Szene ①


Unweit vom Tatort entfernt, ahnten Jasper und Lilia zu dieser Zeit noch nichts.

Lilia war vor den anderen Freunden aufgebrochen, obwohl diese an ihrem Haus vorbeigekommen wären, da sie Jasper angeboten hatte, bei den Vorbereitungen für das Wichteln zu helfen.

Gemeinsam hatten sie einen kuscheligen Sitzkreis aus Kissen und Decken erschaffen und ein paar Kerzen angezündet. Ein großer Sack für die Wichtelgeschenke stand auch bereit.

Nun war Lilia dabei, Plätzchen kunstvoll auf einem Teller zu drapieren, als sie plötzlich damit begann, immer wieder auf die Uhr zu schauen.

„Was ist los?", fragte Jasper sie. Er saß auf seinem Zimmerboden und versuchte, eine alte Lichterkette zu reparieren.

„Die anderen sollten schon vor fünf Minuten hier sein."

„Du kennst doch Benno. Der kommt nie pünktlich. Gib ihnen noch etwas Zeit, bevor du anfängst, dich aufzuregen."

„Ok." Lilia seufzte. Sie wusste, dass sie wahrscheinlich überreagierte, doch im Moment konnte man nicht vorsichtig genug sein. So musste sich wohl immer ihre Mutter fühlen, wenn sie mal wieder zu spät nach Hause kam.

Jasper und sie warteten weitere zwanzig Minuten, bevor es Lilia zu viel wurde. „Da muss etwas passiert sein. Fria würde niemals zulassen, dass sie SO viel zu spät kommen, ohne uns Bescheid zu sagen." Lilia scrollte durch ihr Handy, doch keiner der dreien hatte ihnen geschrieben. „Ich rufe sie an."

Jasper zuckte nur mit den Schultern. Langsam machte auch er sich Sorgen, doch er wollte es noch nicht zugeben. Vielleicht würde Lilia ruhiger bleiben, wenn er ruhig blieb.

Die junge Autorin wählte Frias Nummer, nach dem Klingeln ging aber nur die Mailbox ran. Dann versuchte sie es bei Benno. Dann bei Suzanne.

„Es geht keiner ran", verkündete sie Jasper. Man hörte die Verzweiflung in ihrer Stimme.

Dieser hatte seine Bastelarbeiten an der Lichterkette beendet und sprintete zur Tür. „Ich sage meinem Vater Bescheid. Versuch du weiter, sie anzurufen."

Er wollte Lilia jetzt ungerne allein lassen, deshalb zog er sie mit sich nach unten. Immer wieder wählte sie Frias Nummer, dann wieder Bennos, dann wieder Suzannes. Doch es meldete sich niemand.

„Papa?", rief Jasper, als sie im Wohnzimmer ankamen.

Sein Vater hatte sich auf das Sofa gekuschelt und sah sichtlich ausgeruht aus. Auch er genoss die freien Tage, die er sich vor Weihnachten genommen hatte.

Nun aber schreckte er nach oben und blickte in Jaspers besorgte Augen. „Was ist los?"

„Fria, Benno und Suzanne sollten vor etwa einer halben Stunde hier sein. Sie sind nicht aufgetaucht und jetzt geht keiner an sein Telefon." Jasper raufte sich die blonden Haare. „Das ist alles meine Schuld."

Jim war aufgesprungen und ebenfalls zu seinem Handy gegangen. Er wählte die Nummer der Polizei. „Das darfst du nicht denken, Jasper."

„Genau", pflichtete ihm Lilia bei. Wieder einmal hatte Benno ihren Anruf nicht abgenommen. Sie setzte sich auf das Sofa, da sich ihre Beine zu schwach anfühlten, um noch lange auf ihnen stehen zu können.

„Natürlich ist es meine Schuld. Als wir das Treffen ausgemacht haben, meintest du noch, dass Bennos Eltern sie fahren sollen, damit sie hier auf jeden Fall sicher ankommen. Und dann meinte Benno, dass sie leider keine Zeit haben. Frias und Suzannes Eltern auch nicht. Und dann meinte ich, ich Spatzenhirn: Ach, es wird schon nichts passieren. Also ist es sehr wohl meine Schuld." Jasper spuckte Lilia den letzten Satz förmlich entgegen, während er im Zimmer auf und ablief. Er fühlte sich machtlos, verzweifelt und er wusste nicht, wie er helfen konnte.

Auf der einen Seite hörte er das Tuten aus Lilias Handy, welches jeden weiteren erfolglosen Anruf dokumentierte, welcher von keinem seiner Freunde angenommen wurde, auf der anderen Seite verfolgte er das Gespräch zwischen Jim und seinen Kollegen.

Sofort hatten sie beschlossen, nach den Freunden zu suchen. Mit dem Förster in ihren Hinterköpfen bestand kein Zweifel daran, dass etwas passiert war.

Jim wollte ebenfalls ausrücken, doch die Polizisten hielten ihn davon ab. Er sollte lieber darauf aufpassen, dass Jasper und Lilia in Sicherheit blieben, als sich selbst in Gefahr zu begeben.

Jim diskutierte nicht lange. Jetzt auf Jasper aufpassen zu können, hatte auch für ihn höchste Priorität.

Der junge Wissenschaftler lief noch immer im Zimmer umher, machte sich Vorwürfe und sah machtlos in der Gegend herum. In seinem Kopf befanden sich alle möglichen Bilder von seinen Freunden, wie sie vom Förster gefangen, gefoltert und getötet wurden.

Jim konnte das nicht mit ansehen. Er ging zu seinem Sohn und nahm ihn in die Arme. „Wir werden sie bald finden", versprach er ihm.

„Ich bin mir da nicht so sicher", antwortete Jasper und man spürte, dass er sich die Tränen zurückhalten musste. In den verschiedensten Lebenslagen konnte er cool bleiben und emotionslos sein, aber wenn es um seine Freunde ging, traf man bei ihm einen wunden Punkt.

Er versuchte, die Augen zu schließen, und sich auf die Umarmung seines Vaters zu konzentrieren. Einfach ein – und wieder ausatmen.

Jim roch nach Jaspers Kindheit. Früher war dieser Geruch ein schöner gewesen. Den gleich neben dem seines Vaters, hatte es einen zweiten gegeben.

Doch als Jasper nun an seine Mutter denken musste, welche er bereits an den Tod verloren hatte, löste er sich von seinem Vater.

Daran wollte er gerade am aller wenigsten denken.

„Tut mir leid, ich ..." Er suchte nach den richtigen Worten. „Ich will gerade einfach nur allein sein."

„Das lasse ich aber nicht zu." Jim verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir bleiben zu dritt in diesem Zimmer, bis deine Freunde gefunden wurden. Und als erstes werde ich jetzt Fria, Bennos und Suzannes Familie anrufen und sie darüber aufklären. Setzt du dich hin. Ich bringe dir ein Wasser."

Jasper wollte etwas erwidern, er wollte weg von hier. Hinauf in sein Zimmer, in sein Bett. Dort könnte er allein Trübsal blasen und sich selbst die Schuld an allem geben.

Doch in diesem Moment startete Lilia einen weiteren Anruf an Benno und dieses Mal kam sie durch.

Jim reichte Jasper ein Glas Wasser, welches er annahm, ohne es groß zu realisieren.

Denn Lilia hatte den Lautsprecher aktiviert, weshalb alle im Raum erschraken, als eine elektronisch verzehrte Stimme verkündete: „Ich habe eure Freunde. Sagt ihnen Lebwohl."

Es war die gleiche Stimme, die damals mit ihrem Tod gedroht hatte. Vor diesen unzähligen Wochen war das nur eine leere Drohung gewesen, doch hatte der Förster sie nun wahr werden lassen?

Lilia schrie und Jasper konnte sich ebenfalls nicht zurückhalten, als er das Wasserglas, welches ihm sein Vater gereicht hatte, gegen die Wand schmiss. An dieser zerschellte es und die Scherben fielen vor ihn zu Boden.

Nun ging also wirklich alles den Bach runter. 

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