Szene ①
Fallende Blätter leiteten durch den Herbst in den träumenden Wäldern. Es war Mitte Oktober. Eine Zeit, in der man sich von Kürbiskuchen und heißem Kakao ernähren sollte.
Doch keinem der vier Freunde war danach zumute.
Jasper Wittig, Fria Roncal, Benno Relotius und Lilia Hohn saßen gemeinsam in ihrem Baumhaus in den träumenden Wäldern, aßen Chips und tranken Softgetränke. Etwas Gesünderes fand man hier nicht. Außerdem hatte keiner der Vieren nach dem ereignisreichen Sommer mehr den Wunsch verspürt, neue Getränke in das Baumhaus zu bringen.
Bald würde es sowieso viel zu kalt werden, um sich hier zu treffen.
„So Lilia, jetzt fang endlich an zu reden. Wir können dir nicht noch drei Stunden dabei zusehen, wie du aus dem Fenster starrst."
Die junge Frau hatte sich auf ihren Lieblingsplatz am großen Fenster gesetzt und ein paar Gedanken auf einen ihrer bereitliegenden Papierfetzten gekritzelt. Seid Malea gestorben war, ging es mit dem Schreiben irgendwie bergauf. Lilia hasste es, denn sie wollte aus dem Tod ihrer Freundin nichts Positives ziehen. Doch Gefühle hatte sie nie besser aufs Papier bringen können.
„Ich hab es euch schon mal gesagt. Schaut euch einfach das Video an", sagte Lilia und verscheuchte einen Käfer, der es sich auf dem Fensterbrett gemütlich machen wollte.
„Aber willst du denn nicht mitgucken?" Fria hatte nun schon längere Zeit mit der Kamera in ihrer Hand herumgespielt, die das Video von Hans Verhaag in ihrer Speicherkarte versteckte. Doch noch traute sie sich nicht, es sich anzugucken.
Heute Morgen hatte Lilia ihren Freunden eine Nachricht geschrieben. Sie hatte sich das Video angesehen und wollte es nun unbedingt den anderen zeigen. Doch nun, wo sie alle im Baumhaus versammelt waren, rückte sie einfach nicht mit der Sprache heraus.
Lilia seufzte. „Nein, ich will es mir nicht noch einmal ansehen. Glaub mir, das habe ich heute schon zehn Mal gemacht."
Fria wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, doch die Jungs schnitten ihr das Wort ab. Jasper schnappte sich die Kamera und Benno sagte: „Spann uns doch jetzt nicht noch weiter auf die Folter. Wir. Wollen. Das. Video. Sehen!"
Jasper suchte nach der Datei und drückte schlussendlich auf Start. Lilia versteifte sich, als sie den nun schon vertrauten Ton von Hans' dunkler Stimme aufnahm. Sie kannte die Worte so gut, dass sie sie hätte mitsprechen können.
In einem kahlen Zimmer sah man den Familienvater. Er zitterte und weinte. Sein Inneres war zerbrochen.
Seine Stimme war zwar rau und dunkel, aber auch zittrig und angespannt. Als traute er sich selbst nicht, die Worte laut auszusprechen.
„Sollte jemand jemals diese Aufzeichnung finden, möchte ich, dass man sie Dorothea Verhaag übergibt. Drückt sie von mir. Ich vermisse sie. Und Doro, falls du das hier sehen solltest, sollst du wissen, dass es mir leidtut. Alles. Die gesamte Geschichte. Von Anfang an.
Es ist nun schon viele Jahre her, da verschwanden zwei Kinder in Jesingen. Martha Kiesbauer und Celine Rehberg. Zwei kleine Mädchen. Von der einen auf die andere Nacht waren sie spurlos verschwunden.
Jahre später ging ich allein in den träumenden Wäldern spazieren. Ich hörte Stimmen und fand zwei Mädchen auf einer Waldwiese spielen. Als sie mich sahen, rannten sie weg. Irgendwann kam ich darauf, dass dies die zwei Vermissten sein könnten. Bei der örtlichen Polizei hatten sie Fotos ausgestellt, die die möglichen Entwicklungen der beiden Mädchen zeigten.
Sie sahen den Kindern aus dem Wald so ähnlich, dass ich die Information nicht für mich behalten konnte. Ich wollte sie sofort melden, hatte mir sogar schon einen Polizisten gesucht und kontaktiert, doch da bekam ich eine SMS auf mein Handy. Würde ich den Standort der Mädchen verraten, würde man mich umbringen.
Sicher wäre es am besten gewesen, auch diese Nachricht sofort der Polizei zu zeigen, doch ich stand unter Schock. Gerade hatte mir jemand angedroht, mein Leben zu beenden.
Vollkommen panisch lief ich nach Hause und versteckte mich im Keller. Jede Sekunde hatte ich Angst vor einer weiteren Nachricht.
Schließlich kam sie auch. Wieder drohte mir der anonyme Schreiber damit, mich zu töten, sollte ich etwas ausplaudern. Doch es kam noch schlimmer. Er schlug mir vor, ich solle meinen Tod nur vortäuschen, um mit ihm zu kommen. Er würde mich verschonen, wenn ich in seinen Wald ziehen würde. Damals wusste ich nicht, worauf ich mich da einlassen würde. In den Wald zu ziehen, um zu überleben, klang erst einmal nicht schlecht. Auf jeden Fall besser als der Tod.
Dass es schlussendlich die Hölle auf Erden war, und ich ein schnelles und friedliches Ableben dem hätte vorziehen sollen, war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst gewesen.
Der SMS-Schreiber unterzeichnete mit dem Namen Förster und er ließ mir eine Woche Bedenkzeit.
Natürlich kam mir in der einen Woche oft in den Sinn, doch zur Polizei zu gehen. Vielleicht stellte sich die Förstersache dann als Streich heraus. Vielleicht wollte mich jemand nur ärgern.
Doch immer, wenn ich mich der Wache auch nur näherte, erhielt ich eine neue SMS. Der Verfasser schien genau zu wissen, wo ich mich gerade befand und was ich vorhatte.
Ich bekam Panik. Sicher würde man mich sofort töten, sollte ich auch nur versuchen, meine Entdeckung der Polizei zu schildern. Wenn die Person immer wusste, wo ich war, wäre es ein Leichtes für sie, mich einfach unbemerkt kaltzumachen.
Außerdem verlangte er von mir, Jim Wittigs Pistole zu stehlen. Ein weiterer Befehl, bei dessen Missachtung kurzer Prozess mit mir gemacht werden würde. Jim war mein Freund. Und nun musste er dafür bezahlen.
Bei einem gemeinsamen Spaziergang gelang es mir, den Polizisten zu beklauen. Meinen Freund.
Und wofür? Damit ich die Pistole dem SMS-Psychopath übergeben konnte. Damit ich einem Erpresser eine Waffe brachte.
Bei einem vereinbarten Treffpunkt ließ ich sie liegen und als ich eine Stunde später wieder vorbeikam, war sie weg.
Ich fühlte mich an diesem Tag so unglaublich schlecht, ich habe mich in Dorotheas Schoss in den Schlaf geweint. Sie wusste zwar nicht, was los war. Doch sie hat mich gehalten. Meine Frau ist die beste. Ich vermisse sie so sehr.
Eigentlich hatte ich gehofft, dass danach Schluss war. Ich hatte gehofft, der SMS-Schreiber würde mein Leben verschonen. Immerhin hatte ich ihm eine Waffe geklaut. Doch er schrieb mir weiterhin.
Es blieb mir also nichts Anderes übrig, als meinen Tod vorzutäuschen. In meinem Urlaub mit meiner Familie. Gemeinsam mit meiner kleinsten Tochter trieb ich auf das offene Meer zu, bis meine Frau und meine kleine Malea außer Sichtweite waren.
Zu einem vorangegangenen Zeitpunkt hatte sich der Förster dazu entschlossen, dass ich eine meiner Töchter mitnehmen musste. Anscheinend war ich ihm zu oft zur Polizei marschiert.
Dass es Larissa geworden war, war Zufall. Ich hatte mich nicht entscheiden wollen. Ich hätte doch niemals zwischen meinen beiden Mädchen wählen können.
Larissa war gerade da gewesen, als sich die perfekte Möglichkeit bot. Sicher war es schlimm zu wissen, dass nun nicht nur du selbst, sondern auch deine Tochter von der Welt totgeglaubt wird. Doch leider freute sich mein Kopf auch, dass ich nun nicht allein in den Fängen des Försters war.
Wir tobten also in den Wellen der Ostsee, ließen uns treiben und hatten Spaß. Ein letztes Mal, dachte ich mir immer wieder. Malea und Dorothea verschwanden, um sich ein Eis zu kaufen.
Dann ließen sich Larissa und ich uns an den Strand spülen. Wir rannten. Meine Tochter verstand nicht, was in mich gefahren war. Sie quietschte freudig aufgeregt in meinen Armen. Sie war noch zu klein, um für längere Zeit selbst so schnell zu rennen, deshalb trug ich sie.
Wir liefen an einer Sandkuppel vorbei und plötzlich wurde mir schwarz vor Augen.
Der Förster hatte uns geschnappt. Anscheinend hatte er hinter der Düne auf uns gewartet und mich dann von hinten überwältigt.
Aufgewacht bin ich genau hier in diesem Raum."
Hans Verhaag deutete mit dem Arm auf den Boden unter sich.
„Der Förster hatte Larissa und mich gefangen genommen. Jahrelang lebten wir in diesem Bunker. Wir bekamen Essen und Trinken und es wurden Experimente mit uns gemacht. Langsam musste ich zusehen, wie der Förster meiner Tochter ihren eigenen Willen nahm.
Er brachte sie dazu, dass sie ihren eigenen Namen vergaß. Von nun an musste man sie Lani nennen. Es war scheußlich, das mit anzusehen."
Hans biss sich auf die Lippe. Der Schmerz war ihm anzusehen.
„Außerdem lernten wir die beiden verschwundenen Mädchen kennen. Tatsächlich lebten auch sie in diesem Gefängnis. Martha und Celine aßen mit uns zu Mittag, spielten Brettspiele und manchmal mussten wir auch die Experimente gemeinsam machen. Wir schienen wie eine große Patchwork-Familie. Es gab sogar Momente, in denen wir glücklich waren.
Doch die meiste Zeit war es anstrengend. Der Förster hielt uns in diesem Haus gefangen. Es gab keine Fenster und keine Türen nach draußen. Nur ein großes Eisentor, hinter dem es immer dunkel war. Auch nach jahrelanger Arbeit hatten wir es nicht geknackt. Vor Kurzem ..."
Hans holte tief Luft. Diese Stelle fand Lilia immer besonders schlimm. Man konnte ihm den Schmerz trotz schlechter Bildqualität leicht vom Gesicht lesen.
„Vor Kurzem hat es Larissa geschafft, das Eisentor zu knacken. Sie hat das Schloss nach jahrelanger Arbeit mit einer Gabel aufbrechen können und war plötzlich weg.
Ich merkte es erst nach einiger Zeit, bin ihr danach aber sofort hinterher. Es stellte sich heraus, dass wir die ganze Zeit in einem Bunker im Wald eingesperrt gewesen waren, denn ich kam zwischen den Bäumen aus einer Bodenluke geklettert.
Ich lief los, rief Larissas Namen, doch sie antwortete mir nicht. Ziellos irrte ich im Wald umher und versuchte, mich zu orientieren. Immerhin war ich früher oft durch die träumenden Wälder gewandert. Doch ich fand keinen bekannten Punkt.
Irgendwann hörte ich einen Schuss. Ich fand mich mit einer Betäubungskugel in das rechte Bein geschossen, auf dem Waldboden liegend, wieder. Mir wurde schwarz vor Augen und aufgewacht bin ich hier, in meinem Zimmer im Bunker. Zurück in meinem Gefängnis. Nach kurzer Freiheit war ich wieder dort, wo ich anscheinend hingehörte. In ein Drecksloch."
Hans lächelte ein leichtes, trauriges Lächeln.
„Sekunde. Ich muss mich kurz sammeln."
Lilia atmete auf. An dieser Stelle gönnte sich Hans ein paar Sekunden zum Verschnaufen. Und diese gab sie sich und ihren Freunden auch.
Lilia sah, wie Jaspers, Bennos und Frias Köpfe sinnbildlich qualmten. Es gab so viele Informationen zu verarbeiten.
Ein paar Sekunden konnten sie noch verschnaufen, doch dann würde Hans weitersprechen. Und das, was gleich kam, konnte das eben Gehörte noch einmal übertreffen. Lilia wollte die Geschichte kein weiteres Mal hören, doch sie würde es für ihre Freunde tun. Denn die Informationen waren zu wichtig, und sie mussten sie gemeinsam besprechen.
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Herzlich Willkommen in Staffel Zwei! Ich hoffe, ihr habt gut reingefunden.
Regelmäßige Updates kann ich euch im Augenblick noch nicht versprechen, da ich sowohl Staffel Eins als auch SOON 1 und 2 überarbeite und währenddessen noch Jurorin bei einem Award bin. Ich muss also reichlich lesen und komme wenig zum Schreiben. ;)
Trotzdem hoffe ich, euch hat der Einstieg gefallen und wir lesen uns bald in Szene 2.
Liebe Grüße!
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