Hannah ☆

Edas Gesicht spricht Bände, er schaut wie versteinert hinunter auf die Berglandschaft, wo die Lawine sehr deutlich zu erkennen ist, dessen Gebiet sie allerdings auch schon zweimal abgeflogen und nichts gefunden haben. Er lässt ein leises Seufzen hören, woraufhin Raphael ihm einen Seitenblick zuwirft.

Harald bekommt von alledem nichts mit, er heftet seine Augen nach unten, scannt jedes Fleckchen genau und kneift bei unübersichtlichen Stellen die Augen zusammen.

„Gleich bringt es nichts mehr, ich kann euch nicht runterlassen, es wird gleich dunkel, wir müssen zurück! Und außerdem hab ich auch kaum noch Sprit!" Raphael deutet auf die Anzeige, auf der der Zeiger bedrohlich weit unten hängt. Eda nickt sofort, wenn auch mit einem Stöhnen.

Er kennt die Lage, wenn sie jetzt weitersuchen, müssten sie die Nacht auf dem Berg verbringen, was bei diesen Temperaturen nicht zu verantworten ist.

Harald hingegen schaut die beiden entgeistert an. „Wir können doch nicht aufhören zu suchen! Wir wissen, wo sie ist und machen die ganze Nacht nichts?!"

„Hör mal, es hat keinen Sinn! In einer halben Stunde sehen wir nichts mehr, wie willst du sie dann noch finden?"

„Aber sie erfriert doch!"

„Wir suchen morgen weiter, aber für heute ist Schluss!"

Ertappt lässt Harald den Kopf sinken.

„Ich hab es aber doch Theresa versprochen!", murmelt er in sich hinein und ignoriert die Träne, die von seiner Wange auf seine Jacke tropft.

Der Hubschrauber dreht um, Raphael legt den Hebel um und die Bergrettung tritt den Rückweg an.

Lustlos schaut Harald aus dem Fenster, die vielen Wolken am Himmel, die Sonne, die langsam untergeht, die Bäume, die unter ihnen emporragen und der viele Schnee, der sich einen Weg durch das Labyrinth von Holz bahnt.

Eine Mischung aus weißer, grüner und brauner Farbe, die ihm jetzt noch viel trostloser vorkommen als sonst.

Er wollte gerade den Blick abwenden, als etwas da unten seine Aufmerksamkeit erregt. Sein Atem beschleunigt sich augenblicklich und seine Augen weiten sich.

„Stopp! Anhalten! Ich sehe was!" Augenblicklich stoppt der Hubschrauber und bleibt auf der Stelle schweben.

Harald deutet aufgeregt nach unten.

„Da!", bringt er nur zu Stande, da er von diesem Moment an so glücklich ist, wie noch nie zuvor. Da unten liegt etwas Knallrotes und Harald weiß genau, was das ist. Es gibt nur eine Person, die er kennt, die so einen Regenschirm immer dabeihat und diese Person heißt Hannah.

„Das ist ihr Regenschirm!", ergänzt er seine Aussage und fängt an auf seinem Sitz wild hin und her zu wackeln.

„Okay, ich fliege sofort weiter runter."

Der Hubschrauber senkt sich, der Regenschirm verschwindet zwischen ein paar Bäumen, taucht wenig später wieder auf und wird immer schärfer, da ist sie, die Jacke, die blaue Jacke von Hannah. Sie liegt ruhig im Schnee.

„Hannah!", ruft Harald erschrocken und weiß nicht, ob er sich freuen sollte oder nicht. Hannah liegt dort, aber sie rührt sich nicht, auch nicht auf die Geräusche des Hubschraubers hin, der sich immer weiter absenkt und schließlich auf einem kleinen freien Platz landet. Die Türen werden aufgerissen und alle drei stürmen heraus. Eda kniet sich sofort neben Hannah auf den Boden, setzt seinen Rucksack ab, überprüft ihre Atmung, schüttelt den Kopf, dreht sie schließlich auf den Rücken und beginnt mit Herz-Rhythmus-Massage. Harald tut es sichtlich im Herzen weh, seine Tochter so dort liegen zu sehen. Es dreht ihm den Magen um, so als stände die Welt gerade auf dem Kopf und er wüsste nicht, wie er sie wieder umdrehen kann.

„Hannah!", flüstert er nur immer wieder und versucht seinen Beinen zu befehlen, sich neben Hannah zu knieen oder zumindest ein Stück näher zu ihr zu gehen, was allerdings nicht funktioniert. Seine Reflexe funktionieren überhaupt nicht mehr. Er lauscht stumm auf das leise Zählen von Eda und fixiert mit starrem Blick das Gesicht seiner Tochter.

Währenddessen hat Raphael den Rucksack aufgeklappt und Hannah bereits einen Zugang gelegt, mit der er irgendwelche Flüssigkeit in ihren Körper spritzt. Das alles läuft für Harald in Zeitlupe ab, er würde am liebsten schreien und ihnen sagen, sie sollen sich gefälligst beeilen, er kann es aber nicht.

Jetzt senkt Eda erneut seinen Kopf, schüttelt ihn aber wieder und macht weiter.

Sie atmet nicht, sie atmet nicht! Dieser Satz wiederholt sich immer wieder in Haralds Kopf, er brennt sich förmlich in seine Gedanken ein und bestimmt voll und ganz seine Denkweise. Sie atmet nicht, immer noch nicht, jetzt immer noch nicht.

Harald konzentriert sich auf seine Atmung, versucht sie unter Kontrolle zu haben und nicht selbst umzukippen.

Plötzlich stupst ihn jemand am Arm an, er zuckt zusammen und bemerkt erst dann, dass er die Augen geschlossen hatte.

„Alles in Ordnung?" Eda steht neben ihm. Verwirrt blickt Harald sich um. Hannah ist weg, sie liegt nicht mehr dort, sie ist weg.

„Wo ist Hannah?" Panik steigt in ihm hoch, was ist passiert?

„Ihr geht es gut, sie ist im Hubschrauber, wir fliegen sie jetzt ins Krankenhaus.", lautet die Antwort, die Harald nicht versteht. Ihr geht es gut? Ein irres großes Glücksgefühl explodiert in ihm und es fühlt sich an, als würde eine riesige Last von seinen Schultern fallen. Er schaut sich erneut verwirrt um, bis er eine Hand auf seiner Schulter spürt. „Hier geht's lang!" Er lässt sich zum Hubschrauber führen, nimmt Platz, hört die Türe zufallen und richtet seinen Blick auf die Trage neben ihm, in der Hannah liegt. Seine Hannah! Er begreift es erst, als er seine Hand auf ihre Wange legt, sie ist bis oben hin eingepackt und hängt an vielen verschiedenen Schläuchen. Ihre Augen sind geschlossen. Harald hat aber nicht die Kraft mehr nachzufragen. Der Satz „Ihr geht es gut!" reicht schon und hat all seine Sorgen zunichte gemacht.

Ein paar Minuten später landen sie auf dem Krankenhausgelände. Es geht alles sehr schnell, die Liege wird herausgefahren und verschwindet im Gebäude, ein Arzt kümmert sich um ihn und begleitet ihn ebenfalls ins Gebäude, wo er auf seine Frau trifft, die ihn stürmisch umarmt. Hannah sieht er nicht mehr. Sein Gehirn schaltet sich aus, er geht die Situation auf dem Berg noch einmal durch, sieht Hannah vor sich liegen, hat das leise Zählen im Kopf und die grässlichen Geräusche des Schnees. Er schließt die Augen und bemerkt dann erst, dass er sitzt, auf einem Stuhl, den Arm seiner Frau auf seiner Schulter und ihre Hand an seiner Wange.

Wenige Stunden später, es fühlt sich aber an, wie eine Ewigkeit, kommt ein Arzt zu ihnen. Seine Frau steht sofort auf, Harald bleibt sitzen, er hat nicht die Kraft dazu, abgesehen davon fürchtet er die Aussage des Arztes. Er hebt nicht mal den Kopf.

„Also, Hannah liegt jetzt im künstlichen Koma." Haralds Kopf schaltet sich erneut aus, er sieht Hannah vor sich, in der Liege des Hubschraubers, mit Schläuchen, mit geschlossenen Augen, ohne Leben, mit Maschinen auf der Intensivstation, mit Beatmungsgeräuschen.

„Das war von Nöten, um ihrem Körper die Chance zu geben, sich nur auf die Heilung zu konzentrieren, ist aber für sie komplett ungefährlich. Sie hat sich die Schulter ausgekugelt, ein paar Rippen geprellt, ein paar Rippen sind auch gebrochen und ihre linke Kniescheibe ist auch gebrochen. Das haben wir aber so weit wieder gerichtet, es muss jetzt nur noch verheilen. Was uns allerdings mehr Sorgen bereitet, ist ihre Unterkühlung. Wegen ihrer Krankheit hat es natürlich viel mehr mit ihr gemacht als mit einem gesunden Menschen. Wir haben sie so gut es geht aufgeheizt, aber wir müssen schauen, wie sie die Nacht übersteht, morgen Früh wissen wir dann mehr."

Erst einmal herrscht Stille, bis sich Theresa dazu durchringt, etwas zu sagen.

„Vielen Dank! Können wir zu ihr?", hustet sie.

„Natürlich!" Der Arzt zeigt in eine Richtung und begleitet die beiden auf die Intensivstation. 

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