Zoe ♡
Ich senkte meinen Kopf und richtete meinen Blick auf die Schneelandschaft unter mir. Ich beobachtete Hannahs und meine Füße, wie sie da über dem weißen Puder hin und her schaukelten und mir die Tür zu dieser ewigen Freiheit öffneten. Grinsend drehte ich mich zu Hannah, die meinen Blick lachend erwiderte. Die Sonne schien hell vom Himmel herab und wärmte meine dicke Winterjacke. Ich hätte doch besser die dünnere nehmen sollen! Genervt schob ich den Reisverschluss noch etwas weiter runter. Das Licht blendete mich ein wenig, als der Lift oben angekommen war und die Sonne immer abwechselnd durch das Metallgestell hindurch kam und wieder dahinter verschwand. Wir stiegen aus und gingen zu dem Treffpunkt, an dem sich die Gruppe heute treffen sollte.
Ich grinste, während ich den Berg hinuntersauste und den Wind mit meinen Haaren spielen ließ. Die Landschaft flog an mir vorbei, genauso wie Hannah auf ihrem Snowboard an mir vorbeiflog. Sie machte auf dem Board eine wesentlich bessere Figur als ich auf meinen Skiern. Es machte aber trotzdem eine Menge Spaß, zumal sie einen riesigen Spaß daran gefunden hatte, sich auf den Bauch zu legen, dann zwischen meine Beine zu rutschen und ihr Board so auszurichten, dass ich mich perfekt daraufsetzen konnte. Das war ja schon echt bequem! Ich bezweifelte zwar, dass Hannahs Board es genauso toll fand wie ich, aber das war mir in dem Moment auch egal. Voll chillig eigentlich, wenn man sich während der Talabfahrt einfach so hinsetzen kann und andere Hände unten auf dem Boden für einen lenken. Ich lachte in den Himmel, wobei mein Blick an einer Wolke hängen blieb, die mit etwas Fantasie aussah wie ein Herz. Zufall? Wer weiß das schon?
Eine kleine Bewegung unter mir und meine darauffolgenden Gleichgewichtsprobleme, verrieten mir, dass mein Stuhl sich einfach so dazu entschieden hatte, sich aufzulösen. Ich strauchelte, ruderte wie wild mit den Armen und landete schließlich rückwärts auf meinem Hintern. Mit dem letzten Schwung rutschte ich noch ein wenig den Hang hinunter und kam wenig später zum Stehen bzw. eher Liegen.
„Sag mal, was sollte das denn?" Trotzig verschränkte ich die Arme vor meinem Körper und versuchte ein böses Gesicht zu machen, woran ich allerdings kläglich scheiterte und der böse Schmollmund sich recht schnell in ein Lachen verwandelte, als Hannah einfach anfing, mich auszulachen. Was eine freche Göre! Ich grinste und rappelte mich auf. Zuerst tat ich ganz brav und kümmerte mich um meine Skier, aber später gab ich Hannah einen kräftigen Schlag, der sie ebenfalls zum Taumeln brachte, woraufhin sie ebenfalls rückwärts in den Schnee purzelte.
„Hahaha, wie lustig!", meckerte sie. Ich lachte nur.
Als wir uns beide wieder einigermaßen beruhigt hatten, entschieden wir uns einfach mal „normal" Ski bzw. Snowboard zu fahren. Das Gruppenevent war schon seit einer Stunde vorbei, es hatte sich herausgestellt, dass es nicht sonderlich hilfreich für uns gewesen war, da es sich um einen Anfängerkurs handelte. So ein richtiger Anfängerkurs, sterbenslangweilig! Naja, jetzt flogen wir also jeder selbst den Berg hinunter und genossen beide den Wind und die Sonne, die auf uns zu kamen und uns förmlich zu empfangen schienen, als plötzlich ein leichter Ruck durch meine Skier fuhr. Ich drehte mich zu Hannah um, die ebenfalls etwas verwirrt schaute. Der Ruck war nicht von meinen Skiern gekommen, sondern von dem Schnee unter mir. Ich schaute mich um, konnte allerdings nichts Auffälliges erkennen. Mit einer scharfen Kurve nahm ich mir den letzten Schwung und kam zum Stehen. Was war das für ein Ruck gewesen? Hier war doch nichts! Ich schaute in Hannahs Augen, die wie wild durch die Umgebung zu huschen schienen. Ein weiterer Ruck, diesmal stärker, viel stärker!
„Um Gotteswillen, was passiert hier?" Hannahs Miene verfinsterte sich und ich spürte die Angst, die langsam begann, an ihr zu knabbern.
„Ich weiß es nicht!", antwortete ich mit immer höher werdendem Herzschlag und zittrigen Knien. Ich schaute mich zum gefühlt hundertsten Mal um und bemerkte schließlich die große Gefahr, die mit hoher Geschwindigkeit auf uns zu geprescht kam. Sie war weiß und ich hatte sie mein Leben lang gefürchtet, weil ich einfach nie in so einer Situation sein wollte, in der ich mich jetzt befand. Hektisch riss ich meine Skier herum und trat so schnell wie möglich die Flucht an, doch die Schneebretter verkeilten sich in einem Stein. Ich versuchte mich zu befreien, was mich aber wertvolle Sekunden kostete. Ich versuchte meine Füße aus den Skiern zu befreien. Die weiße Schneedecke kam immer näher. Ich tastete nach dem Riegel, doch ich konnte ihn einfach nicht umlegen, er klemmte.
„Lawine! Wir müssen hier weg!", schrie Hannah.
„Ja, ich weiß!" Ich war den Tränen nahe. Von einer Lawine begraben zu werden, war immer mein größter Albtraum gewesen und es sah ganz so aus, als würde er in ein paar Sekunden Wirklichkeit werden. Ich riss an meinen Skiern, die Schneewucht war noch ungefähr 50 Meter von mir entfernt. Ich kämpfte mit den Brettern und zerrte an ihnen. Jetzt, endlich hatte ich die Skier von meinen Schuhen befreit. Ich richtete mich auf und rannte um mein Leben. Ich rannte, wurde immer schneller, spürte starken Wind und aufgewirbelten Schnee hinter mir. Ich wusste, wenn ich jetzt aufgeben würde, wäre ich für immer verloren. Ich hatte keine Ahnung, wo Hannah jetzt gerade war, ob sie erfolgreich flüchtete, oder ob sie bereits unter dichtem Schnee lag.
Ich dachte an die vielen Filme, die ich gesehen hatte. In denen Menschen von Lawinen verschüttet und gar nicht oder erst in letzter Sekunde gefunden wurden. Ich wollte nicht sterben, nicht jetzt schon.
Ich rannte immer weiter und überlegte, was ich machen würde, wenn ich wirklich in ein paar Sekunden nur noch weiß sehen würde. Natürlich würde ich zuerst mit meinem Handy Hilfe rufen. Was aber, wenn ich es verloren hatte oder es kaputt gegangen war? Was würde ich dann tun? Ich wusste es nicht und ich wollte es auch gar nicht wissen müssen.
Ich hörte, wie der Schnee den Berg herunterpreschte. Ich spürte die Vibration, die die ganze Landschaft erschüttern ließ. Ich spürte die Schneeluft, die mich langsam umschloss. Ich spürte, wie es mir den Boden unter den Füßen wegriss und ich mich schließlich vollkommen der Kraft des Schnees hingeben musste. Ich schloss die Augen und wurde herumgewirbelt. Ich überschlug mich und rollte den Berg hinunter. Die Kraft des Schnees zerrte an mir und ich kam gar nicht erst in Versuchung, mich zu wehren. Einen Augenblick später merkte ich, wie mein Arm durchgedrückt wurde und es anschließend knackte. Ich wollte schreien, doch mein Mund war wie zugeklebt, ich konnte mich nicht rühren, geschweige denn irgendeinen Laut von mir geben. Ich wünschte mir einfach nur noch, dass es aufhören würde. Meine Gedanken wurden durchgeschüttelt, ich wusste nicht, ob ich gerade nach links oder rechts gewirbelt wurde. Oder, ob mich der Schnee nach oben oder unten drückte. Ich geriet in Panik. Was, wenn es nie ein Ende nehmen würde?
Später, Jahrzehnte später würde man vielleicht meine Knochen alle an unterschiedlichen Stellen finden, meinen Eltern würden die Augen aus dem Kopf fallen vor lauter Tränen. Und Julian, mein tapferer großer Bruder würde sich bemühen müssen, um nicht doch ein paar Tränen zu vergießen. Was Hannah wohl gerade machte? Musste sie das alles auch über sich ergehen lassen? Hoffentlich kam sie nicht in direkten Kontakt mit dem Schnee, das wäre nämlich bei der Masse wahrscheinlich ihr Todesurteil. Vielleicht hatte sie es ja geschafft, sich in Sicherheit zu bringen, wobei ich mich wirklich fragte, wo man sich hier verstecken könnte, kein Fels, kein Hügel, gar nichts. Ich versuchte die Augen zu öffnen. Ich musste feststellen, in welche Richtung ich mich bewegte, sonst würde die Bergrettung umsonst in den Hubschrauber steigen, um zur Skipiste zu fliegen. Nach ein paar Sekunden konnte ich einen Spalt Licht sehen, dunkles Licht. Wie viel Schnee lag jetzt wohl schon über mir? Ich versuchte die Richtung auszumachen, doch es war sinnlos, ich drehte mich in die eine und wieder in die andere Richtung. Ein heftiger Ruck beförderte mir eine Ladung eiskalten Schnee ins Gesicht und ich musste mich bemühen, um an Sauerstoff zu gelangen. Ich keuchte, hustete und schlug mit den Armen wie wild um mich. Den Schmerz ignorierte ich dabei.
Plötzlich kam mir ein schrecklicher Gedanke. Wo war mein Handy? Ich hatte es in meine Hosentasche gesteckt, in die mit dem Reisverschluss. Hoffnungsvoll tastete ich danach und lächelte, so gut, wie es inmitten dieses Schneegestöbers möglich war. Mein Handy befand sich noch immer in der Tasche, ich konnte die Umrisse genau ertasten.
Als ich die Hoffnung schon fast wieder aufgegeben hatte, sah ich ein Ende des wilden Schneegestöbers. Ein nicht sehr angenehmes Ende. Ein Stein, der mir immer näherkam. Ein paar Sekunden später dröhnte es in meinen Ohren und erst dann bemerkte ich, dass ich mit dem Kopf gegen den Stein geknallt war. Es drehte sich alles, mein Hirn arbeitete, doch es konnte dem Schmerz nicht entkommen. Langsam schloss ich die Augen und fiel in den, mittlerweile etwas ruhiger gewordenen, Schnee.
Ich sah Hannah vor mir, was mittlerweile nichts Neues war. Die Lawine schoss den Berg hinunter, erwischte sie fast, doch dann entdeckte sie einen riesigen Stein, der ihr Schutz bieten könnte. Verzweifelt sprang sie unter den Felsbrocken und schlug die Hände um die Knie. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte das immer stärker werdende Vibrieren zu ignorieren. Ich konnte ihren Herzschlag ganz genau spüren und versuchte sie zu beruhigen. Schnee fiel über sie, doch die meiste weiße Masse verschonte sie. Hoffentlich würde nichts von dem kalten Wasser ihre Haut berühren. Das Vibrieren wurde weniger, bis es schließlich erstarrte. Noch eine Weile blieb Hannah genauso sitzen. Dann öffnete sie die Augen und richtete sich ganz langsam auf. Betreten kam sie aus ihrem Versteck hervor und stützte sich auf ihre Knie. Hilfesuchend sah sie sich um, rief ein paar Mal meinen Namen und versuchte aufrecht stehen zu bleiben. In ihrem Kopf schien die Landschaft immer noch zu vibrieren. Doch lange brauchte sie nicht nach mir zu rufen, bis sie mich ebenfalls kurz in ihren Gedanken sah, Tränen schossen ihr in die Augen, sie wusste, dass ich mich gerade in ihrem Kopf befand, sie wusste, dass ich bei ihr war, sie wusste, dass ich gerade unter einem riesigen Haufen Schnee zur Ruhe gekommen war.
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