Hannah ☆
Aufgeregt und zitternd steuerte ich das Haus an, an dem einen Tag zuvor alles begonnen hatte. Zoes Haus, das Haus meiner Schwester, meiner Zwillingsschwester. Heiliger Schlittschuh! Ich hätte das vor einem Jahr, ein paar Monaten, einer Woche oder ein paar Tagen niemals für möglich gehalten.
Jedem, der mir hätte diese Geschichte erzählen wollen, hätte ich einen Vogel gezeigt und ihn allein stehen lassen.
Und jetzt stand ich vor dieser Tür, vor dieser Tür, die mir so viel bedeutete. Ich hatte meinen Eltern, genau wie Zoe auch, gesagt, ich würde Schlittschuh laufen gehen. Anstatt auf dem See zu stehen und die Kufen so herrlich über das Eis zu ziehen, klopfte ich jetzt an die Tür, ich traute mich nicht auf die Klingel zu drücken. Augenblicklich wurde diese aufgerissen und eine dermaßen erleichterte Zoe schaute mir entgegen, sie starrte mich an, so als müsste sie sich noch mal vergewissern, dass ich aussah wie sie. Ich grinste.
„Oh man, ich bin so froh, dass ich nicht geträumt habe.", schmetterte sie mir entgegen, etwas zu laut für meinen Geschmack, aber egal. So war ich auch manchmal.
„Ich auch." Und das meinte ich wirklich ernst, es kam aus meinem tiefsten Inneren, das noch geglaubt hatte, eine fremde Person die Tür aufmachen zu sehen.
„Ich bin dann jetzt weg!", rief Zoe in die Wohnung. Eine freundliche hohe Stimme antwortete ihr, bevor sie augenblicklich die Tür zuzog.
„Wohin?", fragte sie. Ich zeigte in die richtige Richtung und sie stolzierte sofort los. Lachend folgte ich ihr.
Eine Weile liefen wir einfach nur stumm nebeneinanderher. Ich hörte ein leises Vogelzwitschern. Komisch, der Vogel hatte sich aber verflogen, oder? Nicht dass er noch erfriert! Ich schaute mich um, doch nirgendwo waren auch nur annähernd irgendwelche flatternden Flügel zu erkennen. Ich zuckte mit den Schultern.
„Ist Eiskunstlauf dein Hobby?", fragte Zoe schließlich.
„Ähm, ja!" Verdammt nochmal, woher auch immer sie das wusste, es wurde mir langsam unheimlich. Sie musste meinen fragenden Blick bemerkt haben.
„Ich hab dich letztens früh morgens an dem See gesehen, ich war auch da, aber meine kläglichen Versuche, einfach nur geradeaus zu fahren, waren schon gescheitert, deshalb wollte ich auch nicht auf mich aufmerksam machen. Ich hab dich auch schon damals erkannt, habe aber nicht geblickt, dass du genau so aussiehst wie ich." Ooookay! Sie hatte mich gesehen, sie hatte mich mit Bernie gesehen, Mist!
„Warum hattest du einen Eimer dabei? Und war da nicht auch eine Schaufel?" Sie schaute mich mitfühlend an, als wüsste sie, um was es ging, wollte es nur noch mal von mir hören. Ich starrte sie an, ich starrte sie an und überlegte. Warum sollte ich ihr nicht die Wahrheit sagen? Warum sollte ich nicht alles erzählen? Sie war meine Schwester und das wusste ich nun ganz sicher, nicht nur aufgrund unseres Geburtstages.
„Na gut, also, du hast doch bestimmt auch diese Maske gesehen, mit der ich aussehe, wie ein Gespenst?" Sie nickte. „Ich hab sie Bernie genannt, weil es deutlich schöner ist, einem Gegenstand, den man sein Leben lang brauchen wird, einen Namen zu geben." Fragend und besorgt schoben sich ihre Augenbrauen zusammen. Ich seufzte. Wenn, dann jetzt auch richtig!
„Der Traum mit dem Donnergrollen, der hätte wirklich passieren können, sowas ist nicht untypisch für mich." Ich atmete noch einmal tief durch und begann dann alles aufzuklären.
„Also, erstmal, ich hatte einen Eimer und eine Schaufel dabei, weil ich meinem kleinen Bruder einen Eiszapfen zum Geburtstag mitbringen wollte. Jetzt fragst du dich sicher, warum dazu eine Schaufel? Ja, also, weil ich den Eiszapfen nicht anfassen kann." Ich ignorierte die ganzen Fragezeichen, die neben Zoes Kopf auftauchten und sprach einfach weiter. „Ich kann sie nicht anfassen, weil ... weil ich dann ganz schrecklichen Ausschlag bekommen würde. Ich hab ne Allergie dagegen. Kälteurtikaria! Deswegen muss ich Bernie auch tragen, immer wenn ich viel Schnee oder Regen oder generell kaltem Wasser ausgeliefert bin. Auf der Eisfläche sind zwar keine Wasserfontänen, aber ein Erlebnis in meiner Kindheit hat mir eingetrichtert, Bernie auch dort zu tragen. Damals hatte ich gerade mit Eiskunstlauf angefangen und bin mit dem Gesicht aufs Eis gefallen, es tat nicht weh oder so, aber die Tage danach waren schlimm, mein ganzes Gesicht war voller kleiner juckender Bläschen, ich sah aus wie ein rotangemalter Streuselkuchen.
Damals habe ich mir geschworen, nie wieder ohne Bernie aufs Eis zu gehen." Ich beobachtete ihren Gesichtsausdruck, doch sie blieb ganz ruhig und verzog keine Miene.
„Wie kommt es dann, dass du dort lebst, wo es im Winter ziemlich kalt wird?" Die Frage hatte ich erwartet, zwar noch nicht direkt, aber ob jetzt oder später war doch auch egal, oder?
„Wir haben schon hier gelebt, als es festgestellt wurde. Damals war ich drei. Du kannst dir sicher vorstellen, was so eine Diagnose für ein dreijähriges kleines Mädchen bedeutete, das seine ganze Kindheit noch vor sich hatte, was spielen wollte, mit anderen Kindern, aber eben auch mit Wasser, das Schwimmen lernen wollte, das Ski fahren und später auch mal ohne seine Eltern rausgehen wollte." Bei diesen Gedanken kamen mir sofort die Tränen, aber ich wischte sie tapfer weg und redete weiter.
„Das gestaltete sich alles als nicht so einfach. Als meine Eltern davon erfuhren, waren sie vollkommen überrumpelt, sie wussten nicht, was sie machen sollten. Ich weiß bis heute nicht, warum sie schließlich hiergeblieben sind, immer wenn ich das Thema anschneide, lenken sie davon ab. Naja, und dann ging es halt eben los. Schutzanzug da, Bernie hier, hier noch was Neues und dort noch etwas.
Ich glaube, mit drei Jahren bekommt man es einfach gar nicht so direkt mit, was einem da alles angezogen wird, bevor man im Schnee spielen darf. Ich habe es einfach so hingenommen, kannte es dann irgendwann nicht mehr anders. Seitdem war mein Leben ständig Gefahren ausgeliefert, sei es der zu kalt gedrehte Wasserhahn auf den Toiletten in der Schule oder die Wasserflasche, die neben mir explodierte oder eben ein Gewitter und somit eventueller Regen, was plötzlich auftauchen konnte. Die ersten zwei Jahre nach der Diagnose habe ich vollkommen von der Außenwelt abgeschottet gelebt, ich vermute, weil meine Eltern selbst nicht damit klarkamen. Sie hatten fürchterliche Angst um mich, verständlich. Irgendwann wollte ich das aber nicht mehr, ich habe darauf bestanden, Eiskunstlauf zu lernen, ich wollte gerne mit Kälte arbeiten, auch wenn es meine größte Angst war. Naja, und wie du siehst, bis jetzt hat es gut geklappt, ich lebe ja noch."
Ich wollte lachen, aber ich wusste genau, dass das nicht lustig war.
„Du musst nicht lustig für mich sein.", stellte Zoe klar, blieb stehen und zerrte mich in ihre Arme. Ich glaube, so oft hatte ich noch nie jemanden in so kurzer Zeit umarmt, aber es tat gut. Eine einzelne Träne rollte meine Wange hinunter, aber das reichte dann auch. Ich wollte nicht weinen, ich hatte es schon so oft deswegen getan.
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