Szene ⑤


Nachdem Lilia ihre Freunde am Abend verabschiedet hatte, war sie nun auf dem Weg zu Dorothea Verhaag. Ihre Eltern hatten der Frau ein kleines Weihnachtsgeschenk vorbereitet.

Lilia sah die Plätzchen und den Tee in der weihnachtlichen Geschenktüte wehmütig an, als sie an der Haustür der Verhaags klingelte.

Gerne säße sie jetzt auch bei einer Tasse Tee und leckeren Plätzchen in ihrer Nische und würde in einem guten Buch stöbern. Stattdessen musste sie sich wieder mit den Geistern ihrer Vergangenheit beschäftigen.

Lilia mochte Dorothea, aber mit der Trauer, die sie beide umgab, konnte sie noch nicht umgehen. Wann immer die beiden aufeinander trafen, befand sich in ihren Köpfen nur ein Name: Malea.

Doch lieber schwiegen sie, als sich mit diesem schwierigen Thema auseinanderzusetzten. So waren ihre Aufeinandertreffen wortkarg und ungemütlich.

Lilia sah noch immer auf die Packung Tee, als die Tür aufflog und Dorothea hinaustrat.

„Hallo Lilia. So spät habe ich gar nicht mehr mit dir gerechnet."

Für Lilias Verhältnisse war es wirklich spät. Normalerweise hätte sie nicht mehr ohne Begleitung nach draußen gehen dürfen, doch da Dorotheas Haus keine zehn Meter entfernt lag, hatten ihre Eltern eine Ausnahme gemacht.

„Frohe Weihnachten", sagte Lilia unbeholfen und hielt der Frau ihr Geschenk hin. „Von mir und meiner Familie."

„Oh wie nett." Dorothea lächelte und begutachtete den Inhalt der Tüte. „Komm doch rein. Soll ich uns den neuen Tee gleich machen?" 

Gerne hätte Lilia abgelehnt. Sie wollte jetzt nicht an Malea denken, was sie in diesem Haus zwangsläufig tun würde. Doch bei Dorotheas weichem Blick wurde sie schwach. Die arme Frau wohnte jetzt seit Monaten allein. Ein bisschen Gesellschaft würde ihr guttun.

Also betrat Lilia das Haus und ließ sich einen Tee einschenken. Angenehmerweise fiel das Thema nicht auf Malea. Dorothea wollte wissen, wie es so bei Lilia in der Schule lief und dann berichtete sie, was momentan bei ihr auf der Arbeit los war. Die Stadtverwaltung schien ein anstrengender Beruf zu sein.

Nach etwa einer Stunde war Lilia kurz davor sich zu verabschieden. Sie hatte jetzt lange genug ihre Gefühle unterdrückt. Sie wollte sich mit Socke in ihr Bett kuscheln und schlafen. Doch genau da brachte Dorothea Malea doch zur Sprache. „Ich habe es endlich geschafft, die letzten Kisten aus Maleas Zimmer zu räumen. Es ist jetzt ganz leer. Das tut mir gut." Sie seufzte. „Jetzt kann ich daraus endlich ein Atelier machen. Ich glaube, dass hätte ihr gefallen." Nicht nur Malea hatte für ihr Leben gerne gemalt. Auch Dorothea war eine wahre Künstlerin. Früher hatten Lilia und Malea oft im Keller durch die Kunstwerke gestöbert und sich zu den Bilder Geschichten ausgedacht.

Lilia wusste nicht, was sie auf Dorotheas Erzählung antworten sollte. Irgendwie tat der Gedanke weh, zu wissen: Wenn sie nun nach oben gehen würde, würde sie dort keine bekannten Möbel mehr sehen. Keine gerahmten Fotos. Keine Erinnerungsstücke. Nur eine allumfassende Leere.

„Komm, ich zeige es dir." Dorothea stand auf und bedeutete Lilia, mit ihr zu kommen.

Lilia wollte nicht, ihr Körper sträubte sich gegen die Idee. Doch während sich ihre Hände zu Fäusten ballte, entschied ihr Kopf, doch mitzugehen. Sie konnte jetzt nicht unhöflich sein. Nicht, wenn sich Dorothea so sehr freute.

Also ging sie missmutig die Treppe nach oben, bog einmal nach links und dann einmal nach rechts.

Wie erwartet war es schrecklich, das leere Zimmer zu sehen. Kein einziges Bild von Malea hing mehr an der Wand. Kein Foto der Freunde war noch auf seinem Platz auf der Fensterbank. Die bunten Lichterketten und der Sitzsack waren verschwunden. Ebenso das kleine Bücherregal, in welchem Lilia so oft gestöbert hatte.

Stattdessen befand sich in dem Raum nur eine gähnende Leere. Ein hölzerner Boden und sonst nur weiß. Weiße Gardinen, weiße Wände, weiße Decke.

Der Raum hatte keine Seele mehr. Der Mensch, der die Leere mit Leben gefüllt hatte, war weg. Maleas Seele war verschwunden und die Seele ihres Raumes gleich mit ihr.

Lilia merkte, dass Dorothea auf eine Reaktion von ihr wartete. Auf ein „Wow", oder ein „Das sieht aber gut aus". Doch es kam kein Wort über ihre Lippen. Lilia konnte dazu nichts sagen.

Sprachlos standen die beiden nebeneinander und sahen in den leeren Raum. Keiner wusste, wie das Gespräch nun weitergehen sollte. Lilia konnte nicht sprechen und Dorothea fragte sich, warum sie keine Antwort bekam.

Das Klingeln der Tür sorgte für die nötige Unterbrechung. Dorothea eilte nach unten und Lilia konnte sich erleichtert von Maleas Zimmer abwenden.

Schnell atmend entfernte sie sich ein paar Schritte und setzte sich auf den kleinen Stuhl, der im Flur aufgestellt war.

Dorothea hatte hier früher oft gelesen, wenn die beiden Mädchen in Maleas Zimmer gespielt hatten. Sie waren damals noch sehr klein gewesen. Keine fünf Jahre. Dorothea war so auf dieser Position nahe genug dran gewesen, um alles mitzubekommen und im Notfall eingreifen zu können, aber weit genug weg, um den Kindern ihren Freiraum zu lassen.

Lilia hörte, wir Dorothea unten mit der Person an der Tür sprach. Es klang vertraut, und deshalb würde es womöglich länger dauern.

Sie griff nach dem, auf dem kleinen Tisch liegenden, Buch und fuhr über den Buchrücken. Es war ein romantischer Thriller und Lilia musste, nachdem sie den Klappentext gelesen hatte, zugeben, dass er ganz gut klang. Fast hätte sie zu lesen begonnen, doch dann fiel ihr Blick auf den Zettel, der unter dem Buch gelegen haben musste.

Es war eine Quittung. Erst dachte Lilia, es wäre die Rechnung des Buches, doch als sie den Zettel genauer betrachtete, erschrak sie.

Damit hatte sie nicht gerechnet.

Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte.

Kurz war Lilia zu verblüfft, um etwas zu tun. Doch dann steckte sie die Rechnung in ihre Hosentasche, sprang vom Stuhl und lief nach unten. Sie verabschiedete sich knapp von Dorothea und dem Mann, der in der Tür stand. Es handelte sich bei ihm um den Bürgermeister.

Für ihren schnellen Aufbruch entschuldigte sich Lilia nicht. Dafür hatte sie eine viel zu wichtige Information bei sich.

Ohne die Zustimmung ihrer Eltern machte sie sich auf den Weg zur Polizeistation. In ihrer Hosentasche noch immer der Beweis ...

Der Beweis dafür, dass Dorothea diejenige gewesen war, die die beiden Kleider gekauft hatte, in denen die toten Mädchen gefunden wurden.

Lilia war sich ganz sicher. Vorhin noch hatte Benno den Namen des Ladens erwähnt. Auch der Zeitpunkt, zu welchem Dorothea die Kleider gekauft hatte, passte. Er befand sich kurz vor Maleas Todestag.

Die Quittung konnte auch kein gekonnt platzierter Hinweis des Försters gewesen sein, wie es Lilia zuerst angenommen hatte, weil darauf Dorotheas Name stand. Es bestand kein Zweifel daran, dass sie die Person gewesen war, die in den Nachbarort gefahren war, um die Kleider zu bestellen und zu bezahlen.

Noch wusste Lilia nicht, warum. Wahrscheinlich war Dorothea auch vom Förster erpresst worden. Dann hätte sich das auch sicher schnell geklärt. Wie Yasmin hatte sie es sicher darauf angelegt, dass Lilia den Hinweis fand, damit sie sich so aus den Fängen des Försters befreien konnte.

Eigentlich hätte Lilia Dorothea gerne direkt darauf angesprochen, doch dann hätte ihr diese womöglich ausgeredet, zur Polizei zu gehen. Wahrscheinlich war das alles auch ein großes Missverständnis, was Frau Verhaag nicht an die Öffentlichkeit kommen lassen wollte.

Doch es war Lilias Pflicht, den Zettel bei der Polizei abzugeben. Denn es bestand doch noch die leise Chance, dass Dorothea in alles verwickelt war.

Mehr sogar.

Das sie die Försterin war.

Dann hätte Suzanne damals mit ihrer Theorie recht gehabt. Dorothea hätte ihre Trauer nur gespielt und es eigentlich darauf angelegt, dass ihre Familie starb. Sie hätte die Fäden hinter all den Lügen und den Geheimnissen gezogen. Sie hätte mit den Gefühlen der Freunde gespielt und allen etwas vorgemacht.

Lilia ballte die Hände zu Fäusten, als ihre Gedanken zum Höhepunkt kamen. Denn es gab eine Sache, die bei dieser Theorie noch schlimmer wäre als alles andere. Dorothea wäre dafür verantwortlich, dass Malea nicht mehr da war. Sie hätte Lilia Malea genommen. 



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Und damit endet Episode Sieben. Was sagt ihr? Hat Dorothea wirklich etwas mit dem Fall zu tun? Oder ist das doch nur ein Trick des wahren Försters? 

Freut euch schon mal auf Samstag, denn wenn es gut läuft, kann ich euch nicht einen neuen Part ... nicht zwei neue Parts ..., sondern gleich eine ganze neue Episode präsentieren! 

Ich war die letzten Tage sehr fleißig. :) 

Liebe Grüße 

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