Szene ①
Nichts fühlt sich schlimmer an, als der Gedanke, nie sein Ziel zu erreichen. Nie in den Genuss des Triumpfes zu kommen, auf den man monatelang hingearbeitet hatte.
Lilia war sich sicher, dass dieses Gefühl bald bei ihr eintreten würde, wenn sie den Förster nicht schnappten. Zu lange arbeitete sie schon auf seine Enttarnung hin, doch gerade war sie kurz vor dem Aufgeben.
Den ganzen Tag über hatte sie mit Jasper vor ihrer Wand gestanden und gegrübelt, doch es hatte sie zu nichts gebracht. Natürlich gab es Menschen in Jesingen, denen sie ein Motiv zuordnen konnten. Einige, die für bestimmte Tatzeiten kein Alibi vorweisen konnte.
Aber ohne Beweise brachte sie das alles nicht weiter.
Eigentlich müssten sie von Haus zu Haus tigern und in den Räumen nach verdächtigen Unterlagen suchen. Doch Jim lies das nicht zu.
Immer wieder hatte Jasper ihn darum gebeten, sie gehen zu lassen. Doch sein Vater war schlau genug, um dem nicht nachzugehen. Denn nach Hause würde Jasper sicher nicht gehen.
Lilia und Jasper versuchten, stark zu bleiben. Doch immer wieder waren sie im Laufe des Tages zusammengebrochen. Ihre Freunde waren schon viel zu lange weg. Wer garantierte ihnen, dass sie noch lebten? Dass es noch eine Chance auf Rettung gab?
Der Tag hatte sich ewig langgezogen, doch nun war es endlich so weit. Lilias Mutter hatte ihr soeben über WhatsApp mitgeteilt, dass Dorothea nach Hause gekommen war. Endlich würden Jasper und sie die Frau anrufen und befragen können. Denn dass der Förster die Freunde entführt haben könnte, weil er wegen irgendetwas in Dorotheas Haus Panik bekommen hatte, war die einzige Idee, die sie noch hatten.
Mit zittrigen Händen wählte Lilia die Handynummer. Es lag alles an diesem Gespräch. Wenn sie gleich keine Antworten bekamen, würden sie womöglich aufgeben. Dann wären Benno, Fria und Suzanne verloren.
„Hallo?", meldete sich Dorothea. Müdigkeit schwang in ihrer Stimme mit.
„Hi. Hier sind Jasper und Lilia."
Maleas Mutter schnappte nach Luft. „Habt ihr die anderen gefunden?" Hoffnung schien sie zu überfluteten und wieder einmal fühlten sich Jasper und Lilia schlecht dafür, Dorothea jemals verdächtigt zu haben. Sie liebte die Freunde, als wären es ihre Kinder.
„Leider noch nicht. Aber wir hatten gehofft, dass du uns vielleicht ein wenig helfen kannst."
„Bei was denn?"
Lilia überlegte, wie sie die Sachlage erklären konnte. „Der Förster hat dich doch wegen den Kleidern erpresst ..."
„Ja?"
„Hat er vielleicht noch etwas anderes getan?"
„Nein, auf keinen Fall." Die Antwort kam so schnell und direkt, dass Lilia schlucken musste. Sie glaubte ihr.
Doch Jasper hakte nach. „Auch nicht aus der Zeit, in der Hans und Larissa noch bei euch gelebt haben? Vielleicht gibt es im Keller noch irgendwelche Beweise dafür, dass der Förster damals Hans erpresst hat?"
„Eigentlich nicht. Das ist ja schon ewig her. Seitdem habe ich den Keller schon einige Male entrümpelt."
„Außerdem wurde Hans immer über E-Mails erpresst", pflichtete ihr Lilia bei.
„Die habe ich sicher nicht mehr. Nachdem Hans damals verstorben war, hatte ich den Zugriff auf seinen Account. Er muss die Mails vorher gelöscht haben, sonst hätte ich sie schon vor Jahren gefunden."
„Ok." Jasper raufte sich die blonden Haare. War es das schon gewesen? Würde die erhoffte Hilfe ausbleiben?
„Kannst du dich vielleicht trotzdem nochmal ganz genau in deinem Haus umsehen?", fragte er Dorothea. „Ich will nicht aufdringlich sein, aber unsere Freunde sind noch immer verschwunden und uns läuft die Zeit davon. Außerdem liegt es nahe, dass der Förster Benno, Fria und Suzanne vor deiner Haustür angeschossen hat, weil er dachte, sie würden zu dir gehen."
„Das verstehe ich natürlich. Ich kann es ja mal versuchen." Man hörte, wie Dorothea ein paar Schritte ging. „Hast du eine Idee, nach was ich genau Ausschau halten soll."
„Keine Ahnung." Jasper fühlte sich plötzlich nutzlos. War die Suchaktion wirklich nötig? Dorothea kannte ihr Haus doch in und auswendig.
Er hatte sich den ganzen Tag schon so gefühlt, als würde er jeder Kleinigkeit hinterherrennen und damit das große Ganze aus den Augen verlieren.
Selbst wenn sie jetzt einen Hinweis finden würden, wäre das dann wirklich ein Beweis, oder nur eine Kleinigkeit, in die sie Großes hineininterpretierten?
Es war ja schön, dass Dorothea ihnen half, aber vielleicht was das doch die falsche Herangehensweise.
„Vielleicht gehst du am besten nochmal zum kleinen Tisch im zweiten Geschoss", schlug Lilia vor, da Jasper nicht mehr antwortete. „Dort, wo ich den Kassenbon gefunden habe."
„Ok, ich werde nachsehen."
Während die beiden durch das Handy hörten, wie Dorothea die Treppen nach oben stieg, spielte Jasper unruhig mit seiner Wasserflasche.
„Was ist los?", fragte Lilia leise.
„Ich habe Angst", gestand er.
„Ich auch."
„Was wird aus Benno, Fria und Suzanne? Vielleicht bekommt der Förster mit, dass wir hier herumspionieren, und tut ihnen deshalb etwas an."
Man sah, wie Lilia diesen Gedanken versuchte abzuschütteln. Es tat zu weh, darüber nachzudenken, was gerade mit ihren Freunden geschah.
„Ich bin jetzt da", verkündete Dorothea durch den Höher. „Ich sehe hier mein Bücherregal, den Lesesessel und den Tisch mit der Lampe. Wo soll ich anfangen zu suchen?"
„Liegt außer dem einen Buch noch etwas auf dem Tisch?"
„Nein."
„Dann versuche es mal beim Bücherregal. Gibt es da irgendeinen Titel, den du mit einer Person verbindest, die du kennst?"
„Dorothea muss die Person gar nicht persönlich kennen", gab Jasper zu bedenken. „Der Förster hatte ja keine Probleme mit den Verhaags. Er hat Hans damals nur entführt, weil er die beiden vermissten Mädchen, Celine und Martha, spielend im Wald entdeckt hatte."
„Stimmt", kommentierte Frau Verhaag. „Und bis ich die Verbindungen zu meinen Büchern aufgezählt habe, werden Stunden vergehen. Gefühlt habe ich schon jedes Einzelne mal an jemanden aus dem Dorftreff verliehen. Vielleicht ..."
Weiter kam sie nicht. In diesem Moment flog die Tür des Büros auf, in welchem sich Lilia und Jasper befanden.
Die beiden erschraken, als sie die Person in der Tür erkannten.
„Ich rufe dich nachher zurück", entschuldigte sich Lilia und beendete den Anruf mit Maleas Mutter.
„Kristina? Was machst du hier?", fragte Jasper sprachlos.
Tatsächlich war es die junge Reiterin, die schwer atmend und mit verdreckten Klamotten in der Tür des Büros stand.
„Ich weiß, wo sich eure Freunde befinden."
Dieser Satz reichte Lilia und Jasper aus, um aufzuspringen, und mit Kristina an der Spitze aus dem Zimmer zu rennen. Sie liefen an den Wachen vorbei und als Jasper einen Polizisten sah, welcher gut mit seinem Vater befreundet war, rief er ihm eine schnelle Entschuldigung zu.
Er würde seinen Standort sofort mit diesem teilen, wenn er Benno, Fria und Suzanne gefunden hatte. Außerdem schildete Kristina ihm das Haus, in welchem die drei eingesperrt waren.
Lilia und Jasper konnten nicht mehr an die Konsequenzen denken, die ihr Handeln vielleicht haben könnte. Oder an den Förster, welcher vielleicht in seinem Versteck auf sie wartete.
Stattdessen trieb sie das Adrenalin dazu, nur an die bevorstehende Wiedervereinigung mit ihren Freunden zu denken.
Vor der Polizeistation mussten die beiden abrupt abbremsen, weil unterwartet Kristinas Pferd vor der Pforte stand.
Die Reiterin schwang sich schnell auf dessen Rücken und sah Lilia und Jasper erwartungsvoll an.
„Ihr müsst schon aufsteigen. Sonst wird das eine lange Wanderung."
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