Szene ④
„Shit!", war Jaspers erster Kommentar, nachdem die Freunde mehrere Sekunden lang sprachlos den Bildschirm betrachtet hatten.
Lilia nickte schuldbewusst. „Ja, shit. Das dachte ich mir auch."
Benno ließ langsam von Fria ab, stand auf und trat neben Lilia ans Fenster. Lange blickte er hinaus und betrachtete den Hasen unter sich, der in der Wiese ein paar Haken schlug. „Was machen wir jetzt?"
„Abwarten und Tee trinken." Lilia hatte es geschafft, nun alle Blütenblätter von der Blume hinter sich abzureißen. Suchend sah sie sich nach einer neuen Beschäftigung um. Das Thema machte sie nervös. Sie brauchte irgendwas, um sich abzulenken.
„Ich glaube nicht, dass wir abwarten sollten", sagte Fria. Lilia wollte gerade erwidern, dass es doch nur ein Witz gewesen war, doch so wie Fria aussah, wollte Lilia sie nicht unterbrechen. Ihre Freundin sprach weiter: „Wir müssen etwas unternehmen! Die Polizei muss das Video sehen!", erklärte Fria, noch immer den Tränen nahe. „Jasper, du übergibst die Kamera sofort deinem Vater."
„Mach ich nachher Fria. Aber er wird sicher nicht erfreut sein." Schon in Gedanken hörte Jasper, wie sein Vater ihn anschreien würde. Immerhin hatten sie eine Spur von einem Tatort geklaut. Doch das sollte ihn nicht davon abhalten, das Richtige zu tun.
„Gut. Das Video ist echt wichtig." Fria wischte sich mit der rechten Hand eine Träne aus dem Augenwinkel. „Hans war echt ein armer Hecht."
Lilia und Jasper sahen sich an und versuchten krampfhaft, ein Lachen zu unterdrücken. Frias Beleidigungen und auch ihr allgemeiner Sprachgebrauch hörten sich manchmal an, als würde sie aus dem letzten Jahrhundert kommen. Besonders, wenn sie wütend oder verzweifelt war passierte es, dass sie vergaß, dass sie erst siebzehn war.
Benno hatte sich mehr unter Kontrolle. Er antwortete seiner Freundin sogar. „Ja, das war er. Aber immerhin hat er Malea nicht aus bösem Willen getötet."
„Macht es das Ganze etwa besser?" Lilias Gesichtsausdruck hatte sich schlagartig geändert. Statt belustigt sah sie nun eher sprachlos aus. Ihre Stirn runzelte sich und man spürte, dass sie sofort auf Benno losgehen würde, sollte er noch einmal so einen Schwachsinn erzählen.
Normalerweise war Lilia nicht so leicht aus dem Konzept zu bringen. Fria und Jasper tauschten einen Blick. Hatte Fria wirklich Recht mit ihrer These? Waren Lilia und Malea zusammen gewesen?
„Alles gut Lilia. Ich meine nicht, dass ich Maleas Tod jetzt weniger schlimm finde. Ich wollte damit nur sagen, dass ich nun den Grund verstehe." Benno merkte, dass er auf einen wunden Punkt getreten war. Schnell versuchte er sich zu retten.
Lilia merkte, dass ihre Gefühle mit ihr durchgegangen waren. Sie holte einmal tief Luft und flüsterte dann: „Tut mir leid. Ich bin nur ... Es ist nur ..."
Benno legte ihr eine Hand auf die Schulter, was Lilia erstarren ließ. „Schon ok. Uns geht es doch genauso."
Fria war sich zwar nicht sicher, ob sie wirklich so fühlten wie Lilia, doch sie wollte das jetzt nicht mit all den anderen besprechen.
Zum Glück brachte Jasper sie zurück zum Thema. „Also, Hans war all die Jahre nur ein Gefangener des Försters gewesen. Und er hat angeblich nichts von Lanis Tod gewusst, bevor Malea gestorben war. Warum und wie hat er dann die Botschaft an die Schulwand geschrieben?"
„Das hatten wir doch eben schon. Wir wissen es nicht. Aber wir können versuchen, es in den nächsten Tagen herauszufinden." Benno hatte die Hand wieder von Lilias Schulter genommen, nachdem er verstanden hatte, wie unangenehm es ihr war. Natürlich kannte er seine Freundin gut genug, um zu wissen, dass sie körperliche Nähe mied. Aber manchmal, wenn es ihr schlecht ging, ließ sie kleine Berührungen doch zu. Jetzt schien aber nicht der richtige Moment dafür zu sein.
„Und wie wollen wir das herausfinden?", fragte Lilia.
„Wir könnten den Schulleiter nochmal nach dem Überwachungsvideo fragen", schlug Fria vor.
„Das guckt sich die Polizei sicher auch an, sobald wir ihr Maleas Kamera gegeben haben. Und die sind mit ihren Geräten und geschulten Augen sicher besser darin, etwas Auffälliges zu erkennen."
„Stimmt auch wieder. Aber was können wir dann tun?" Fria saß noch immer wie ein verschrecktes Häschen auf ihrem Sitzsack. Jasper hätte gerne etwas unternommen, um sie zu beruhigen, doch er wusste auch nicht, wie man ihr helfen konnte.
„Ich will mich ungerne wiederholen, aber wie wäre es mit abwarten?", fragte Lilia. „Ich habe mir den ganzen Tag schon Gedanken dazu gemacht, aber mir ist bis jetzt noch keine zündende Idee gekommen. Erst soll sich die Polizei das Video ansehen und den Bunker ausfindig machen. Vielleicht kommen sie schon selbst darauf, wer der Förster ist. Dann müssten wir nicht schon wieder versuchen, die Welt zu retten."
Benno nickte interessiert. „Wenn es dann auch wirklich so abläuft, wäre es perfekt. Aber vielleicht merkt der Förster auch, dass die Polizei ihm auf die Schliche kommt und er bringt deshalb Martha Kiesbauer und Celine Rehberg um. Die beiden sitzen noch immer in seinem Bunker fest."
„Nicht ganz. Laut dem Video bewegt sich Celine frei in Jesingen und kommt nur abends zurück."
„Dann sollten wir sie doch schon einmal gesehen haben. Vielleicht ..." Jasper wollte gerade eine Vermutung äußern, da ertönte von draußen ein lautes Knacken. Ein paar Vögel schreckten auf und die Dämmerung, die sich langsam im Wald ausbreitete, fühlte sich plötzlich nicht mehr wie eine schläfrig machende Gute-Nacht-Geschichte, sondern wie ein langsam immer dichter werdendes Gefängnis an.
Eine Stimme halte durch die Stille. Man hörte ihr an, dass sie elektronisch verzerrt war.
„Findet den Förster. Sonst werden Lanis, Maleas und Hans Blut zu eurem Blut."
Dann war alles wieder leise.
„Scheiße", hauchte Jasper. „Denkt ihr, dass ist wieder dieses Mädchen, was Benno überrascht hat."
„Es könnte sein." Benno hatte sich auf den Boden gekniet, weil ihm der Ausblick aus dem Fenster plötzlich nicht mehr gefiel. Wenn er in den Wald sehen konnte, konnte man auch aus dem Wald zu ihm sehen. „Auch wenn die Stimme elektronisch verzehrt wurde, die Tonlage war auf jeden Fall gleich." Er atmete keuchend.
„Na super", schluchzte Fria. „Was will dieses Mädchen von uns?"
„Sie tut uns nichts. Sonst hätte sie Benno beim letzten Mal schon getötet." Wie immer blieb Jasper ganz sachlich.
„Wow. Vielen Dank." Benno schenkte ihm ein gekünsteltes Lachen.
„Gerne."
„Das ist nicht lustig", zischte Lilia und öffnete die Bodenluke des Baumhauses.
„Was hast du vor?"
„Ich gehe nach Hause." Die Freunde schenkten Lilia eine Flut an verwirrten Gesichtsausdrücken. „Warum? Bist du bescheuert?"
„Nein", antwortete sie trocken und begann, die Leiter nach unten zu klettern. „Aber wie Jasper richtig meinte, wird uns dieses Mädchen nichts tun. Wahrscheinlich ist das Celine Rehberg, die auf sich aufmerksam machen will. Entweder wir begegnen ihr beim Weg nach Hause, und wir versuchen ihr zu helfen. Oder wir begegnen ihr halt. Es wird bald dunkel. Wir sollten so oder so gehen. Mit der Gewissheit, dass ein gruseliger Förster diesen Wald bewohnt, möchte ich nachts nicht hier sein."
Die Jungs sahen sich erstaunt an, denn Lilias Erklärung klang erstaunlich schlüssig. Fria dachte gar nicht darüber nach. „Ich komme mit", verkündete sie und war schon aufgesprungen.
„Oh Mann." Benno seufzte. „Also, auf in den Horrorwald!"
Jasper lachte trocken. „Du meinst die träumenden Wälder. Mit dem Namen hat der Wald mir irgendwie besser gefallen."
„Mir auch. Ich habe keine Lust, dieser Celine über den Weg zu laufen. Irgendwie stelle ich mir sie wie in diesen Horrorfilmen vor, wo die kleinen Mädchen in der Psychiatrie immer diese weißen Laken tragen und ihre Haare vor dem Gesicht hängen haben."
„Ja, ich auch. Aber du hast sie doch schon mal gesehen", sagte Jasper und begann damit, die Lampen auszuschalten.
Benno hielt ihm den Deckel der Luke auf, damit sie danach gemeinsam durchklettern konnten. „Da trug sie eine schwarze Hose, einen schwarzen Pulli und eine schwarze Kapuze. Darunter könnte gut noch ein weißes Laken sein."
Jasper lachte. „Stimmt. Echt gruselig. Dann wollen wir doch mal sehen, ob wir Miss Weißes-Laken heute noch begegnen."
Benno seufzte und schloss die Luke hinter ihnen. „Nicht lustig, Mann."
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