Szene ⑤


An diesem Abend kamen die Freunde endlich dazu, das Baumhaus winterfest zu machen. Wieder war Jim Wittig mit in den Wald gekommen, um einen möglicherweise notwendigen Feuerschutz zu geben.

Keiner der Eltern war begeistert von der Idee gewesen, doch vor allem Lilias Mutter hatte sich gegen den Plan gesträubt. Statt mit ihren Freunden das Baumhaus zu putzen, saß Lilia zuhause vor ihrem PC und musste den anderen über Discord zugucken.

„Das nervt!", beschwerte sie sich nun schon das dritte Mal.

„Es ist besser so." Fria nahm das letzte Getränk aus dem Kühlschrank und legte es in die bereitstehende Tasche. Nun konnte Jasper den Kühlschrank ausschalten, damit er im Winter keinen unnötigen Strom verbrauchte. „Außerdem sind wir ja auch nur kurz hier. Meine Eltern waren auch nicht begeistert."

„Verständlich. Wir sind gerade in einem Wald, in dem auch ein Mörder haust." Jasper zog den Kühlschrank aus der Streckdose und machte sich dann am kleinen Sicherungskasten zu schaffen.

„Musst du das schon wieder erwähnen?", fragte Fria erbost. „Lilia, ich würde gerade sehr gerne mit dir den Platz tauschen." Hilfesuchend sah sie ihre Freundin über den Monitor an. 

Benno war gerade dabei, ein paar alte Laken über den Möbeln zu platzieren. „Wir sind ja gleich wieder in Jesingen", beruhigte er Fria. „Und bis dahin passt Jim auf uns auf."

„Weil das das letzte Mal so gut funktioniert hat." Fria verdrehte die Augen.

„Was hast du denn? Gestorben sind wir letztes Mal nicht." Jasper entfernte sich vom Sicherungskasten und trat auf den Laptop zu. Die Freunde hatten das Gerät, welches die Verbindung mit Lilia aufrechterhielt, auf ihrem kleinen Schreibtisch vor dem Fenster platziert.

Die Verbindung hielt mehr schlecht als recht, da sie den Hotspot von Jaspers Handy für den Laptop benutzten. Immer wieder hängte sich das Bild auf.

„Habt ihr alle meine Notizzettel eingepackt?", fragte Lilia jetzt, während sie Jasper dabei beobachtete, wie er mit einem Lappen den Tisch sauberwischte.

„Jaja, hat Fria schon lange gemacht."

Fria fühlte sich ein klein wenig schlecht, da es nicht nur Lilias Bitte gewesen war, die sie sofort dazu gebracht hatte, die Zettel einzupacken. Fria hatte überprüfen wollen, ob das merkwürdige Gedicht noch da war. Denn nach ihrer Logik hätte Lilia das sicher mitbedacht. Sie hätte gewollt, dass Fria es fand. Und dann hätte sie auch gewollt, dass man sie auf das Gedicht ansprach. 

Doch Fria wurde enttäuscht. Neben einer skizzierten Landkarte, welche Lilia für ihr ausgedachtes Königreich gezeichnet hatte, befanden sich nur noch leere Notizzettel unter dem Tisch. Das Gedicht war weg.

Dass Lilia mal über ihre Gefühle sprechen wollte, wäre auch zu schön gewesen.

„Haben wir dann alles?", fragte Benno und blickte sich noch einmal im kleinen Raum um.

Jasper und Fria nickten ihm zu.

Benno seufzte. Er würde das Baumhaus vermissen. Auch wenn sie es immer im November winterfest machten, fühlte es sich dieses Mal irgendwie anders an. Denn dieses Mal war Malea nicht dabei. Der positive Wirbelwind hatte ihnen sonst immer Weihnachtssongs vorgeträllert und war mit dem Besen in der Hand durch das Zimmer getanzt.

Nun konnten sie statt der gut gelaunten Malea, eine griesgrämig dreinblickende Lilia durch den Computerbildschirm beobachten. Kein guter Tausch.

„Jasper, kannst du gleich mal bei mir vorbeikommen? Wir müssen was besprechen", fragte Lilia abwesend. Ihre Augen waren auf das leuchtende Handydisplay vor ihr gerichtet. Sie fragte sich, wie sie ihrem Freund das eben Erlebte gut beibringen könnte. Paula brauchte Hilfe, doch würde Jasper sie ihr geben können?

„Klar, aber warum?"

„Ist wichtig, aber frag nicht weiter nach."

„Ok?", fragte Benno lachend. „Was sollen die Geheimnisse?"

„Es sind nicht meine Geheimnisse. Ich muss Jasper was von einer anderen Person anvertrauen. Ich hoffe, so viel durfte ich euch sagen." 

Schuldbewusst sah Lilia von ihrem Handy auf. 

„Oh, wer ist es?" Fria schnappte sich den Teppich, um ihn einmal über der Terrasse auszuschütteln. Sicher war wieder ganz viel Staub in ihm.

„Das darf ich nicht sagen."

„Verstehe."

„Tut mir leid." Lilia schenkte ihren Freunden ein entschuldigendes Lächeln. „Aber ihr müsst euch keine Sorgen machen. Es ist nichts Schlimmes", versicherte sie, auch wenn Paula das sicher anders sah.

„Schon ok. Wir vertrauen dir. Solange es dort nicht um den Förster geht."

„Tut es nicht." Lilia merkte zwar, dass das gelogen war, doch sie ließ das Thema fallen. Bevor sie Paulas Geheimnis kannte, hatte sie das Mädchen verdächtigt, irgendwie in die Verschwörung verstrickt zu sein, denn sie hatte sich plötzlich mit Erik und Yasmin unterhalten. Doch nun wusste sie, dass Paula nur verzweifelt gewesen war, und dass, wegen ihren eigenen Problemen. Das Mädchen hatte ganz sicher nichts mit dem Förster zu tun, und das wusste Lilia nun. Doch das durfte sie den Freunden nicht sagen.

Also wechselte sie das Thema. „Hat denn schon jemand von euch neue Verdächtige gefunden? Ich weiß, eine Spur haben wir nicht, aber so viele Einwohner hat Jesingen nicht. Die Chance steht eins zu fünftausend, dass wir mit einem Tipp die richtige Person treffen."

„Wow", antwortete Fria sarkastisch. „Was für eine gute Trefferquote."

„Die ist gar nicht so schlecht", versicherte Jasper. „In einer Großstadt ständen wir bei eins zu einer Million."

„Wir sind aber nicht in einer Großstadt", keifte Fria zurück.

„Ich wollte nur lustig sein."

„Das war nicht lustig. Ihr nehmt das alles immer noch nicht ernst. Der Förster hat Menschen gefangen genommen und sie ermordet. Er hat uns Malea genommen. Und du sagt, unsere Chancen stehen nicht schlecht, wenn es fünftausend Verdächtige gibt? Du stellst es alles als großen Witz dar." Fria fuchtelte wild mit dem Besen herum. Sie war kurz davor, ihren Freund auch damit zu schlagen. Was dachte er sich? Warum schien das alles nur wie ein Spiel für ihn?

„Denkst du, das habe ich vergessen? Malea war mir auch wichtig, auch wenn du es immer so darstellst, als wäre es nicht so gewesen. Nur weil ich versuche, ohne sie weiterzuleben?" Jasper wusste nicht, was er tun sollte. Er wollte Fria nicht provozieren, weil er wusste, wie nahe ihr alles ging. Wenn er jetzt die falschen Dinge sagte, würde seine Freundin an die Decke gehen. Doch so ganz gefallen lassen, wollte er sich die Anschuldigungen auch nicht.

Benno merkte, wie Frias Gefühle mit ihr durchbrannten. Und er merkte, wie es Jasper zum Verzweifeln brachte. Also wünschte er Lilia noch einen schönen Abend, in dem er den Laptop zuklappte, schnappte dann den Besen aus der Hand seiner Freundin und nahm sie stattdessen in den Arm. „Alles ist gut", versicherte er ihr. „Jasper meint es nicht so."

Benno spürte Frias Tränen auf seinem Pulli. „Er macht sich über mich lustig."

„Ja, und das ist gemein. Aber das tut er nur, damit er nicht über seine Gefühle reden muss. Und das weißt du. Du kennst ihn."

Jasper hatte sich auf den Boden gesetzt und den Kopf in den Händen vergraben. Leise hörte er Bennos beruhigende Worte und seinen aufgeregten Herzschlag. Benno und Fria hatten recht. Er lief vor seinen Gefühlen davon und versuchte mit einer analytischen Sicht auf die Dinge zu blicken, so wie es Lilia auch tat.

Doch manchmal setzten Momente ein, in denen die Gefühle aus einem herausbrachen und man sich nicht mehr halten konnte. Das hier war so ein Moment.

Auch Jasper standen Tränen in den Augen, als er seine Hände wieder von seinem Gesicht löste. „Tut mir leid Fria", hauchte er.

Das Mädchen löste sich von Benno und nahm ebenfalls auf dem Boden Platz. Ihr Blick war nicht deutbar. Zu Vieles schien gleichzeitig in ihrem Kopf zu passieren. Jasper Gefühlsausbruch schien sie zu verwirren und sie versuchte, nicht vollständig in Tränen auszubrechen. „Mir tut es auch leid."

„Können wir mal kurz Klartext miteinander reden?", fragte Benno langsam. Er setzte sich neben Jasper und Fria auf den Boden und suchte nach den richtigen Worten. „Nach Maleas Tod haben wir uns zwei Wochen genommen, um damit klarzukommen, dass sie nicht mehr da ist. Zwei Wochen. Und danach sollte wieder alles beim Alten sein. Es ist ja ok, wenn wir dieses Bild in der Schule aufrechterhalten wollen, aber wir haben es nicht nur dort versucht. Statt miteinander zu reden, haben wir immer betreten geschwiegen, sobald das Thema auf Malea geschwenkt ist. Das war nicht gesund. Als Fria die Trauerfeier veranstalten wollte, fand ich das super. Denn ich hatte den Austausch mit euch vermisst. Doch dann ist der Abend ins Wasser gefallen und ich stand wieder allein da. Statt mit euch, habe ich mit Suzanne geredet. Das hat gutgetan, aber es war nicht das gleiche. Suzanne kannte Malea nicht."

„Was willst du uns damit sagen?", fragte Fria und fuhr mit dem Pullover-Ärmel über ihr tränennasses Gesicht.

„Das ich jemanden hatte, mit dem ich über alles reden konnte. Und auch wenn es nicht perfekt war, hat es mir geholfen. Aber so wie ich euch, und auch Lilia, kenne, habt ihr mit niemanden darüber geredet. Fria, bei dir kann man es sehen. Dir geht es nicht gut. Und das wollte ich auch schon seit längerem mal ansprechen. Du bist impulsiver, du zitterst beim kleinsten Anzeichen von Gefahr und du isst viel zu wenig."

„Das ...", versuchte Fria zu widersprechen. 

„Stimmt." Jasper nickte.

„Jasper du zeigst es vielleicht nicht, doch auch ihr du bist verletzt. Das Gleiche gilt für Lilia. Seit Malea nicht mehr da ist, sind eure Witze noch makabrer geworden und eure Stimmung noch schlechter."

„Aber ..."

„Auch das stimmt", kommentierte jetzt Fria.

„Wir wollen es nicht zugeben, aber wir brauchen alle Hilfe. Und deshalb schlage ich vor, wir geben sie uns." Selbstzufrieden schlich sich ein kleines Lächeln auf Bennos Lippen. Das hatte er schon länger vorschlagen wollen. „Einmal die Woche gibt es eine Seelensorge-Sitzung per Discord und jeder erzählt von seinen Problemen. Wehe jemand sagt jetzt, das wäre eine doofe Idee. Es ist eine wundervolle."

Kurz war es still und man hörte nur den Wind draußen im Wald an den Baumwipfeln vorbeiziehen. Dann ertönten Schritte und die Stimme von Jim Wittig. „Leute, seid ihr fertig? Es wird langsam Zeit, sonst werden eure Eltern sauer auf mich."

Die Freunde lächelten, beim verzweifelten Unterton, der in der Stimme von Jaspers Vater mitschwang. Er schien nicht zu wollen, dass gleich alle beim ihm auf dem Handy sturmklingelten.

„Wir kommen", antwortete ihm Jasper schnell. Dann nickte er Benno zu. „Ich werde bei deinen Sitzungen teilnehmen, aber versprich mir, dass du Lilia mit ins Boot holst. Sie braucht das auch."

„Natürlich", versprach Benno. „Aber das sollte kein Problem sein."
„Klar. Kommen wird sie bestimmt, aber sie muss auch was sagen." Fria wischte sich die letzten Tränen ab und stand dann auf. „Danke für das Gespräch. Das hat irgendwie gutgetan."

„Siehst du? Und das erwartet dich jetzt jede Woche."

Fast hätte Jasper aufgeseufzt, doch dann erinnerte er sich daran, warum er das tat. Er war nicht nur für Fria gut, sondern auch für ihn. Vielleicht würde er sich wirklich dazu durchringen können, ein paar seiner Probleme anzusprechen. Denn davon hatte er genug. 


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Hey! 

Heute gab es mal ein weniger spannendes, dafür umso emotionaleres Kapitel zu lesen. Ich hoffe, euch hat das Kapitel gefallen. Ich selbst tue mich oft schwer, die Gefühle der Charaktere zu beschreiben ( was hier auch schon ein paar Mal angemerkt wurde ;) ), deshalb interessiert mich euer Feedback heute umso mehr. 

Wir sehen uns nächste Woche. 

Liebe Grüße! 

PS: Freut euch auf die nächste Episode! Da wird es wieder spannend! ;) 

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