Szene ②
Stille. Im Baumhaus war es so still, man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Gebannt sahen Fria, Jasper und Benno auf das kleine Kameradisplay, während Lilia ihre Freunde dabei beobachtete.
Unruhig wanderten ihre Finger über den kleinen Tisch hinter sich. Sie strichen über das raue Holz und zupften ein Blütenblatt von der frischen Waldblume, die in der kleinen Blumenvase steckte.
Hans schwieg nun schon für mehrere Sekunden. Gleich würde die Pause vorbei sein und die Schreckgeschichte wieder ihren Lauf nehmen.
Hans holte tief Luft.
„An diesem Tag, an dem Larissa aus dem Bunker entkam, war meine Tür das erste Mal abgeschlossen. Ich hatte keinen Kontakt zu meiner Tochter, Martha oder Celine. Erst nach einer schlaflosen Nacht, ohne Brot oder Wasser, wurde ich entlassen und durfte wieder den Rest des Unterschlupfs betreten.
Auf dem Frühstückstisch erwartete mich die nächste böse Überraschung. Ein Brief des Försters.
Es handelte sich um ein neues Experiment, dieses Mal aber nicht in unserem Bunker, sondern im Freien. Ich wusste nicht, was er mit mir vorhatte. Was dieses Experiment bezwecken sollte. Doch ich stimmte bereitwillig zu. Ich hatte nichts zu verlieren und im Freien zu arbeiten, würde meinem immer gleichen Tagesablauf mal ein wenig Abwechslung verschaffen.
Außerdem war ich sehr interessiert an diesem Experiment.
Mein Auftrag war es, ein Gespräch mit meiner Tochter Malea anzufangen. Dabei würde ich sie endlich wiedersehen!
Ich sollte sie am Nachmittag in einer Shoppingmall treffen und sie zu einem Spaziergang im Wald einladen. Larissa durfte auch dabei sein.
Als ich endlich vor meiner Tochter stand, spürte man, wie unsicher sie war. Sie schien weder mir noch Larissa zu vertrauen. Und wie könnte sie auch. Immerhin hatten wir sie ganze neun Jahre allein gelassen.
Doch nach einem kurzen Wortwechsel willigte sie ein, morgen mit uns in die träumenden Wälder zu kommen. Außerdem versprach sie mir, ihrer Mutter nichts zu erzählen. Dies war ebenfalls eine Anweisung vom Förster gewesen.
Ich fühlte mich zu diesem Zeitpunkt das erste Mal wieder ein bisschen frei. Ich spürte, wie sich meine Seele aus der Gefangenschaft befreite. Also tat ich etwas sehr Dummes. Ich bat Malea nach einer Kamera. Ich wollte ein Video aufnehmen. Dieses Video, was du dir gerade ansiehst.
Natürlich bekam der Förster Wind davon. Sobald ich wieder am Bunker ankam, spürte ich erneut den Betäubungspfeil und fand mich in meinem Zimmer wieder. Die Tür war verschlossen.
Für jedes Mal, in dem ich mich auch nur minimal versuchte, meinem Entführer zu widersetzen, erhielt ich eine Bestrafung. So konnte es nicht weitergehen.
Am Abend erhielt ich wieder einen Brief. Diese Anweisung, im Gegensatz zu der Gestrigen, fand ich alles andere als schön. Larissa und ich wurden gezwungen, Malea morgen bei unserem Spaziergang zu ermorden.
Entweder sie.
Oder wir.
Das Leben meiner Tochter gegen meins und das meiner anderen Tochter. Gott, wie ich nach dem Lesen geweint habe!
Ich wollte mich nicht entscheiden!
Doch früher oder später musste ich es tun.
Also schlief ich ein und saß am nächsten Morgen völlig schockiert am Frühstückstisch. Noch immer wusste ich nicht, was ich tun sollte.
Larissa schien keinen Brief bekommen zu haben. Sie freute sich, ihre Schwester wiederzusehen und wusste nicht, dass ihr Tod kurz bevorstehen könnte.
Ich konnte ihr ihre gute Laune nicht verderben. Eigentlich hatte ich mit Martha und Celine über das Treffen reden wollen, doch ich brachte es nicht über das Herz. Stattdessen fragte ich sie nach einem Apfel und hielt ihn mir hinter den Rücken. Gemächlich ließ ich ihn von einer Hand in die andere wandern.
Ich forderte Martha auf, eine Hand zu wählen. Für sie hatte es nur wie ein unwichtiges Spiel ausgesehen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass ich ihr das Leben meiner Töchter in die Hände gab.
Der Apfel stand für Malea. Die leere Hand für Larissa. Mich selbst zählte ich erst gar nicht als Kriterium auf. Es gab keine Begründung, Larissa zu wählen, um sich selbst zu schützten. Mein Leben war mir schon lange nichts mehr wert.
Es ging ganz allein um die Frage, welche meiner Töchter überleben durfte.
Martha wählte den Apfel und unterschrieb damit Maleas Todesurteil. Äußerlich durfte ich mir nichts anmerken lassen, doch innerlich weinte ich bitterlich. Nachher musste ich mein eigenes Kind töten.
Der Ausflug begann und mit ihr meine Verzweiflung. Konnte ich es wirklich über das Herz bringen, Malea zu ermorden? Auch wenn ich sie Jahre nicht gesehen hatte, brachte ein Blick auf mein Kind mein Herz zum Schmelzen.
Sie war wunderschön, intelligent und hatte sogar an die Kamera gedacht. Diese war vielleicht meine Rettung. Würde meine Rettung sein.
Ich hoffe es zumindest, dass ihr, nachdem ihr die Aufzeichnung gesehen habt, losmarschiert und mich rettet."
Hans hustete und griff nach einem Wasserglas, was neben ihm auf dem kahlen Boden des Bunkerzimmers stand.
„Entschuldigung. Ich weiß gerade wirklich nicht, wie ich weitererzählen soll. Was gleich passiert ist einfach schrecklich.
Ich ... Ich bin mit meinen beiden Töchtern in den Wald gegangen, ... doch ich bin nur mit einer wieder rausgekommen. Ich schlug einen Stein gegen Maleas Hinterkopf und ließ sie bewusstlos zurück.
Larissa schrie den ganzen Heimweg über. Sie verstand meine Handlung nicht. Erst, als ich erwähnte, dass der Förster mir dies befohlen hatte, wurde sie still. Nicht nur das. Auf ihrem Gesicht erschien der Ausdruck von Verständnis.
Immer wieder vergaß ich, wie stark unser Entführer ihr Handeln, ihre Gedanken und ihr Wesen beeinflusste.
Larissa und ich gingen also heim, wurden wieder bewusstlos geschossen und erwachten in unseren Zimmern. Dieses Mal waren die Türen nicht verschlossen. Der Förster hatte mir zwar meine Kamera genommen, doch er schien zufrieden mit dem Tod meiner Tochter.
Erst am Nachmittag erfuhr mein Entführer, wie es wirklich um Malea stand. Sie war am Leben. Zwei Wanderer hatten sie gefunden. Es bestand noch eine Möglichkeit auf eine Heilung und sobald Malea aus dem Koma erwachte, war sein Geheimnis in Gefahr.
Ich möchte mich wirklich nicht an die darauffolgenden Tage erinnern. Und ich kann es auch nicht vollständig."
Wieder griff Hans nach seinem Wasserglas. Lilia kannte diese Stelle in und auswendig. Er nahm es, zitterte und ließ es fallen. Die Scherben verteilten sich auf dem Fußboden und auf Hans' T-Shirt entstand ein Wasserfleck.
„Mist", kommentierte er schuldbewusst. „Das wird ihm nicht gefallen."
Mit er meinte Hans den Förster, da war sich Lilia sicher.
„Ok, egal. Zurück zum Thema. Schmerz, Schreie, Gedächtnislücken. So sah die nächste Zeit im Bunker aus.
Es dauerte Wochen, wenn nicht Monate, bis wieder etwas passierte.
Ich hatte die ganze Zeit geahnt, dass der Förster im Hintergrund an etwas Großem arbeitete. Doch nun sah ich das erste Mal die Ausmaße davon.
Larissa war vom einen auf den anderen Tag verschwunden. Ebenso Celine.
Martha und ich saßen ratlos am Küchentisch."
Hier zog Hans seinen Mund kraus.
„Eigentlich saß nur ich ratlos am Küchentisch. Martha ahnte, was los war. Der Förster hatte nicht nur mit mir, sondern auch mit ihnen Experimente gemacht und sie dazu gebracht, eine zweite Identität anzunehmen.
Sie hatte einen neuen Namen, eine neue Haarfarbe und einen ganzen Lebenslauf auswendig gelernt.
Sie erklärte mir, dass der Förster uns mit diesen neuen Identitäten ein neues Leben schenken wollte.
Wir dürften an die Oberfläche gehen und machen, was auch immer wir wollten. Viel zu schnell durchschaute ich den Plan des Försters.
Es war nicht seine Intension, uns ins Freie zu entlassen.
Er wollte uns nichts schenken.
Er wollte nur ausprobieren, inwieweit seine Experimente eine Wirkung zeigten.
Inwieweit man Menschen beeinflussen konnte. Inwieweit man sie dazu bringen konnte, alles zu vergessen. Sich selbst zu vergessen."
Die Freunde schnappten hörbar nach Luft.
„Das kann unmöglich sein Ernst sein!"
„Schrecklich!"
„Grausam!"
Das waren nur einige der Dinge, die sie dem Förster an den Kopf warfen.
„Ihr müsst weitergucken. Und gut zuhören", rief Lilia schnell, bevor die Gefühle der anderen überkochen konnten. „Es wird noch schlimmer."
Und es wurde noch schlimmer ...
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