Szene ④
Viele Menschen legten sich nachts unter den Sternenhimmel, um auf neue Gedanken zu kommen. Oder sie betrachteten mittags die Wolken. Ein Blick in den Himmel konnte viel Inspiration hervorbringen.
Aber nur die wenigsten legten sich auf ihr Bett, um einfach mal an die Zimmerdecke zu schauen. Dabei war gerade diese kahle, weiße Fläche ein Ort vieler kreativer Ideen.
So lag Lilia an diesem Nachmittag in ihrem Zimmer und blickte an die Decke. Neben ihr lag der aufgeklappte Laptop, auf dem sie bereits ihr aktuelles Manuskript geöffnet hatte.
Heute hatte sie es tatsächlich geschafft, ihre Gedanken von all dem Bösen in der Welt freizubekommen und sich ihrer Geschichte zu widmen.
An Lilias Zimmerdecke kämpfte gerade eine Königin, die sich Minuten vorher als die Schurkin entpuppt hat, gegen die Heldin der Geschichte. Plötzlich muss diese mit ihrem eigentlichen Feind, dem Endgegner aus Band Eins, zusammenarbeiten.
Lilia lächelte, als schließlich die Freundin ihrer Protagonistin zur Hilfe eilte. Wäre Malea noch hier, hätte sie das Gleiche für Lilia getan.
Malea wäre die stärkste Kriegerin des Landes gewesen. Und hätte mit ihren wunderschönen, roten Locken dabei auch enorm heldenhaft ausgesehen.
Diese Idee ließ Lilia aufseufzen. Na toll, da waren ihre Gedanken schon wieder bei Malea. Dabei hatte sie doch über ihr Buch nachdenken wollen.
Das aktuelle Manuskript war Lilias Rückzugsort für schlechte Tage, an denen sie Malea über alles vermisste. Denn anders als sie, hatte ihre Protagonistin ihre Freundin noch und sie konnten alles nachholen, was Malea in ihrem viel zu kurzem Leben verpasst hatte.
Lilia hatte diese Form der Trauerbewältigung für sich entdeckt. Wenn sie in ihr Buch über einen Charakter schrieb, der Malea ähnlich war, musste sie mit niemandem darüber reden.
Wenn sie in ihrem Buch über eine Zukunft mit Malea schrieb, tat die Realität nicht mehr so weh. Denn träumen tat Lilia sowieso den ganzen Tag, also warum nicht auch über ein Leben mit ihrer verstorbenen Freundin.
„Liebling?", hörte man ihre Mutter in dieser Sekunde fragen. Kurz darauf klopfte sie an die Tür.
„Ja?" Lilia klappte schnell den Laptop zu und setzte sich auf. Auf keinen Fall sollte ihre Mutter sehen, um was es in ihrem Buch ging.
Frau Hohn kam herein und stellte einen Korb Wäsche vor dem Bett ab. „Sortier das bitte in den Schrank. Ich gehe gleich mit Socke Gassi."
„Alles klar."
Schon war Lilias Mutter wieder weg und die Trauer um Malea wieder da. Gedankenverloren erhob sich Lilia vom Bett und schnappte sich das erste Kleidungsstück aus dem Wäschekorb.
Es handelte sich um die Wendejacke, welche Lilia und Fria vor ein paar Jahren genäht hatten. In einem Second-Hand-Store hatten sie zwei ähnlich geschnittene Jacken gekauft und diese so lange mit der Nähmaschine bearbeitet, bis eine Jacke daraus wurde.
Es war sicher nicht das schönste Stück Nähkunst, aber Lilia verband viele positive Erinnerungen mit der Jacke.
Nun aber dachte sie an ihr Buch zurück. Wie auch die Schurkin und die Königin zu einer Person geworden waren, so hatten sich auch die zwei Jacken verbunden.
Nur weil man eine Seite eines Menschen kannte, hieß das nicht, dass es keine andere gab.
Mittlerweile war sich die Polizei sicher, dass nur ein Einwohner Jesingens der Förster sein konnte. Für Lilia bedeutete das: Irgendeiner ihrer Nachbarn, der Personen, mit der sie am Morgen in der Bäckerschlange stand, oder der sie bei einem Spaziergang über den Weg lief, könnte sie verraten haben. Sie hatte die Person, die Hans Verhaag dazu gezwungen hatte, Malea zu töten, schon einmal gesehen, vielleicht sogar mit ihr gesprochen.
Es war kein Unbekannter, der hoffentlich bald für seine Verbrechen in den Knast kommen würde, sondern jemand, den Lilia kannte.
Ihr lief ein Schauer über den Rücken, als sie zu dieser Erkenntnis kam. Natürlich war es ihr eigentlich schon bewusst gewesen, aber es erzeugte eine andere Art von Angst, wenn man länger darüber nachdachte.
Vielleicht misgenderte sich der Förster absichtlich und er war eigentlich eine Försterin.
Vielleicht versuchte die Person mit ihren Gedankentricks nicht nur die Gefangenen im Bunker dranzukriegen, sondern auch die anderen Einwohner Jesingens.
Vielleicht wurden ihre Gedanken bereits beeinflusst. Vielleicht war der Förster schon dabei, die ganze Stadt zu zerstören. Vielleicht ...
Lilia raufte sich die Haare. Plötzlich tat ihr Kopf weh und sie setzte sich zurück auf ihr Bett.
Stopp! Das musste aufhören! Das war gar nicht möglich! Sie bildete sich das sicher alles nur ein!
Lilia wollte das glauben. Sie wollte nicht mehr an irgendwelche Verschwörungen denken, sonst würde sie noch verrückt werden.
Und obwohl sie sich nach einigen Minuten wieder beruhigt hatte, blieb ein Gedanke klar in Lilias Kopf. Ihr war eine Idee gekommen.
Der Förster wusste nämlich immer sehr gut über die nächsten Schritte der Polizei Bescheid. Er hatte Wissen darüber, wo er in Jesingen zwei Mädchen verstecken konnte, und er hatte genug Geld, eine ganze Irrenanstalt zu entwerfen.
Sicher arbeitete der Förster in einem der städtischen Ämter. Vielleicht war er sogar Polizist. Das würde zumindest erklären, wo er die Betäubungskugeln herhatte.
Vielleicht war es auch die Bürgermeisterin. Sie hatte Lilias Wissens nach keine Verwandten in Jesingen und vielleicht spielte sie, wenn ihr langweilig war, gerne mal mit Menschenleben.
Lilia war gerade dabei, ihre eigene These immer schlüssiger zu finden, da klingelte ihr Telefon.
Benno rief sie an. Das war komisch. Eigentlich hatte ihr Benno vorhin in der Schule erzählt, dass er sich heute mal einen freien Nachmittag nehmen wollte und dafür sein Handy ausmachte. Also warum rief er sie jetzt an?
„Was ist los?", fragte Lilia angespannt. Sie hatte keine Zeit für eine Begrüßung.
Auch Benno schien auf der anderen Seite der Leitung schwer zu atmen. „Lilia ... komm sofort zum Reiterhof. Wir ... Fria und ich ... wir haben herausgefunden, wer das Mädchen mit der Kapuze ist."
Lilias Augen weiteten sich. Oh, oh!
Zuvor hatten sie angenommen, dass es sich bei dieser Person möglicherweise um Celine Rehberg handeln könnte. Denn wer könnte die Freunde besser vor dem Förster warnen als ein Opfer der Experimente selbst?
Doch nun schien sich Lilia nicht mehr ganz so sicher. Benno wirkte viel zu aufgebracht. Seine Entdeckung schien weitaus erschreckender zu sein.
Sofort ließ Lilia die Wäsche fallen, die sie eigentlich hatte in ihren Schrank transportieren wollen, und lief stattdessen die Treppe nach unten. „Bin sofort da. Sag du Jasper Bescheid."
-----------------------------------------
Jetzt wird es spannend! Was denkt ihr? Ist das Mädchen mit der Kapuze wirklich Celine Rehberg, oder jemand ganz anderes?
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top