Szene ①
Es gab nichts Schöneres, als in einem schneebedeckten Wald spazieren zu gehen. Das weiß in den hohen Tannen, das Knirschen unter den Schuhsohlen und die kleinen Flöckchen, die dir um die Nase tanzten, sorgten für eine Unbeschwertheit der Seele.
Jasper und Lilia genossen dieses Gefühl an jenem Morgen.
Sie waren früh mit Jim aufgebrochen und circa eine Stunde mit dem Auto gefahren. Es war ihre Absicht gewesen, nicht direkt in den träumenden Wäldern bei Jesingen spazieren zu gehen. Hier, in der ungebändigten Natur, weit weg von ihrem Heimatsort, hatten sie keine Angst vor dem Förster. Er würde sie nicht finden, da waren sich die Freunde sicher.
Sie hatten dafür gesorgt, dass keiner von ihrem Ausflug wusste. Nicht einmal Benno und Fria.
Sie hatten sich auch keine Nachrichten darüber geschrieben. Nur mündlich hatten sie mit Jim die Abfahrtszeit besprochen. Sie wollten sicher gehen, dass sie allein waren.
Jim ging eine kleine Runde durch den schneebedeckten Wald, während Jasper und Lilia zusammen losgelaufen waren.
In circa zwei Stunden wollten sie sich dann wieder am Auto treffen.
„Ich habe den Schnee so vermisst", sagte Lilia glücklich und streckte ihre Nase gen Himmel. Jasper und sie waren schon ein bisschen gelaufen und auch wenn sie am Anfang etwas paranoid gewesen war, und hinter jedem Baum den Förster vermutet hatte, entspannte sie sich jetzt.
Die kleinen Schneeflöckchen tanzten vor ihrer Nase und setzten sich auf ihre Wimpern.
„Schnee ist das Einzige, was den Winter irgendwie erträglich macht", stimmte Jasper ihr zu und seufzte. „Ich habe die letzten Tage kaum ausgehalten. Es war dunkel und kalt."
„Ja. Und in Weihnachtsstimmung ist man auch noch nicht so richtig gekommen. Liegt wahrscheinlich aber auch daran, dass ich dieses Jahr noch keine Plätzchen gebacken habe. Durch den Prüfungsstress bin ich nicht dazu gekommen."
Jasper nickte zustimmend, sprach aber nicht weiter. Er wollte jetzt nicht schon wieder über die Schule reden. Dafür hatte er sich in den letzten Wochen zu viel von ihr stressen lassen.
Stattdessen hob er mit seinen dick behandschuhten Fingern ein wenig Schnee vom Boden auf, formte ihn mit seinen Händen zu einem Ball, und schmiss ihn gegen die, noch immer nach oben sehende, Lilia.
Empört wandte sie sich ihm zu. „Hey!" Der Schnee hatte ihr Kinn getroffen und lief nun schmelzend in ihren dicken Schneeanzug hinein. „Ah, kalt!" Sie schüttelte sich.
Jasper lachte, doch als er sah, dass Lilia nun ebenfalls zu einem Schneeball griff, lief er schnell davon und brachte sich hinter einem Baum in Deckung.
Er hörte Lilias sich nähernde Schritte, da sie wegen des schneebedeckten Waldbodens knirschten. So hatte er genug Zeit, um sich vor dem heranfliegenden Schneeball zu ducken.
„Haha, verfehlt!", verkündete er stolz.
„Denkst du", antwortete Lilia fröhlich und verschränkte die Hände vor der Brust. Wenige Sekunden später wurde Jasper von einer herunterfallenden Schneemasse getroffen. Lilia hatte gar nicht auf ihn, sondern auf dem Ast über ihm gezielt. Die Tanne hatte zwar nicht das gesamte Gewicht ihres Astes auf Jasper fallen lassen, aber so viel, dass er jetzt ebenfalls ein: „Ah, kalt!", ausstoßen musste.
Wieder griff er nach unten, um sich einen Schneeball zu greifen. „Na warte! Das bedeutet Krieg!"
Kreischend lief Lilia vor ihm weg, konnte der heranschnellenden Kugel aber nicht ausweichen.
Lachend verbrachten sie die nächste halbe Stunde damit, sich gegenseitig abzuwerfen. Bis Lilia schlussendlich nicht mehr konnte und die Kapitulation ankündigte. Zufrieden ließ sich Jasper neben ihr in den Schnee sinken. Er selbst war auch kurz vor dem Aufgeben gewesen, aber das brauchte er jetzt ja nicht mehr zuzugeben. Er hatte gewonnen!
„Das hat Spaß gemacht", verkündete Lilia schwer atmend. Doch man sah auf dem Lächeln in ihrem Gesicht, wie glücklich sie war. Keine zwei Minuten verbrachte sie damit, still zu sitzen. Wenn sie schon einen Tag im Schnee waren, mussten sie diesen auch vollends ausnutzen.
Schon stand sie auf und rief: „Lass uns einen Schneemann bauen!"
Jasper fand die Idee super. Hier lag wenigstens genug Schnee, um nicht nach der ersten Kugel aufhören zu müssen. Die Schneeschicht, welche in Jesingen den Boden bedeckte, war nichts dagegen. Sobald morgens die ersten Sonnenstrahlen auf die Erde trafen, verwandelte sie sich in eine matschige Masse.
Also begann Jasper, die unterste Kugel zu rollen, während sich Lilia um den Kopf kümmerte. Sie suchte ein paar Steine und Äste für Arme und Knöpfe und opferte ihre Mütze, um sie dem Schneemann auf den Kopf zu setzten. Gerne hätten sie ein Foto von ihrem Meisterwerk gemacht, doch ihre Handys hatten sie zu Hause lassen müssen.
Jim war damit sicher gegangen, dass selbst wenn der Förster die Telefone irgendwie trackte, er nicht wusste, wo die beiden waren.
Eine Möglichkeit, in diesem Wald Hilfe zu rufen, hatten sie trotzdem, da Jim ihnen ein Walkie-Talkie der Polizei mitgegeben hatte. Damit konnten sie ihm Bescheid sagen, sollte irgendetwas passieren.
Natürlich durften sie sich deshalb nicht super weit vom Auto entfernen. Aber das war den beiden egal. Den Schneemann zu bauen hatte sowieso mehr Spaß gemacht, als sich stundenlang durch den Wald zu kämpfen.
Denn auch wenn die beiden es nicht zugeben wollten, die kalte, frische Luft und der schwer begehbare Boden waren auf die Dauer anstrengend.
Lilia und Jasper hatten nun noch etwas fünfzehn Minuten, bis sie sich mit Jim am Auto treffen wollten, doch die Energie, um irgendetwas zu tun, war nicht mehr da. Also saßen sie neben ihrem Schneemann und unterhielten sich.
Da sie genug Filme und Serien zu bereden hatten, wurde das Thema zum Glück nicht auf die Schule gebracht. Jasper hätte gerne Malea für heute auch rausgehalten, doch es gab noch etwas, über das er schon lange mit Lilia reden wollte und irgendwie fand er, dass heute der richtige Tag dafür war.
Die Kulisse war wunderschön und endlich waren die beiden ungestört vor jeglicher Ablenkung oder Überwachung.
Mit allen Freunden gleichzeitig darüber zu reden, wäre Jasper zu viel gewesen. Dafür war er nicht bereit, doch wenn seine Vorahnung stimmte, war Lilia die richtige Wahl, um sein Anliegen zu besprechen.
Außerdem konnten sie sich in diesem Wald sicher sein, dass der Förster nicht mithörte.
Jasper fand den Zeitpunkt perfekt. Doch wie konnte er das Gespräch auf dieses Thema lenken? Er konnte ja nicht einfach mit der Tür ins Haus fallen.
Außerdem wusste er noch immer nicht genau, ob seine Entscheidung stand. Er würde einen großen Fehler begehen, wenn er mit so einer Offenlegung vorschnell handelte und sie am Ende zurücknahm. Denn das würde leider nicht nur seine Glaubwürdigkeit anzweifeln, sondern die der ganzen Community. Und das wollte Jasper den anderen Menschen nicht antun.
Was war, wenn er doch noch irgendwann Gefühle für jemanden entwickelte? Wenn er sich in einen Menschen verliebte?
Aber war das nicht sogar auch in Ordnung? Jedes Label war ein Spektrum und man konnte tausende Menschen nicht mit ein paar einfachen Worten definieren.
Denn auch wenn Jasper es sich nicht eingestehen wollte, fühlte es, dass dies der richtige Weg war. Seit er das erste Mal die Definition davon gelesen hatte, hatte es in seinem Hirn irgendwie klick gemacht.
Davon ... Oh Mann, er konnte es ja nicht einmal denken, wie sollte er es denn dann gleich aussprechen?
Vielleicht war es doch falsch. Vielleicht sollte er einfach einen Rückzieher machen und nochmal darüber schlafen. Vielleicht wäre dann wieder alles in Ordnung.
Doch was hieß hier wieder? Und in Ordnung? War er jemals die Person gewesen, die er vorgab zu sein? Klar hatte es mal Momente gegeben, in denen er dachte, sich verguckt oder etwas Anziehendes an einer Person gefunden zu haben, doch im Nachhinein hatte es sich immer als etwas Anderes herausgestellt. Kein wirkliches Herzklopfen, nur ein paar flüchtige Gedanken.
Jasper zählte in seinem Kopf bis drei, um sein Gedankenkarussell zu stoppen. Es hatte keinen Sinn mehr, jetzt darüber zu philosophieren. Er sollte sich nicht mehr darauf konzentrieren, ob er das Richtige tat. Er sollte lieber ...
„Jasper, alles gut bei dir?" Lilia sah ihn besorgt an. Sie hatte nun wohl schon für längere Zeit über die coole Fantasy-Welt geredet, in der ihre neue Lieblingsserie spielte. Doch Jasper hatte ihr irgendwann nicht mehr geantwortet.
„Ja, ich ... Kann ich mit dir über etwas reden, Lilia?"
„Klar." Irritiert sah seine Freundin ihn an. Ihre braunen Augen verschränkten sich mit seinen blauen und suchten darin nach der Antwort für Jaspers so abrupten Themenwechsel.
„Mir geht jetzt schon seit längerer Zeit etwas durch den Kopf. Ich bin mir immer noch nicht sicher, aber ich glaube es ist gut, mal mit dir darüber zu reden."
„Ok?" Langsam verstand Lilia, worauf das hier hinauslaufen würde, aber noch nicht, in welche Richtung es ging. Sie selbst hatte sich so einen Moment auch schon hunderte Male vorgestellt.
„Als Benno mir erzählt hat, wie er sich in Suzannes Gegenwart fühlt, fand ich das komisch. Diese Schmetterlinge im Bauch, das Kribbeln in den Fingern. Der Wunsch nach mehr. Ich hatte das alles noch nie. Und je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr fühlt es sich an, als würde ich das auch gar nicht brauchen. Mit jemandem zusammenkommen ... Sex ... Ich würde es machen, weil die Gesellschaft es mir vorschreibt ... und ich würde mir einreden, dass es das Richtige ist ... aber eigentlich brauche ich es nicht ... ich will es nicht." Jasper wurde heiß, während er darüber sprach. Es war wie in einem Rausch und er wusste nicht, wie ihm geschah. Passierte das gerade wirklich oder träumte er nur? Es fühlte sich so gut an, endlich darüber zu sprechen. Es war so richtig!
Trotzdem traute er sich nicht, Lilia anzusehen. Was würde sie sagen? Was würde sie denken? Nur weil er sich gefunden hatte, bedeutete das nicht, dass er von allen akzeptiert wurde. Vielleicht hatte er Lilia doch falsch eingeschätzt und sie würde gleich damit beginnen, ihm sein wahres Ich auszureden.
Was, wenn ...
„Ok." Jasper fragte sich, ob er sich das leise Geräusch nur eingebildet hatte. Mit klopfendem Herzen drehte er sich nun doch zu Lilia um. Diese sah ihn verständnisvoll an.
„Was hast du gesagt?", fragte er, nur um sicher zu gehen.
„Ok." Lilia grinste. „Was soll ich schon groß dazu sagen? Hätte ich was gegen queere Menschen wäre ich bei Bennos Outing schon weggelaufen. Und ...", zum Schluss wurde Lilias Stimme ganz leise. „... mich selbst würde ich dann wohl auch nicht mögen."
Jasper merkte, wie nun Lilia unsicher umher sah. Irgendwie war es traurig, dass man sich immer noch vor seiner eigenen Sexualität verstecken musste. Obwohl die Menschen Gleichheit predigten, war jedem klar, dass man, sobald man es einmal ausgesprochen hatte, von vielen anders behandelt wurde.
Jasper wollte Lilia nicht drängen. Sie hatte schon etwas gesagt, der Rest würde sicher gleich folgen.
Er gönnte ihr den Moment der Stille, streckte seinen Arm aus und legte ihn ihr über ihre Schulter. Durch den dicken Stoff ihrer Winterjacke spürte er ihren Körper nicht, was umso besser war.
Die Berührung war merkwürdig. Für Jasper und für Lilia. Sie waren Jahre befreundet und nie waren sie sich so nahegekommen, wie in diesem Moment. Wobei das nicht nur aufs Körperliche zutraf.
Jasper merkte, wie Lilia leise anfing zu weinen. Das war eigentlich nicht die Reaktion, die er sich erhofft hatte. Hatte er etwas falsch gemacht? Hatte sie sich dazu gezwungen gefühlt, ihm etwas zu sagen, obwohl sie noch nicht bereit dazu gewesen war?
„Lilia?", fragte er sanft, und zog sie fester an sich. „Habe ich etwas falsch gemacht?"
Doch die junge Autorin schüttelte den Kopf. „Ich vermisse Malea so. Ich ..." Sie schniefte und griff nach einem Taschentuch in ihrer Jackentasche. „Du glaubst nicht, wie oft Malea und ich davon geträumt haben, mit euch zu reden. Uns euch anzuvertrauen. Wir waren uns sicher, dass ihr es positiv aufnehmen werdet, aber trotzdem blieb die Angst. Und ..."
„Was hat Malea denn damit zu tun?", fragte Jasper vorsichtig. Irgendwie kam er bei Lilias Erzählung nicht mit.
Wieder schluchzte diese. „Ich ... Wir ... Wir waren zusammen, ok? Malea ist lesbisch, ich bin bisexuell und wir waren ein Paar." Lilias Stimme war lauter als beabsichtig und sie brauchte kurz, um sich zu sammeln. Dann lächelte sie schwach, was Jasper zwar nicht sehen konnte, weil sie in seinen Armen lag, doch er spürte, wie sie sich entspannte. „Tut mir leid, dass klang jetzt fast so, als sei ich sauer. Es musste nur endlich mal raus. Ich ... Die letzten Monate waren echt schlimm. Ich hatte ja nicht nur meine Freundin verloren, sondern mit ihr den einzigen Menschen, bei dem ich wirklich ich selbst sein konnte."
Obwohl Jasper sonst immer eine Art Genugtuung verspürte, wenn sich herausstellte, dass er Recht gehabt hatte, blieb diese nun aus. Gerade fühlte er sich nur erleichtert, traurig und vollkommen machtlos zugleich.
Er war glücklich darüber, dass es nun endlich keine Geheimnisse mehr zwischen Lilia und ihm gab, was ihre Freundschaft sicher stärken würde. Gleichzeitig fühlte er sich so überfordert, was er der weinenden Lilia in seinen Armen antworten sollte.
Er konnte ja nichts an ihrer Lage ändern. Er konnte Malea weder ersetzten, noch zurückbringen.
Sachte strich er Lilia über die Haare und versuchte es mit einem: „Verstehe. Ich bin froh, dass du mit mir darüber geredet hast." Zu mehr konnte er sich nicht verleiten, da ihm selbst Tränen in den Augen standen.
Zwar konnte er jetzt ein offenes Ohr für Lilias Probleme haben, doch er würde nie Malea ersetzten können. Diese Lücke in ihrem Herzen würde nie wieder gefüllt werden.
Wieder antwortete Lilia mit einem Schluchzen. Ihre Augen waren mittlerweile feuerrot geweint. „Malea war alles für mich. Sie war mein Zuhause, mein sicherer Hafen und das Abenteuer zugleich. Ich will sie doch einfach nur zurückhaben."
„Ich weiß", antwortete Jasper verzweifelt. Er wusste wirklich nicht, wie er Lilia helfen konnte. Bei ihren Worten lief die erste Träne seine Wange hinab. Malea war immer für ihn dagewesen und sie hatte immer die richtigen Worte gefunden. Sie hätte gewusst, wie man Lilia trösten konnte und Jasper gleich mit.
Zu allem Übel war die Zeit gleich abgelaufen und sie musste zurück zum Auto gehen. Und wenn Jim sie so sah, würden sie ihm von ihrem Gespräch erzählen müssen.
Jasper fuhr noch immer durch Lilias lange Haare, als ihm dies dämmerte. „Lilia, schau mal. Ich weiß ehrlich nicht, wie ich dir helfen kann. Irgendwie hat jeder Satz, den ich mir überlege, einen Haken. Ich freue mich, dass du mich akzeptierst und du dich mir anvertraut hast. Jetzt können wir gemeinsam nach vorne sehen. Aber wir müssen als Erstes zurück zum Auto. Du beruhigst dich jetzt ein wenig und dann fahren wir zu dir nach Hause. Ich bleibe gerne noch ein bisschen. Aber wenn wir zu spät zurück zum Auto kommen, wird sich mein Vater Sorgen machen."
Lilia nickte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Kurz blieb sie noch auf ihm liegen, um sich von ihrem Heulkrampf zu erholen. Dann richtete sie sich auf. „Danke Jasper. Auch wenn es gerade nicht so scheint, tat das gut. Das war ein schöner Ausflug."
Ihre Wangen waren noch immer ganz rot und sie zitterte. Jasper nahm Lilias Mütze von ihrem gebauten Schneemann, steckte sie in seine Jackentasche und gab ihr stattdessen seine. Es hätte keinen Sinn, ihr ihre eigene wieder aufzusetzen, denn diese war jetzt klatschnass.
Lilia harkte sich bei Jasper unter, als sie gemeinsam Richtung Auto liefen. Es würde wahrscheinlich bei diesem Mal bleiben, dass sie beiden diesen Körperkontakt zuließen, doch das war egal. Denn was sie sich gerade inmitten der verschneiten Wälder erzählt hatten, ihre Ehrlichkeit, war tausend Mal mehr wert als sämtliche Umarmungen der Welt.
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