Szene ⑤


Noch immer lag Jesingen unter einer Schneedecke, welche jedoch langsam anfing, dünner zu werden. Auf den Straßen hatte der Schnee sich schon braun gefärbt und zu kleinen Matschhügeln aufgetan und auf dem Rasen befanden sich karge Stellen.

Schade, Fria hatte gehofft, dass das weiße Wunderland bis Weihnachten andauern würde.

Gemeinsam mit Benno und Suzanne war sie gerade auf dem Weg zu Jasper. Übermorgen war Weihnachten, weswegen die Freunde beschlossen hatten, heute ihre Wichtelgeschenke zu verteilen. Hoffentlich würde sich Lilia über ihr Geschenk freuen. Fria hatte ihr ein neues Notizbuch ausgesucht, auf welchem verschiedene Blumen abgebildet waren. Es hatte die Optik eines alten Naturkundebuchs. Außerdem hatte sie einen schönen Kugelschreiber ausgesucht, den Lilia schon monatelang angehimmelt hatte, er ihr aber immer zu teuer gewesen war, um ihn einfach so zu kaufen.

Bei dem Gedanken, Lilia eine Freude machen zu können, wurde ihr wohlig warm.

„Und ihr seid sicher, dass Jasper mein Geschenk gefallen wird?", fragte Suzanne zum gefühlt zehnten Mal. Sie blickte immer wieder nervös zu ihrer Geschenketüte, in der sich das Geschenk für Jasper befand. Sue hatte sich nicht sonderlich gefreut, als sie den jungen Wissenschaftler vor ein paar Wochen beim Wichteln gezogen hatte. Denn ihn kannte sie von den Freunden am wenigsten und so hatte sie Angst, ihm etwas auszusuchen, was ihm am Ende nicht gefallen würde.

„Natürlich wird er es mögen. Ich hätte das auch für ihn genommen, wenn ich ihn gezogen hätte", beruhigte sie Benno und drückte ihre Hand. Die beiden hatten sich für ein Baukastenset entschieden, bei dem man testen konnte, wie verschiedene Materialien miteinander interagierten. Es würde Jasper sicher Spaß bereiten, damit zu experimentieren und hoffentlich konnte es auch beim Bau des Windrads helfen. Denn da Jasper und die anderen Computernerds die letzten Wochen durch Klausuren und Hausaufgaben zu abgelenkt gewesen waren, um daran zu arbeiten, war es immer noch nicht fertig.

Suzanne hatte bei Bennos langer Erklärung zwar schon mehrfach zugehört, doch überzeugt von ihrem Geschenk war sie nicht. „Wenn du meinst."

Fria sah den beiden zu und lächelte. Sie freute sich auf den heutigen Abend. Schon seit sie vor ein paar Wochen die Wichtelzettel ausgelost hatten, war sie ganz aufgeregt. Zwar würde Tilo nicht dabei sein, was merkwürdig war, denn er war die letzten Tage nicht von ihrer Seite gewichen. Doch sie konnte kurz auf ihn verzichten, denn ein paar unbekümmerte Stunden mit ihren Freunden waren genau das Richtige, um die weihnachtliche Stimmung einzuläuten. Plätzchen, Tee und gute Laune waren für heute Abend die Devise. Und übermorgen war dann endlich Heiligabend. Darauf hatte Fria auch schon Monate lang gewartet.

„Hast du die leckeren Plätzchen dabei?", fragte sie Benno und leckte sich über die Lippen. Die Vanillekipfel seiner Großmutter und die Schokopralinen fand sie besonders lecker.

„Klar", antwortete Benno und deutete auf seinen Rucksack. „Für dich habe ich sogar noch eine kleine Extra-Tüte gepackt."
„Wie cool." Fria strahlte ihn an. Das war wieder einer dieser Momente, in dem sie froh war, Benno ihren Freund nennen zu können. Es waren nicht die Extraplätzchen, die sie so glücklich machten, sondern der Fakt, dass er beim Einpacken an sie gedacht hatte.

Als die Freunde an Lilias und Maleas Wohnstraße vorbeiliefen, fiel Frias Blick auf das Haus der Verhaags. Im oberen Stockwerk brannte ein Licht, was darauf hindeuten ließ, dass Dorothea wieder zuhause war. 

Also hatte Jasper recht gehabt. Was ein Glück. Fria freute sich für Maleas Mutter. Immerhin musste sie nun den Weihnachtsabend nicht allein auf der Polizeiwache verbringen.

„Zum Glück ist sie wieder offiziell unschuldig", murmelte Benno vor sich hin. Er hatte wohl etwas Ähnliches gedacht, wie Fria.

„Ja. Wirklich jeder in dieser Stadt darf am Ende der Förster sein. Es ist mir ganz egal. Hauptsache es ist dann vorbei. Nur sie darf es nicht sein. Dann würde ich den Glauben an die Menschheit verlieren."

„Bei Jaspers Vater fände ich es auch komisch", gab Suzanne zu bedenken.

„Ja. Aber er kann es gar nicht sein. Er war immer bei uns, während der Förster operiert hat."

„Und es hat schon genug Situationen gegeben, in denen er einfach seine Waffe hätte auspacken, und uns umbringen können", kommentierte Benno.

Dieser Gedanke jagte Fria einen ungewollten Schauer über den Rücken. Auch wenn sie Jim nicht im Entferntesten verdächtigte, war ihr nun doch unwohl, wenn sie an all die Momente zurückdachte, in denen er mit einer Pistole neben den Freunden gestanden hatte. 

Wie einfach es für ihn gewesen wäre, die Waffe zu ziehen, und mit ihr auf einen der Freunde zu zielen.

Was ein Glück war die Polizei vertrauenswürdig. Wobei? Konnte sie ausschließen, dass ein anderer Polizist der Förster war? Immerhin konnte die Person, die hinter allem steckte, gut mit Waffen umgehen. Alle Menschen, die im Bunker eingesperrt gewesen waren, waren mit einer Betäubungskugel getroffen worden und noch war unklar, wie der Förster an diese gekommen war.

Vielleicht war er wirklich ein Polizist und nach einer Schicht hatte er sich einfach am Vorratsschrank bedient.

Fria sah sich panisch um. Sie durfte nicht zu viel nachdenken. Wenn sie weiter an den Förster dachte, würde sie gleich in Panik ausbrechen. Sie würde sich Dinge ausdenken, die nicht im Entferntesten logisch, in ihrer Wahrnehmung aber umso realer waren. Sie würde zusammenbrechen und weinen und zittern und schwer atmen. Sie würde ...

„Fria, hey." Suzanne legte ihr beruhigend einen Arm auf die Schulter. „Ist alles in Ordnung?"

Fria konnte nur mit dem Kopf schütteln. Zu viele Gedanken schwirrten gleichzeitig durch ihren Kopf. Vielleicht hatte sie den Förster bereits ein paar Mal gesehen, als sie mit Jasper seinen Vater auf der Wache besucht hatte. Vielleicht hatte sie bereits ein paar Meter neben ihm gestanden, während er bewaffnet gewesen war. Vielleicht ...

„Setzt dich", schlug Suzanne vor und gemeinsam mit Benno half sie der zitternden Fria dabei, sich hinzusetzten. 

Minutenlang sagte sie nichts. Suzanne war sich nicht sicher, wie sie Fria am besten helfen konnte, deshalb überließ sie Benno das Reden. Dieser half ihr, ihre Atmung ruhig zu stellen und erzählte dann von belanglosen Dingen, um Fria von ihrer Panik abzulenken.

Suzanne bemerkte, wie das Zittern von Frias Fingern langsam stoppte. Sie holte tief Luft und sah Benno an. „Danke." Ihre Stimme war noch ganz gebrechlich, doch ihr Blick war wieder klar.

Benno schüttelte den Kopf. Man sah sogar kleine Tränen in seinen Augen glitzern. „Wir müssen dir echt Hilfe holen Fri. Ich weiß, du willst es nicht, aber es muss sein. Tilo oder ich sind sicher nicht immer da, um dir zu helfen. Ich kann das nicht mehr mit ansehen, es bricht mir jedes Mal das Herz."

Fria nickte langsam. Noch immer schien sie sich von ihren Gedanken ablenken zu wollen, weswegen sie nach einer schwarzen Haarsträhne griff und sie um ihren Finger lockte. „Ich rede morgen mit meinen Eltern."

„Gut." Erleichtert stand Benno auf und strich sich durch die Haare. Sie waren verschwitzt. Offensichtlich gingen ihm Frias Zusammenbrüche näher, als er zugeben wollte.

Benno machte den Mund auf, um etwas zu sagen, als ein Schuss ertönte.

Dann noch einer.
Und noch einer.

Fria schrie auf, als sie die erste Kugel in die Seite traf.

Benno stöhnte vor Schmerz, als ihn die zweite Kugel in das rechte Bein traf.

Suzanne kreischte, als sie die dritte Kugel in den linken Arm traf.

Kurz hatte sie Zeit, darüber nachzudenken, was das zu bedeuten hatte.
Dann wurde alles schwarz. 



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Und damit endet Episode Sieben! Wie der Titel der Episode schon verraten hat (Ruhe vor dem Sturm) war es heute eher ruhig, dafür geht es aber nach diesem Kliffhänger in der nächsten Episode spannend weiter.

Findet ihr das eigentlich besser, eine ganze Episode am Stück zu bekommen, oder lieber öfter Updates, dafür aber nur einzelne Szenen? 

Liebe Grüße! 

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