befreiende Tag gekommen ist?" Jasper krallte sich wieder stärker an Lilias Rücken, als das Pferd über einen kleinen Baumstamm sprang. Der Wind wehte noch immer eiskalt in ihr Gesicht. Wann waren sie endlich an ihrem Ziel angekommen?
„Ja, ich glaube, heute ist der Tag der Entscheidung gekommen. Entweder, wir besiegen den Förster, oder er besiegt uns." Da Kristina weiterhin nach vorne sah, nahmen Lilia und Jasper nicht den mitleidigen Blick auf ihrem Gesicht war, der sich bei diesem Satz gebildet hatte.
„Wir schaffen das schon", versprach Lilia, klang dabei aber wenig optimistisch.
Das merkte auch Jasper. „Pessimismus kickt", sagte er und lächelte leicht.
„Hey ..." Lilia versuchte sich zu ihm umzudrehen, lies es aber schnell, als sie ins Straucheln geriet. „Ich bin mir sicher, die drei sind wohlauf und warten auf unsere Rettung."
„Die werden sie auch bekommen." Jaspers Augen tränten vom starken Wind, doch er versuchte wacker, sie aufzuhalten. Als er in der Ferne das alte Gebäude erblicken konnte, von welchem Kristina berichtet hatte, ballte er die Hände zu Fäusten.
Der Förster hielt dort Benno, Fria und Suzanne gefangen. Doch nun war ihre Rettung zur Stelle. Und auch wenn Jasper sonst so gerne pessimistische Sprüche zum Besten gab, würde er heute nicht aufgeben, bevor sich seine Freunde in Sicherheit befanden. Denn diese Freundschaft war ihm wichtiger als alles andere. Er empfand nichts als Liebe für Lilia, Benno und Fria. Es waren die wichtigsten Personen in seinem Leben.
Jasper hatte bereits Malea verloren, er würde nicht zulassen, dass ihm der Förster jemand weiteren nahm.
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