Szene ①
Auf dem Rückweg sprachen die Freunde kaum ein Wort. Jim Wittig lief mit einem großen Fragezeichen im Gesicht hinter ihnen durch den sich langsam lichtenden Wald. War etwas zwischen den Freunden vorgefallen, oder warum sprachen sie nicht?
Die meisten Blätter waren bereits von den Bäumen gefallen und viele Vögel waren in den Süden gezogen. Auch Käfer und Insekten versteckten sich lieber in ihren Unterschlupfen, als auf dem Waldboden herumzukriechen.
„Ihr seid heute alle so ruhig", durchbrach Jim die Stille. „Ist alles in Ordnung?"
„Jaja, alles prima." Jasper fragte sich, ob sein Vater vorhin etwas von ihrem Gespräch mitbekommen hatte. Er wusste nicht, wie schalldurchlässig die Wände des Baumhauses waren.
„Seid ihr fertig geworden, oder müssen wir nächste Woche nochmal herkommen?"
„Wir sind fertig. Und hoffentlich werden wir das Baumhaus nächstes Jahr, wieder allein besuchen dürfen", spitzelte Benno.
„Das hoffe ich auch für euch. Eigentlich habe ich besseres zu tun, als den Babysitter zu spielen."
„Du hättest ja nicht mitkommen müssen." Jaspers Tonfall war provozierend, doch sein Vater ging nicht weiter darauf ein. Er wollte sich nicht schon wieder mit seinem Sohn über ihre besonderen Umstände streiten.
Stattdessen versuchte er Jaspers besten Freund zu einem Themenwechsel zu animieren. „Wie steht es mit dem Klavierspielen? Kann ich bald mal wieder zu einem deiner Aufritte kommen?"
Dankend stieg Benno in das Gespräch ein und berichtete von neuen Stücken, die in der letzten Zeit gelernt, und von neuen Werken, die er komponiert hatte.
Jasper schaltete ab und versank in seiner Jacke. Es war wirklich arschkalt hier.
Er atmete tief durch und stieß durch seinen Mund kleine Rauchschwaden aus. Sogar sein Atem beschlug!
Frias aufgeregte Stimme zerschnitt plötzlich das Gespräch zwischen Benno und Jim. Von der einen auf die andere Sekunde herrschte eine bedrückende Stille. Fria hörte sich ängstlich an, wie ein kleiner Hase, als sie aufschrie und dann „Leute?", rief.
„Was ist los?", fragte Benno sofort alarmiert und sah in Frias Richtung. Um die Freunde herum wurde der Wald gerade in die einsetzende Dämmerung getaucht. Doch auf ihrem Nachhauseweg würde es nicht mehr lange dauern, und sie wären wieder in Jesingen. So gesehen war die einsetzende Dämmerung nichts Schlimmes. Doch wenn sie nun von ihrem geraden Weg abgebracht werden würden, würde die Dunkelheit sie womöglich noch einholen.
Benno erkannte, dass Fria mit zittrigen Händen auf eine Stelle unweit von ihnen entfernt deutete. Noch konnte man die Veränderung in der einsetzenden Dunkelheit dort ausmachen. Statt dem sonst von Blättern und Zweigen übersäten Waldboden konnte man dort eine Ladung Heu auf dem Boden liegen sehen. Den Abdruck eines großen Tieres konnte man beim näheren Betrachten auch ausmachen.
War das bei ihrem Hinweg auch schon da gewesen? Hatten sie es übersehen? Immerhin lag die Stelle verstreckt hinter ein paar Bäumen, sodass man sie nur aus ihrer jetzigen Richtung richtig sehen konnte.
„Denkt ihr, was ich denke?", fragte Jasper, während er seinen Vater dabei beobachtete, wie dieser ein paar Fotos von der entdeckten Stelle schoss.
„Hier hat ein Pferd gelegen", schlussfolgerte Fria.
„Nicht ein Pferd. Das Pferd von Kristina. Sie und ihr Tier müssen sich hier vor uns und dem Förster versteckt haben."
„Vielleicht wird sie heute Nacht zurückkommen und wir können sie hier überraschen", schlug Benno vor. Im Gegensatz zu Fria schien ihn die Entdeckung gar nicht zu verängstigen. Stattdessen freute er sich darüber. Denn vielleicht könnte ihnen Kristina jetzt endlich Antworten schenken. Und dass sie hier gewesen war, bedeutete auch, dass sie noch am Leben war. Was fürs Erste sehr erleichternd war.
„Ihr könnt vergessen, dass ihr hier im Dunkeln auf dieses Mädchen wartet", schaltete sich Jim Wittig ein und vermasselte damit allen die neue Hoffnung.
„Bitte Papa", beschwerte sich Jasper. „Das ist wichtig."
„Wichtig schon, aber eine Sache für die Polizei. Ich werde jetzt meine Kollegen kontaktieren und dann werden sie sich darum kümmern, während ich euch nach Hause bringe. Eure Eltern machen sich sicher schon Sorgen. Dieser Stopp war nicht eingeplant."
Fria fröstelte. Sie trug bereits eine Winterjacke, trotzdem fühlte sich der kuschelige Stoff sich nicht wie Wärme und Geborgenheit an. Irgendetwas war falsch, dass spürte sie. „Gut, dann gehen wir nach Hause." Ehrlich gesagt wollte sie schon jetzt nicht mehr länger im Wald bleiben. Warum konnte Jim die Polizei nicht im Laufen verständigen?
Da Benno spürte, dass es Fria mit der Entscheidung nicht gut ging, und er auch daran dachte, was sie soeben im Baumhaus besprochen hatten, zog er seine Freundin mit sich. „Lasst uns weitergehen. Jim, du kannst auch auf dem Weg sprechen." Wenn er ehrlich war, wollte auch er nicht mehr länger hierbleiben. Vielleicht würde Kristina auftauchen, aber wer konnte garantieren, dass sie nicht den Förster verständigt hatte, oder eine Waffe bei sich trug? Dieses Risiko sollten sie nicht eingehen.
„Also gut, ich rufe sie von unterwegs an. Hoffentlich können sie schnell hier sein. Kristina zu finden, wäre sehr wichtig und hilfreich."
„Die schaffen das schon", versprach Benno und legte noch einen Zahn zu.
Jim wählte die Nummer seiner Kollegen und erklärte ihnen die Sachlage. Währenddessen bemerkte Benno, dass sich auch Jasper an seinem Handy zu schaffen machte. „Was tust du?", flüsterte er mit dem Gedanken, niemanden zu stören. Fria lief ein paar Meter hinter ihnen und schien vollständig fixiert auf sich selbst. An was dachte sie?
Jasper hielt sich nun sein Handy ans Ohr. Er schien mit jemandem zu telefonieren. „Ich rufe Lilia an und erkläre ihr alles."
„Gute Idee."
Endlich kam die kleine Gruppe am Waldrand an und Fria konnte wieder aufatmen. Die einsetzende Dunkelheit war lange nicht so beängstigend, wenn man im Laternenschein Jesingens lief. Statt langen Schatten sorgten die mottenanziehenden Leuchtkörper für ein romantisches Ambiente.
Was ein komischer Gedankengang, dachte sich Benno belustigt.
„Oh nein", kam es plötzlich von Jim Wittig. Er war noch immer am Telefonieren und schien plötzlich sehr aufgeregt. „Wirklich? Das kann doch nicht ..."
„Was ist los?", fragte Jasper alarmiert. Auch er hielt sich ein Telefon mit der Verbindung zu Lilia ans Ohr.
Doch statt ihm zu antworten, schwieg sein Vater eine lange Zeit. Erst, nachdem er ein weiteres Mal gefragt hatte: „Was? Wirklich?", legte er auf und sah zu den Freunden. „Also gut ... Es gibt eine kleine Planänderung. Ihr geht allein nach Hause, ich muss nochmal los zur Wache."
„Warum?" Jasper fuhr sich durch die blonden Haare, welche im seichten Laternenschein einen besonderen Schimmer annahmen.
„Meine Kollegen haben in dem verlassenen Bürogebäude am Stadtrand ebenfalls Spuren gefunden, die auf Kristina hindeuten. Ich muss mir das ansehen."
„Wir auch", sagte Benno sofort. Das klang wichtig!
„Nein. Ihr nicht." Jim Wittig wurde plötzlich sehr ernst. „Ich breche gleich schon das Versprechen an eure Eltern, in dem ich euch nicht bis zur Haustür bringe. Wenn ihr jetzt auch noch mit zu einem Gebäude kommt, in dem gesuchte Personen hausen, werden sie mich umbringen. Metaphorisch gesagt. Also werde ich allein dort hingehen, und ihr versprecht mir, dass ihr artig nach Hause geht."
„Artig", Jasper schnaubte. „Wir sind keine fünf mehr, dass du uns so etwas sagen musst. Aber verstanden, wir gehen nach Hause."
Lange sah Jim seinen Sohn an und es schien, als suchte er in seinen Augen nach der Täuschung. Jasper war sonst nicht so leicht von Dingen zu überzeugen. Eigentlich konnte man ihn nur von seiner Meinung abbringen, in dem man einen klaren Gegenbeweis lieferte, welchen Jim in diesem Fall nicht bringen konnte. Hier gab es kein eindeutiges Richtig oder Falsch. Zumindest nicht für Jasper.
Als Jims Handy erneut klingelte, wandte sich der Polizist ab und lief los. Er vertraute seinem Sohn. Jasper würde hoffentlich wissen, dass es das Beste war, nach Hause zu gehen.
Einige Minuten vergingen, in denen keiner der Freunde etwas sagte. Erst, als Jim um die nächste Straßenbiegung verschwunden war, räusperte sich Jasper. „Also los. Ihr wisst, wo es lang geht. Lilia, wir treffen dich an der Kreuzung vor der Schule."
Mit diesem Satz legte er auf und marschierte los. Benno und Fria protestierten nicht. Man konnte Jasper jetzt nicht von seiner Idee abbringen.
Und wenigstens würden sie heute nichts Verbotenes tun. Denn wenn sie einfach als Schaulustige vor dem Gebäude stehen bleiben würden, könnte man sie nicht dafür kritisieren. Die Polizei könnte nichts dagegen sagen oder unternehmen.
Außer natürlich Jim Wittig.
Jaspers Vater würde - Zu Recht - sehr sauer sein ...
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