Hannah ☆
Die gleichen hellblonden glatten Haare, die gleichen hellblauen Augen, die gleichen schmalen Lippen, die gleichen Gesichtszüge und Form, gleiche Statur, gleiche Größe, gleiche Hautfarbe, gleiche Nase, gleiche Sommersprossen. Um Gotteswillen, sie hatte die gleichen Schuhe an. Genau die Schuhe, die ich mir erst vor ein paar Tagen gekauft hatte. Ich musste mich an der Hauswand abstützen.
Wir starrten uns an, ich wusste genau, was sie denken musste, ich dachte ja genau das gleiche. Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen.
Warum war ich an diesem Haus stehen geblieben? Warum hatte ich es so interessant gefunden? Warum hatte ich es mit irgendetwas verbunden? Warum tauchte dieses Mädchen genau hier auf? Warum verdammt nochmal sah sie aus, wie ich? Ich öffnete die Augen, in der Hoffnung es mir eingebildet zu haben. Doch nein, das Mädchen stand immer noch vor mir und brachte kein Wort heraus, genau wie ich. Und obwohl wir uns anstarrten und anstummten, war es keine unhöfliche oder unerträgliche Stille, es war eher eine überlegende Stille, in der jeder den jeweils anderen verstand.
„Wie kann das sein?", brachte ich schließlich mit kratziger leiser Stimme heraus.
„Keine Ahnung." Das andere Mädchen schüttelte den Kopf, stapfte mit großen Schritten auf mich zu und fiel mir ohne jeglichen Kommentar in die Arme. Genau das musste sein, genau das war es, was ich brauchte, was wir brauchten. Sehr lange standen wir so da, in der Umarmung und keiner von uns beiden wollte sich vom anderen lösen. Es war so ein unglaubliches Gefühl der Geborgenheit, der Vollkommenheit und des Glückes.
Eine kleine Träne rollte meine Wange hinunter und tropfte auf ihre Jacke, ihr musste es genauso gehen, ich spürte es.
Ein paar Minuten und seltsame Blicke der Vorbeilaufenden später lösten wir uns schließlich voneinander und schauten uns tief in die Augen. Diese Augen, genau wie meine, exakt genau wie meine. Ich konnte es nicht glauben. Sie lächelte, ich lächelte auch, wir mussten in diesem Moment genau gleich aussehen.
„Wann hast du Geburtstag?", fragte sie. Ich verstand, worauf sie hinauswollte.
„6. August!", antwortete ich und sah sie fragend an. Ihr Mund klappte auf, sie schlug sich die Hand davor.
„Ich glaub's nicht!", presste sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
„Du auch?", fragte ich vorsichtig. Sie nickte und brach augenblicklich in Tränen aus. Perplex nahm ich sie erneut in den Arm. Ich wusste nicht, was sie jetzt so berührt hatte, ob ich irgendetwas Falsches gesagt hatte oder ob es ihr einfach nur zu viel war. Es war egal, ich verstand sie so verdammt gut. Ich legte meinen Kopf auf ihre Schulter und fing ebenfalls an zu weinen.
So standen wir erneut ein paar Minuten vor dem Haus, es war mir egal, wie die Leute guckten, dieser Moment war so viel wertvoller als jeder guter Eindruck bei Fremden.
„Ich hab dich die ganze Zeit gesehen.", schluchzte sie und zog die Nase hoch. Warte, was? Was sagte sie da?
„Was meinst du?" Verwundert schaute ich in ihr verheultes Gesicht, ich musste nicht viel besser aussehen.
„In den Nächten, ich hab dich gesehen." Eine dicke Träne tropfte von ihrem Kinn auf die Jacke.
„Wie, in den Nächten?" Ich verstand die Welt nicht mehr.
„Ich hab von dir geträumt." Mein Mund klappte auf. „Wirklich?" Sie nickte heftig.
„Ich hab zweimal von dir geträumt, einmal da warst du überglücklich und hast an einem Bach in einem Buch gelesen, du hast extrem schön gelächelt, aber dann kam ein Donnergrollen und du bist erschrocken aufgesprungen und weggerannt. Das andere Mal warst du in deinem Zimmer und hast auch in dem Buch gelesen und dann kam ein Mann rein, den ich aber nicht erkennen konnte. Mir ist nie aufgefallen, dass du aussiehst wie ich. Ich hab dich in den Träumen aber von vorne gesehen, ich hab es nicht bemerkt, warum?" Sie war innerlich sehr aufgelöst, das merkte ich.
„Keine Ahnung." Nicht sehr brauchbar, die Antwort ich weiß, aber was sollte ich denn auch sonst sagen? Ich hatte keine Ahnung, was sich hier abspielte.
„Wohnst du da?" Ich zeigte auf das Haus hinter uns. Sie nickte. Ich starrte sie an. Das konnte doch nicht wahr sein! Langsam drehte ich mich um und betrachtete das Haus erneut. Wieder dieses warme Gefühl, genau wie eben auch.
„Was ist?", fragte sie.
„Ich wusste, dass du hier wohnst. Ich wusste zwar nicht, wer es ist, aber ich wusste, dass es nicht irgendjemand ist."
„Was bitte?" Sie sah mich an, wie Tim, wenn er etwas nicht wahrhaben wollte. Ich grinste.
„Was ist?" Sie lächelte.
„Du hast mich gerade an meinen kleinen Bruder erinnert." „Oh." Sie lachte erneut. „Warte, du hast einen kleinen Bruder?!" Das Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ich nickte.
„War der zufälligerweise mit deinem Vater gestern einen Baum kaufen?"
„Äh, ja!" Verdammt, woher wusste sie das? Was lief hier vor sich? Sie raufte sich die Haare.
„Ich war mit meinem Dad zur gleichen Zeit dort und ich hab deinen Bruder gesehen und habe noch gedacht, dass er Ähnlichkeit zu dem Mädchen aus meinen Träumen hat. Ich wollte ihnen folgen, aber dann hat mein Vater mich gebraucht und dann waren sie weg." Ich glaubte das jetzt nicht. Ich hätte also nur mitfahren müssen und hätte sie dann schon früher getroffen? Das konnte doch nicht wahr sein!
„Das glaube ich jetzt nicht!", brachte ich hervor. Sie schüttelte nur den Kopf.
„Was ist jetzt, von wegen, du wusstest, dass ich hier wohne?" „Äh ja, also ich habe gerade einen ganz normalen Spaziergang gemacht, die gleiche Runde, die ich sonst auch laufe. Nur dass mich diesmal irgendetwas an diesem Haus festgehalten hat, ich bin hier schon so oft vorbeigelaufen, aber heute war irgendwas anders. Seid ihr erst vor kurzem hierhin gezogen?" Sie schaute ein wenig traurig.
„Wir wohnen gar nicht hier, wir sind hier im Skiurlaub. Das ist unsere Ferienwohnung.", gab sie schließlich zähneknirschend zu.
„Achso." Ich wollte meine Enttäuschung darüber nicht ganz so offen darlegen, schaffte das aber natürlich nicht. Sie schaute traurig auf den Boden. Ich hob ihr Gesicht langsam an.
„Okay, na und? Jetzt seid ihr ja erstmal hier, oder?" Geknickt nickte sie, lächelte aber auch schon wieder.
Jetzt standen wir erstmal wieder eine Zeit lang stumm nebeneinander, ich musste erstmal verarbeiten, was ich alles erfahren hatte. Ich hatte eine Zwillingsschwester, die mir zum Verwechseln ähnlichsah. Wie war das möglich? Wer waren unsere Eltern? Wir mussten doch dieselben haben, oder? Mein Kopf explodierte gleich, sie hätte wahrscheinlich eine Rauchwolke darüber schweben sehen können, wenn sie mich angeschaut hätte, doch sie starrte nur stumm ins Leere. Vermutlich mit den gleichen Gedanken, wie ich.
Schüchtern schaute ich ihr direkt ins Gesicht, sodass sie es bemerken musste und augenblicklich ihre Augen auf mich richtete.
„Wie heißt du eigentlich?", fragte ich und kam mir dabei ein bisschen dämlich vor. Hauptsache mal das halbe Herz ausschütten und nicht wissen, wie sie heißt. Ich schüttelte über mich selbst den Kopf.
„Zoe.", antwortete sie.
„Du?"
„Hannah." Zoe, was ein schöner Name, aber der kam doch bestimmt nicht aus dieser Gegend.
„Wo kommst du denn her?"
„Aus der Eifel, aus Deutschland." Ich nickte nachdenklich. Wie hatte es sein können, dass wir so weit voneinander entfernt aufgewachsen waren?
„Wo bist du geboren?" Sie traute sich nicht, mich anzusehen, als sie die Frage aussprach. Vermutlich weil wir beide die Antwort kannten, aber Angst davor hatten.
„In Köln.", antwortete ich schließlich für uns beide. Ihr Nicken reichte mir und mein Herz begann noch heftiger zu schlagen als sowieso schon. Ich musste husten, hatte mich beinahe verschluckt.
„Ich begreif das nicht." Wie ein kleines unglückliches Kind stand sie da vor mir und erinnerte mich schon wieder an Tim. Mir war nur gerade überhaupt nicht zum Lachen zumute, eher wäre ich auf der Stelle in mein Bett gekrabbelt und hätte mich unter zehntausend Decken und Kissen versteckt, nur in der Hoffnung alles geträumt zu haben.
Aber Moment, ich wollte es nicht geträumt haben, auch wenn mein Herz es wahrscheinlich um einiges besser gefunden hätte, aber ich wollte, dass es real war. Ich wollte, dass ich eine Zwillingsschwester hatte, auch wenn ich sie mein halbes Leben lang nicht gekannt hatte. Ich wollte, dass sie da war. „Ich bin froh, dass du da bist.", lächelte ich sie an und fiel ihr nun auch um den Hals.
„Ich auch.", flüsterte sie in meine Haare.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top