Szene ③
Etwa eine Stunde später standen die Freunde quasi noch immer an Ort und Stelle. Sie hatten sich nur ein paar Meter in den nächsten Klassenraum bewegt.
Die Polizei war mittlerweile angekommen, und hatte die Wand mit Sicherheitsband abgesperrt. Dann waren Jim Wittig und seine Kollegen im Büro des Schulleiters verschwunden. Seither fehlte jede Spur. Sicher sahen sie sich wieder das Beweismaterial an.
Da Jasper, Fria, Lilia und Benno nicht wussten, was sie sonst tun sollten, saßen sie in einem Klassenraum, unweit der verunstalteten Wand entfernt und berieten sich.
Suzanne war dazugekommen, als sie die Freunde bemerkt hatte, kurz nachdem sie in der Schule angekommen war. Nun saß sie ganz dicht neben Benno und unterhielt sich leise mit ihm.
Fria ging es zum Glück wieder besser. Die Angst war zwar nicht verschwunden, doch das Mädchen konnte schon wieder über einen von Jaspers Witzen lachen.
Er, Lilia und sie saßen in einem Sitzkreis und versuchten, sich von den Geschehnissen abzulenken.
Sie unterhielten sich leise über ein Ereignis, was leider schon viel zu weit in der Vergangenheit lag. Damals waren die Freunde auf einen Ausflug in einen Freizeitpark gegangen. Benno und Malea hatten es sich zur Aufgabe gemacht, jede erdenkliche Farbe von Zuckerwatte zu probieren.
Kurz darauf waren sie Achterbahn gefahren, was im Nachhinein wohl keine gute Idee gewesen war.
Lilia musste beiden die Haare halten, als sie sich danach in einen Mülleimer übergaben.
Fria lächelte bei dieser Erinnerung. Sie wusste schon gar nicht mehr, wie sie beim Erzählen auf dieses Thema gekommen waren, doch lieber dachte sie an die Vergangenheit als an die Gegenwart. Dieser Ausflug, der schon Jahre zurück lag, war eine Erinnerung, in die man sich zurückziehen konnte. Ein sicherer Platz in einer sonst so gefährlichen Welt.
Sue kicherte über den Bericht. „Und, welche Zuckerwatten-Farbe hat am besten geschmeckt?" Neckend stupste sie ihren Freund an.
Benno überlegte. „Pink, glaube ich. Malea mochte grün. Wie immer. Das war ihre Lieblingsfarbe."
„Dabei hat grün nach Waldmeister geschmeckt", kommentierte Jasper angeekelt. „Ich hab mich damals schon gefragt, ob sie nur so getan hat, als würde grün ihr am besten schmecken. Malea mochte selbst auch kein Waldmeister. Ich weiß noch, wie ich ihr einmal aus Versehen einen Tee gemacht habe, der danach geschmeckt hat. Sie hat ihn würgend wieder ausgespuckt. Ich rätsele jetzt schon seit vielen Jahren, aber mir ist immer noch nicht klar geworden, wie man Waldmeister-Zuckerwatte mögen kann."
„Tja, danach fragen können wir sie nicht mehr", antwortete Lilia trocken und zog damit die Stimmung ordentlich nach unten. Die junge Frau konnte wirklich erbarmungslos mit ihren Kommentaren sein, wenn sie für einige Sekunden vergaß, dass sie ja auch Gefühle hatte.
Zum Glück flog, bevor jemand Lilia antworten konnte, die Tür auf und Jaspers Vater spazierte in den Raum. In seiner Dienstkleidung sah er ganz anders aus, als wenn er abends in Jogginghose auf dem Sofa lag.
Doch das schien die Freunde nicht zu verunsichern. Es war immer noch Jaspers Vater, mit dem sie hier sprachen. „Habt ihr was herausgefunden?", fragten sie alle, wie aus einem Mund.
Jim hob einen Stuhl von einem der Tische in der ersten Reihe und setzte sich darauf. Außer den Stühlen der Freunde standen noch alle auf ihren aufgeräumten Plätzen, welche die Klasse für das Putzpersonal aufgestellt hatten.
Schon wieder war Jesingens Gymnasium geschlossen worden, bevor der Schultag überhaupt losgegangen war. Würde irgendwann mal wieder eine Zeit kommen, in der die Schule durchgängig aufhatte?
Jim zog unschlüssig an seinem Ärmel. Es schien, als wollte er nicht mit seinen Informationen herausrücken. Als wäre es ihm unangenehm, was er da eben herausgefunden hatte. „Ich habe eine gute und eine schlechte Neuigkeit für euch", erklärte er langsam.
Jasper verdrehte die Augen. Etwas, was er nicht häufig, aber immer gerne tat. Es war eine Geste, die seine Gedanken gut rüberbrachte. Jeder konnte erkennen, was er gerade dachte.
Papa, du nervst.
„Erzähl einfach", forderte er seinen Vater auf und stand von seinem Stuhl auf. Wenn gleich etwas berichtet wurde, über das man nachdenken musste, wollte er dies lieber im Stehen tun.
„So einfach ist es nicht", antwortete Jim Wittig mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Sein Sohn war mal wieder viel zu schnell genervt. „Ihr werdet nicht erfreut sein."
„Dann fang doch mit der guten Nachricht an", schlug Lilia vor. Gespannt sah sie sich um. Ihre Freunde erhofften sich Wahrheiten, und sahen dementsprechend angespannt aus. Fria kippelte mit ihrem Stuhl, was wohl ihr nervöses Zittern verstecken sollte. Benno und Suzanne tauschten nervöse Blicke und Jasper trampelte wie ein Löwe im Käfig auf und ab.
Lilia hoffte darauf, dass Benno sich um Fria kümmern würde, sollte sie Hilfe brauchen, so wie er es immer tat. Sie selbst saß viel zu weit von ihrer Freundin weg.
Doch mit Sue neben sich, würde ihr Freund wohl nicht seine Hand auf Frias legen. Das würde dann doch falsche Signale senden.
Dabei war es etwas so Natürliches zwischen ihnen. Es waren rein freundschaftliche, wenn nicht sogar geschwisterliche Gefühle. Und Benno war auch einfach ein sehr körperlicher Mensch, der sogar völlig fremde Personen umarmte.
Jaspers Vater räusperte sich. „Also gut, die gute Nachricht kann ich ja verbreiten. Herr Wesp und ich haben uns die Überwachungsvideos der letzten Nacht angesehen und wir konnten eine Person identifizieren." Jim machte eine Pause.
Eine lange Pause.
„Jaaa?", fragte Jasper aus zusammengebissenen Zähnen. Er hielt die Spannung nicht mehr aus. Mit verschränkten Armen lief er hin und her.
„Es gibt ein kleines Problem. Die Person, welche absolut sicher und ohne Zweifel als jemand identifiziert werden konnte ... nun ja ... sie lebt nicht mehr."
Nun schienen die Freunde bereits Schlimmes zu ahnen. Doch Jim ließ keine Zeit mehr verstreichen. Sofort sprach er es aus. „Es war Hans Verhaag."
„Nein!", rief Fria. Schon bildeten sich wieder Tränen in ihren Augen. Doch Benno war sofort da, um sie in eine Umarmung zu ziehen.
Jasper löste seine Arme aus der verschränkten Position und raufte sich stattdessen lieber die Haare. „Das kann nicht sein", sagte er grübelnd. Was in Betracht der Tatsache, dass Hans Verhaag vor ein paar Tagen gestorben war, absolut nachvollziehbar war.
„Setzt dich wieder hin Jasper. Vielleicht kann dich die zweite gute Nachricht besänftigen."
„Noch eine gute Nachricht? Davon hatten Sie gar nichts gesagt."
Sue, die bis eben sehr still auf ihrem Stuhl gesessen hatte, war plötzlich hellauf begeistert. Schnell rückte sie ihre Brille nach oben. „Schießen Sie schon los." Das Gespräch schien sie plötzlich sehr zu interessieren, was vielleicht auch daran lag, dass ihr Freund gerade die Hand eines anderen Mädchens hielt.
Aber vielleicht schätze Lilia das neue Mädchen hier auch einfach falsch ein.
Wenn sie Benno schon gut genug kennengelernt hatte, würde sie wissen, dass diese Geste für ihn rein freundschaftlich war.
Jim sprach weiter: „Ja, wir haben das Rätsel zwar noch nicht gelöst, aber wir haben heute ein wichtiges, weiteres Detail entdeckt. Denn Hans konnte heute nicht unser Wandschändiger gewesen sein, da sind wir uns alle sicher. Doch er war es nicht nur dieses Mal nicht. Sehr wahrscheinlich hat er auch die letzte Botschaft nicht an die Wand gemalt."
„Sondern?", fragte Jasper, der noch immer im Zimmer auf und ab lief.
„Das weiß ich nicht. Doch wir konnten endlich erkennen, dass die Videodatei von jemandem bearbeitet worden ist. Irgendwer hat die Dateien gestohlen und Hans' Kopf über seinen eigenen geschnitten."
„Der Förster?"
„Vielleicht. Der Schulleiter hat uns die Datei mitgegeben und auf der Polizeiwache werden wir sie nun untersuchen. Außerdem werden wir überprüfen, auf welchem Weg man sich Zugang zu den Daten verschaffen kann." Jim erhob sich von seinem Stuhl und stellte ihn wieder ordnungsgemäß nach oben auf den Tisch. „Ich hoffe, euch geht es mit diesem Wissen besser. Mir war es wichtig, dass ihr als erste davon erfahrt. Meine Kollegen wollen jetzt die Schule räumen. Ich bitte euch deshalb jetzt auch zu gehen. Hoffentlich können wir sie bis morgen wieder freigeben."
„Natürlich." Die Freunde erhoben sich und stellten ebenfalls ihre Stühle auf die Tische. Dann bedankten und verabschiedeten sie sich bei Jim Wittig und liefen nach draußen.
„Ich glaube, für heute haben wir genug erlebt", sagte Benno nachdenklich. „Und uns wird sicher ein Berg Aufgaben zuhause erwarten."
Fria seufzte. „Natürlich. Ich freue mich schon sehr."
„Dann bis morgen?", fragte Jasper und drehte sich schon in die Richtung seiner Straße.
„Ja, bis morgen", sagte Lilia und winkte zum Abschied.
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