20 Sarah
Justin spürte, wie sich sein Herz schmerzhaft in seiner Brust zusammenzog, als Abbys Augen ihn anflehten, bei ihr zu bleiben.
"Abby, das möchte ich. Gott, du hast keine Ahnung, wie sehr ich das möchte, aber -"
"Aber du liebst mich nicht?", fragte sie.
Das zittern in ihrer Stimme stand im Widerspruch mit dem nach oben gestreckten Kinn und dem wild entschlossenen Ausdruck in ihrem Gesicht. Justin hatte noch nie jemanden wie sie kennengelernt - niemanden, der so tapfer, kühn und mutig war wie sie. Sie hatte so viel riskiert, indem sie ihn gebeten hatte zu bleiben. Der Gedanke, dass sie nicht wusste, wie viel sie ihn bedeutete, verknotete seine Eingeweide.
"Ich habe mich in dich verliebt, seit dem du in mein Haus gezogen bist, Abs."
"Hast du?"
Er stieß einen Seufzer aus. "Ja. Für mich war das nie nur eine Affäre. Das hätte es sein sollen und ich wollte es auch, aber du hast mir immer zu viel bedeutet, als dass ich uns als etwas Beiläufiges betrachten könnte."
"Also ... also bleibst du?"
Die Hoffnung in ihrer Stimme und ihren Augen nagelte ihn an die Wand. Er fühlte sich gefangen zwischen seinem Ehrgeiz und dem Wunsch nach mehr und diesem Mädchen, nachdem er verrückt war.
"Ich will nicht, dass du denkst, ich hätte nicht darüber nachgedacht, denn das habe ich. Jeden Tag frage ich mich, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe, als Kale mich gefragt hat, ob ich die Stelle haben möchte. Aber Tatsache ist, dass ich diese Entscheidung getroffen habe. Ich habe Ja gesagt, und jetzt verlässt er sich darauf, dass ich das Team führe. Ich kann ihn nicht hängen lassen. Und ich weiß nicht, wie ich da wieder herauskomme."
Sie hörte auf, mit ihm zu tanzen, brachte sie beide zum Stehen und trat von ihm weg. "Kannst du da nicht raus oder willst du da nicht raus?"
Er seufzte. "So eindeutig ist das nicht."
"Bleib oder geh. Ich glaube, so einfach ist das."
"Abby ... Ich möchte eine richtige Beziehung mit dir haben, aber du verlangst von mir, dass ich meinen Job für uns aufgeben soll. Wenn du die Beförderung bekommen hättest ..."
"Ich würde nicht gehen."
Sie sagte es mit so viel Überzeugung, dass er ihr fast glaubte. Fast. Die Tatsache, dass sie bei ihm eingezogen war und so hart daran gearbeitet hatte, Kontakte zu knüpfen, obwohl sie das anfangs gar nicht gewollt hatte, deutete auf das genaue Gegenteil hin.
"Du würdest bleiben? Obwohl wir erst seit kurzer Zeit zusammen sind? Du würdest die Chance aufgeben, in deiner Karriere voranzukommen, um mit mir zusammen zu sein?"
"Ja. Ja, das würde ich. Du ..."
Es war offensichtlich, dass sie nach Worten rang, aber ihre Augen waren voll von allem, was sie zu sagen herausgefordert war. Sie glaubte ernsthaft, dass sie es tun würde.
"Du bist mein bester Freund, J.D. Ich bin in dich verliebt. Ich habe noch nie so gefühlt, und ich bin nicht sicher, ob ich es wieder tun werde. Wir haben etwas und ich will es nicht aufgeben. Ich habe schon einmal den Fehler gemacht, mich zurückzuziehen, nicht für das zu kämpfen, was ich will. Diesen Fehler werde ich nicht noch einmal machen. Nicht mit dir."
Sie kämpfte um ihn. Für sie. Dieser Gedanke war mehr als aufregend. Ein Rausch, der größer war, als alles andere, was er seit langem erlebt hatte, aber der Gedanke beunruhigte ihn auch, denn er war sich nicht so sicher wie sie. Eine Beförderung für eine Beziehung aufzugeben, die er erst seit ein paar Monaten führte, schien absurd. Auch wenn er verrückt nach Abby war, war er sich nicht sicher, ob er seinen Traum aufgeben sollte, das Team in Sydney zu leiten.
Er hatte sie kennengelernt. Er hatte sich mit ihnen angefreundet. Sie waren seine Verantwortung - eine, die er sich verdient hatte - und ihm gefiel der Gedanke nicht, sich dieser Verantwortung zu entziehen.
"Ich mag mein neues Team, Abs."
Das Licht und die Hoffnung, die noch vor einem Moment in ihren Augen geglänzt hatten, verschwanden und ließen ihm kalt und allein zurück.
"Du liebst mich also, aber willst trotzdem gehen." Sie lachte humorlos auf. "Ich muss zugeben, dass ich mir dieses Gespräch in meinem Kopf immer wieder ausgemalt habe, aber so habe ich es mir nicht vorgestellt."
Den Schmerz, den er in ihrer Stimme hören konnte, versetzte ihn einen Tritt in die Magengrube. So wie das ganze Gespräch. Er wollte nicht von ihr weggehen, von dieser Sache. Aber was waren ihre Möglichkeiten?
"Während ich weg war, habe ich viel Zeit damit verbracht, darüber nachzudenken, wie es wäre, es noch einmal mit einer Fernbeziehung zu versuchen.", sagte er.
Sie sah ihn an, ihr Blick verschlossen. Und es war dieser Blick, der ihn dazu brachte, den Schrecken, den er empfand, zu überwinden, als er die Option, die er so sehr fürchtete, auf den Tisch legte.
"Ich weiß nicht, wie wir funktionieren würden.", sagte er. "Ich weiß nicht, wie oft ich dich in einem Jahr besuchen könnte, oder umgekehrt. Und ich weiß auch nicht, ob und wann wir in der Lage sein werden, im selben Staat zu leben, aber wenn du bereit bist, es zu versuchen ..."
"Dann bist du es auch?", fragte sie ungläubig. "Du hast es beim letzten Mal gehasst und gesagt, du würdest es nie wieder tun."
"Ich habe es gehasst, was es mir und Sarah angetan hat, ja. Ich hasse, dass ich kurz davor gewesen war, ihr einen Heiratsantrag zu machen, dass wir sechs Jahre zusammen waren, und dass ein paar hundert Meilen zwischen uns alles so einfach zunichtegemacht hat."
"Und du glaubst, das würde uns auch passieren?"
"Manchmal ist es einfacher, die Dinge loszulassen, wenn die Zeit reif dafür ist, als zuzusehen, wie sie Stück für Stück auseinander brechen."
Sie schlang ihre Arme um sich. "Du hast kein Vertrauen in uns."
Er machte einen Schritt auf sie zu, aber sie wich einen Schritt zurück. "Du verstehst das nicht. Sarah und ich waren jahrelang zusammen. Wir waren auf der Highschool ein Paar. Wir hatten vor, den Rest unseres Lebens zusammen zu verbringen, und trotzdem haben wir es nicht geschafft, eine Fernbeziehung zu führen."
"Du bist noch nicht darüber hinweg.", sagte sie mit erstickter Stimme. "Du klammerst dich immer noch daran, wie diese Beziehung geendet ist, und hast Angst davor, dass es uns genauso ergehen könnte. Du würdest lieber von mir weggehen - von dem hier - als es zu versuchen, nicht wahr?"
"Nein. Vielleicht habe ich das bis jetzt, aber ich glaube nicht, dass ich gegangen wäre, ohne es vorzuschlagen."
Der Schmerz in ihrem Blick traf ihn mitten ins Herz. "Das ist mutig von dir."
"Ich habe Angst, Abby. Das gebe ich zu. Ich bin mir nicht sicher, ob wir das durchhalten. Aber ich will nicht, dass das hier aufhört. Ich will uns nicht aufgeben. Deshalb konnte ich über nichts anderes nachdenken, als darüber, wie es funktionieren soll, wenn ich gehe. Aber das ist deine erste richtige Beziehung. Ich habe das Gefühl, du verdienst so viel mehr als das. Du verdienst alles - jemanden, der in jeder Hinsicht für dich da ist."
"Warum lässt du mich nicht entscheiden, was ich verdiene, J.D?"
"Das werde ich, ich ... sie hat es gehasst."
Verständnis erfüllte ihre Augen. "Nur weil Sarah es gehasst hat, heißt das nicht, dass ich es auch tun werde. Ich weiß, dass eine Fernbeziehung schwierig ist, und ich weiß, dass es Zeiten geben wird, in denen ich mir wünschen werde, du wärst hier und umgekehrt, aber ich will es trotzdem versuchen. Ich will dich nicht gehen lassen. Und ich weiß, dass du kein Vertrauen in uns hast, aber ich schon. Ich glaube, wir können das schaffen."
Je länger sie dastand, desto sicherer wirkte sie. "Ich liebe dich und du liebst mich, können wir es bitte versuchen?"
Er dachte an die Telefonanrufe, die Besuche und die Vorfreude, die er mit Sarah empfunden hatte, als sie anfingen, in verschiedenen Staaten zu leben, gefolgt von der Erkenntnis, dass es für sie nicht funktionierte. Aber Abby war nicht Sarah. Abby hatte Vertrauen in sie. Und alles, worum sie bat, war eine Chance. Wenn sie glaubte, dass es mit ihnen funktionieren könnte, wie konnte er sie dann verlassen, ohne ihnen diese Chance zu geben, die sie verdienten? Er wollte genauso sehr eine echte Beziehung mit ihr wie sie.
"Bist du dir da sicher?", fragte er.
Sie nickte und sah zufrieden und überzeugt aus. "Ja."
"Es stört dich nicht, dass wir keine Pläne haben, in nächster Zeit ... im selben Staat zu leben?
Jetzt machte sie einen Schritt auf ihn zu. "Alles, was ich will, ist mehr Zeit mit dir."
Er widerstand kaum dem Drang, sie an sich zu ziehen und zu küssen, während ihre Augen in seine schauten.
"Und was ist, wenn es gut läuft? Würdest du dann nach Sydney ziehen oder würde ich zurück nach Hause kommen?"
"Das müssen wir nicht jetzt klären, J.D.", sagte sie und schlag ihre Arme um seinen Hals und lehnte sich an ihn. "Wenn die Dinge gut laufen, werden wir das schon regeln.
"Aber was ist mit der Tatsache, dass ich nicht so oft hier sein werde, um Teil dieser 'echten' Beziehung zu sein, die du möchtest?"
Sie grinste zu ihm hoch. "Wenn du hier bist, müssen wir das beste daraus machen."
"Ich liebe dich.", sagte er, schlang seine Arme um sie und senkte seinen Mund auf den ihren.
Erst als er Applaus und Pfiffe hörte, hielt er inne und zog sich zurück, weil ihm zu spät einfiel, wo sie waren. Abby hatte ihm ausdrücklich gesagt, sie wollte nicht, dass das Team von ihnen erfährt. Doch anstatt verärgert auszusehen, schaute Abby sich um, und ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. Ihre Beziehung war nicht länger ein Geheimnis, aber das schien sie nicht zu stören.
"Es ist auch an der Zeit, dass ihr beiden aufhört, so zu tun, als würdet ihr euch nicht gegenseitig das Hirn heraus vögeln.", sagte Jane und ging auf die beiden zu.
"Du wusstest es?", fragte Justin.
Jane verdrehte die Augen als Antwort auf die Frage. "Das ganze Büro wusste es, J.D."
Es hatte kleine Versehen gegeben. Sogar mehrere. Aber er war trotzdem überrascht zu hören, dass es so offensichtlich war.
Er schaute zu Abby. "Ich schwöre, ich habe versucht, diskret zu sein."
"Aber es ist so offensichtlich, dass du verrückt nach ihr bist.", sagte Jane und grinste. "Das ist er schon seit langem, nicht wahr, Abby?"
"Jemand hätte es mir sagen können.", sagte Abby zu Jane. "Ich war mir eine Zeit lang nicht so sicher."
"Dann lass es uns jetzt klarstellen.", sagte Justin, nahm ihr Kinn zwischen seine Finger und neigte ihr Gesicht nach oben, damit sie ihm ansah. "Ich bin verrückt nach dir, Abby Gillis."
Dann beugte er sich vor und küsste sie erneut, und alles in ihm schmolz dahin, als ihre Lippen unter seinen nachgaben und ihn einlas gewährten. Er war glücklich, dass Abby in seinen Armen lag, dass alle wussten, dass sie zusammen waren und dass sie eine Beziehung versuchen würden. Er hoffte nur, dass das, was sie hatten, genug war - dass er genug war, um ihre Beziehung aufrechtzuerhalten, wenn sie kalte Nächte und Entfernungen zwischen ihnen ausbreiten und würden, und er nicht mehr da war, um sie zu küssen, wie er es jetzt tat.
****
Abby schlug ein Auge auf und fand Justin unter sich, der bereits wach war. Erst als sie das Klingeln an der Tür hörte, wurde ihr klar, was sie geweckt hatte. "Wer ist das und warum sind sie so früh hier?", brummte sie.
Justins Brust grummelte vor Lachen unter ihrer Wange. "Es ist bereits Mittag, Abs."
"Das ist noch früh, wenn wir erst um 5 Uhr morgens schlafen gegangen sind."
"Ich hole immer noch die Zeit nach, in der ich von dir getrennt war."
"Mmm.", stimmte sie zu, und die Erinnerung daran, dass er sie liebte und so viel Zeit wie möglich mit ihr verbringen wollte, ließ sie vor Glück fast explodieren. "Ich hoffe, es ist jedes Mal so, wenn du nach Melbourne zurückkommst."
"Oder wenn du nach Sydney kommst. Es wird so sein.", sagte er und küsste sie zärtlich, was sie erregte.
Die Türklingel ertönte erneut, und widerwillig begann sie aus dem Bett zu klettern. "Geh nicht weg.", sagte sie zu ihm. "Ich bin noch nicht fertig mit dir."
Abby konnte ihr Glück kaum fassen, als sie in einen Morgenmantel schlüpfte und zur Haustür ging. Endlich war alles perfekt. Okay, nicht perfekt. Justin ging immer noch. Im März würden mehr als 800 Kilometer zwischen ihnen liegen, aber er liebte sie. Außerdem war er bereit, seine Zweifel beiseite zu schieben und ihre Beziehung fortzusetzen, wenn er in einen anderen Staat zog. Das bewies doch, dass er wirklich mit ihr zusammen sein wollte, oder nicht?
Sie lächelte, als sie die Tür öffnete. Als sie jedoch sah, wer dort stand, war die ganze Aufregung und Begeisterung, die sie empfunden hatte, verflogen.
"Du musst Abby sein."
"Ja."
Das war das einzige Wort, das sie herausbekam, als sie Justins schöne Ex-Freundin ansah. Sarah war in natura noch viel schöner als auf den Fotos, die Abby auf Justins Handy gesehen hatte. Ihr erdbeer-blondes Haar hing ihr bis zur Hälfte des Rückens hinunter, und ihre blauen Augen schräg und leicht exotisch, mit einem winzigen Hauch von Violett darin. Sie schien nicht viel Make-up zu tragen, aber die Wimperntusche und der Eyeliner ließen ihre Augen hervorstechen.
Sarahs Stiefel, Jeans und tief ausgeschnittene Bluse waren teuer und stilvoll, und Abby wünschte sich, sich hätte sich wenigstens mit der Hand durch die Haare gestrichen, bevor sie die Tür öffnete. Denn so wollte sie Justins Ex nicht kennenlernen. Nicht, dass sie Justins Ex jemals kennenlernen wollte. Aber zerzaust und verschlafen hätte sie nicht ausgesehen, wenn sie es hätte planen können.
Was hatte Sarah hier zu suchen? Als Justin gesagt hatte, dass er nicht zu der Geburtstagsparty von Sarahs Mutter gehen würde, war sie erleichtert gewesen, dass die beiden sich nicht sehen würden. Das Letzte, womit sie gerechnet hatte, war, dass Sarah am nächsten Tag vor der Tür stand und ihn sehen wollte.
"Darf ich hereinkommen?"
Abby blickte in Richtung Schlafzimmer und schluckte. Justin wartete darauf, dass sie zurückkam. Im Idealfall sollte der Rest des Tages ein Sex-Fest werden. Justins Ex an der Türschwelle machte dem allerdings einen Strich durch die Rechnung. Gab es eine Chance, dass Sarah sich umdrehen und gehen würde? Denn seit Justin gestern Abend gesagt hatte, dass er sie liebte, hatte Abby nicht mehr an Sarah gedacht. Und doch war sie hier.
"Justin ist noch im Bett."
"Kannst du ihn holen? Bitte. Ich muss dringend mit ihm sprechen."
Widerwillig nickte Abby. "Ich sag ihm Bescheid, dass du hier bist."
"Danke." Sarah schob sich an ihr vorbei. "Ich warte im Wohnzimmer."
Offensichtlich war Sarah schon einmal hier gewesen, denn sie kannte sich im Haus aus.
Mit dem Gefühl, als würde ein zwanzig Kilo schweres Gewicht auf ihrer Brust sitzen, zwang Abby ihre Füße, sich in Justins Richtung zu bewegen. Er runzelte die Stirn in dem Augenblick in dem er sie sah. Eindeutig standen ihr ihre Gedanken und ihre Aufgewühltheit ins Gesicht geschrieben. Gestern Abend hatte sie ihn noch angefleht, es mit einer Fernbeziehung zu versuchen, aber wie würde er sich nach seiner Zusage fühlen, wenn er Sarah jetzt sah?
Ihre Anwesenheit würde ihn an die gescheiterte Beziehung erinnern, die aufgrund der großen Entfernung zwischen ihnen gescheitert war, und sie würde ihn auch daran erinnern, warum er überhaupt nach Sydney hatte ziehen wollen.
"Was ist los?", fragte er, sobald er sie sah. "Wer war das?"
"Sarah ist hier. Sie will mit dir reden."
Sie musterte sein Gesicht und versuchte herauszufinden, was er dachte. Zuerst schien nur Schock auf seinen Zügen zu stehen. Dann machte sich überraschenderweise Verärgerung breit.
"Hat sie gesagt, worum es geht?", fragte er und musterte sie genau.
"Nein."
"Ich nehme an, ich sollte besser nachsehen, was sie will."
Es klang eher wie eine Frage, und obwohl ein Gespräch mit Sarah das Letzte war, was sie von Justin wollte, nickte sie. Ihr Blick schweifte über ihn, als er widerwillig aus dem Bett kletterte, und betrachtete sein hübsches Gesicht, sein zerzaustes Haar und seinen durchtrainierten Körper. Gott sei Dank hatte er Jeans und ein T-Shirt angezogen, denn Sarah musste nicht daran erinnert werden, was sie losgelassen hatte. Abby war besorgt über die Beweggründe von Sarah, hier zu sein.
Als ob er die stille Unruhe, die sie plagte, spürte, ging Justin zu ihr hinüber, hob ihren Kopf an und küsste sie heiß und innig. Als sie in seinen Armen zu zittern begann und versuchte, ihn näher an sich zu ziehen, um den Kuss zu vertiefen, löste er sich von ihr.
"Behalte den Gedanken. Ich bin gleich wieder da."
Nachdem er das Zimmer verlassen hatte, kostete es sie all ihre Kraft, ihm nicht ins Wohnzimmer zu folgen oder durch den Flur zu schleichen, um ihr Gespräch zu belauschen. Wie sich herausstellte, brauchte sie sich auch gar nicht zu bewegen. Das Haus war so still, dass Abby ohnehin alles hören konnte. Zumindest konnte sie Sarahs Begrüßung hören - die Tiefe der Gefühle in ihrer Stimme, als Abby sich vorstellte, wie sie Justin umarmte.
"Du hättest gestern Abend da sein sollen, J.D. Mum hat dich vermisst und gefragt, warum du nicht da warst. Du weißt, dass du der Lichtblick auf jeder Party bist."
Egal, wie sehr sie sich anstrengte, um seine Antwort zu hören, Abby konnte sie nicht genau verstehen. Justin und Sarah verdienten ihre Privatsphäre. Das wusste sie. Aber sie konnte nicht widerstehen, ein paar Schritte aus dem Schlafzimmer in den Flur zu gehen, um zu sehen, ob sie besser hören konnte.
"Ich habe dir doch gesagt, Abby hatte gestern Abend auch ihre Party. Es tut mir leid, ich konnte einfach nicht kommen."
"Also sind du und Abby immer noch .... zusammen?", fragte Sarah angespannt. "Ich dachte, die Beförderung wäre schon bekannt gegeben worden."
"Ist sie auch."
"Ist sie? Warum hast du nichts gesagt? Hast du gewonnen oder sie?"
"Ich habe gewonnen."
"Du ziehst nach Sydney und du hast mir nichts davon gesagt?"
Der Schmerz ins Sarahs Stimme war offensichtlich und Abby fühlte sich fast schlecht für sie.
"Ich war beschäftigt, Sarah.", erwiderte Justin. "Es gab eine Menge zu tun und -"
"Und du bist immer noch mit ihr zusammen."
"Ja."
"Hat sie nicht ...? Wollte denn keiner von euch beiden Schluss machen?", fragte sie verbittert. "Was passiert, wenn du gehst?"
"Wir werden es mit einer Fernbeziehung versuchen."
Sarahs Lachen war frei von Wärme und jeden Humor. "Ist das dein Ernst? Weißt du nicht mehr, was das mit uns gemacht hat? Du hast es gehasst."
"Du hast es gehasst. Was ich gehasst habe, war, wie sehr dich die Entfernung von allem abzulenken schien, was wir geplant hatten."
"Das stimmt, Justin. Wir hatten Pläne. Wir wollten das Haus in der Vorstadt kaufen, drei Kinder haben, genau wie deine Eltern, und glücklich bis ans Ende unserer Tage leben. Oh Gott. Du wolltest die Beförderung nur, weil du mit mir zusammen sein wolltest. Wir waren dazu bestimmt, zusammen zu sein. Du bist meine Zukunft und ich bin deine. Ich dachte, deine Entscheidung, es mit Abby zu versuchen, würde dich daran erinnern - dass du merken würdest, dass zwischen euch beiden etwas fehlt."
"Es fehlt nicht zwischen Abby und mir, Sarah. Das ist das einzige, was mir klar geworden ist. Ich bin in sie verliebt."
"Das glaube ich nicht. Ich glaube nicht, dass du wirklich eine Zukunft mit ihr siehst, denn wenn du das tätest, würdest du garantiert nicht in einen anderen Bundesstaat ziehen und sie zurücklassen. Der Justin, den ich kannte, hätte alles getan, um bei der Frau zu sein, die er liebt."
"Ja, nun, der Mann, den du kanntest, ist weg. Vielleicht war die Art und Weise, wie ich mich für dich verbogen habe, immer zu viel. Ich habe dich immer an die erste Stelle gesetzt. Bei allem. Du wolltest umziehen, und ich war bereit, mit dir umzuziehen. Du wolltest, dass ich etwas tue, und ich habe es immer getan, selbst als ich mir nicht sicher war, ob ich es wirklich wollte, habe ich unsere Beziehung auf Eis gelegt. Vielleicht stelle ich mich jetzt an die erste Stelle."
Eine dicke, angespannte Stille erfüllte das Haus. Die beiden hatten sich so laut unterhalten, dass sie wissen mussten, dass sie jedes Wort gehört hatte. Abby schluckte, als sie sich an die Wand lehnte und versuchte, ihre Tränen hinunterzuschlucken. Sie atmete tief und zitternd ein und versuchte, nicht dem Wunsch nachzugeben, auf den Boden zu sinken und zusammenzubrechen. Justin liebte sie, aber irgendwo auf dem Weg, in seiner Beziehung zu Sarah, war er ein wenig gebrochen worden.
Aufgrund der Dinge, die Tony und Justin in den letzten Monaten gesagt hatten, hatte Abby sich gelegentlich gefragt, ob Justins Beziehung zu Sarah einseitig war. Nicht, das Sarah Justin nicht geliebt hätte, aber er hatte viel härter an ihrer Beziehung gearbeitet als sie es getan hatte. Er hatte mehr gegeben, als er bekommen hatte. Und was er gerade gesagt hatte, bestätigte es.
Jeder Mensch hatte eine Belastungsgrenze. Justin hatte seine erreicht. Und jetzt? Jetzt kümmerte er sich zuerst um sich selbst.
Abby konnte es ihn nicht verdenken. Der Justin, der mit Sarah ausgegangen war - derjenige, der sich für die Liebe seines Lebens verrenkt hatte - hatte erkannt, dass die Liebe einfach nicht dem Ideal entsprach. Aufopferung und Kompromisse brachten ihn nicht weiter. Kein Wunder, dass er so zerrissen gewirkt hatte, als sie ihn gebeten hatte, zu bleiben. Es war nicht so, dass er sie nicht liebte. Es war, dass er nicht noch einmal opfern wollte, was er wollte.
Und obwohl sie sich verzweifelt - egoistisch - wünschte, er würde sie an erste Stelle setzen, verstand sie, dass es für Justin nicht gut wäre, das zu tun. Er musste nach Sydney gehen. Wenn er es nicht tat, würde er es vielleicht für immer bereuen. Es war falsch von ihr gewesen, ihn zu bitten, zu bleiben. Nicht falsch, um ihn zu kämpfen, aber falsch, ihn vorzuschlagen, dass er ihre Bedürfnisse über seine stellen sollte.
Nur weil sie geblieben wäre, wenn es andersherum gewesen wäre, bedeutete das nichts. Sie waren unterschiedliche Menschen und hatten unterschiedliche Bedürfnisse. Und Justin war schon einmal von der Liebe verbrannt worden. Er musste erkennen, dass Liebe nicht immer mit Opfern und Kompromissen zu tun hatte. Ja, es musste Rücksicht und Respekt geben, aber das war nicht das Einzige. Sie musste ihn klarmachen, dass sie mit einer Fernbeziehung einverstanden war. Sie würde alles nehmen, was sie von ihm bekommen konnte.
"Ich war egoistisch, J.D.", sagte Sarah leise, mit gebrochener Stimme. "Da hast du recht. In all den Jahren, die wir zusammen waren, habe ich uns als selbstverständlich angesehen. Ich habe dich nicht an die erste Stelle gesetzt und mir zu viel genommen. Ich war jung und habe Fehler gemacht, z.b. habe ich nicht für dich gekämpft. Für uns. Aber jetzt bin ich hier. Ich bin jetzt bereit, zu kämpfen."
Justin stieß einen lauten Seufzer aus. "Es ist einfach zu spät, Sarah."
"Also ... das war's? Es ist aus mit uns?"
"Ich glaube, es war schon lange vorbei. Ich habe es nur bis vor kruzem nicht bemerkt."
Es gab ein lautes Schluchzen und dann: "Beantworte mir nur eine Sache: Ist es das Gleiche? Ist es mit ihr dasselbe, wie es mit uns war?"
Abby hielt den Atem an und wartete.
"Abby und ich ... was wir haben, ist nicht dasselbe, nein. Es ist anders. Aber es ist ein guter Unterschied. Sie ist ... ich bin verrückt nach ihr, Sar."
Ein erneutes Schluchzen. "Ich sollte gehen."
"Nein, du bist aufgewühlt. Setz dich. Ich mache dir eine Tasse Tee."
"Danke, aber ich will gehen."
Sarah verließ das Wohnzimmer so schnell, dass Abby keine Zeit hatte, zurück ins Schlafzimmer zu gehen. Sarah starrte sie einen Moment lang mit Tränen in den Augen an. Sie öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder, bevor sie schnell zur Tür ging.
Abby schaute zu Justin, als er aus dem Wohnzimmer kam. Wenn er überrascht war, sie dort stehen zu sehen, ließ er es sich nicht anmerken. Er hielt ihren Blick einen Moment lang, bevor er Sarah zur Tür folgte
*****
Justin sah zu, wie Sarah in ihr Auto stieg und wegfuhr. Sie sollte nicht fahren, wenn sie so aufgebracht war, aber er konnte sie nicht zwingen zu bleiben. Nicht, wenn das Bleiben die Dinge noch schlimmer machen könnte, als sie ohnehin schon waren. Zweifellos hatte sie nicht erwartet, dass ihr Gespräch so verlaufen würde.
Das hatte er übrigens auch nicht.
"Vielleicht stelle ich mich jetzt an die erste Stelle."
Wann war er so egoistisch geworden? All die Ausreden, die er sich nach dieser Bemerkung zurechtgelegt hatte, ließen ihn nicht weniger beschämt sein. Der Justin von früher hätte die Beförderung sofort aufgegeben. Letzte Nacht hatte Abby ihn gebeten, bei ihr zu bleiben. Doch obwohl er sie liebte und eine Beziehung mit ihr wollte, wollte er die Beförderung nicht aufgeben. Er wollte dieses Mal keine Opfer bringen.
Aber wie war das Abby gegenüber fair? Warum war er bereit, seine Beziehung dem Stress eines Umzugs auszusetzen, wenn es andere Möglichkeiten gab?
"Du hast eine Scheißangst. Ich weiß, dass das, was mit Sarah passiert ist, dich sehr mitgenommen hat, aber nur weil die Dinge mit Sarah schiefgelaufen sind, heißt das nicht, dass das Gleiche mit Abby passieren wird."
Vielleicht war es richtig, was Tony gestern Abend gesagt hatte. Irgendwann, nach der Trennung von Sarah, hatte sich Justin in einen zynischen, abgestumpften Arsch verwandelt, der sich selbst über andere stellte. Abby hatte etwas Besseres als das verdient.
"Abs, wo bist du?", rief er, als er die Türe schloss.
"Hier drinnen.", rief sie aus dem Schlafzimmer.
Sie saß aufrecht in seinem Bett, den Rücken an ein Kissen gelehnt. Ihr Haar war ein einziges Durcheinander, aber sie sah unglaublich schön aus.
Er setzte sich ebenfalls auf das Bett. "Geht es dir gut?"
"Ja, mir geht es gut. Und dir?"
"Es tut mir leid, dass du das alles hören musstest."
"Ich sollte mich wohl entschuldigen, dass ich gelauscht habe."
Er lächelte und hob eine Augenbraue. "Aber das wirst du nicht?"
Sie errötete und er lachte. Ihre Verlegenheit war hinreißend. So liebenswert. Genau wie der Rest von ihr. Sie hatte ihn von Anfang an in ihren Bann gezogen. Zuerst, weil sie eine distanzierte Kollegin war, dann als seine Rivalin, dann als jemand, der seine Hilfe brauchte, - jemand, der sein Freund geworden war und ihm eine Seite von sich gezeigt hatte, die sie sonst niemanden gezeigt hatte. Und jetzt war sie seine Geliebte. Seine Freundin. Sie war schön, sexy und umwerfend, und er war so froh, dass er den Wunsch nach einer Affäre mit ihr nachgegeben hatte.
Einst war Sarah die Liebe seines Lebens gewesen. Die Tatsache, dass ihr Besuch heute Morgen eine unerwünschte Unterbrechung seines Vormittags mit Abby war, zeigte jedoch, wie sehr sich seine Gefühle für seine Ex geändert hatten. Sarah würde immer einen Platz in seinem Herzen haben. Sie würde immer seine erste Liebe sein. Aber alle romantischen Gefühle, die er für sie hatte, waren verschwunden.
"Justin, ich weiß, dass die Fernbeziehung zwischen dir und Sarah nicht funktioniert hat.", begann Abby leise. "Aber ich glaube wirklich, dass wir es schaffen können. Es war falsch von mir, dich zu bitten, zu bleiben ..."
"Nein. Du hattest gar nicht so Unrecht. Ich hätte ohne zu zögern Ja sagen sollen. Ich liebe dich. Du bedeutest mir mehr als eine Beförderung."
Sie lächelte ihn an. "Justin, du brauchst dich nicht zu entscheiden. Du kannst uns beide haben. Wenn du die Beförderung willst, nimm sie."
"Ich brauche sie nicht."
"Aber du willst sie doch, oder nicht? Bitte sei ehrlich."
Er schüttelte den Kopf. "Ich weiß nicht einmal, warum ich sie will. Zuerst wollte ich sie, weil es eine Herausforderung und ein Schritt nach vorne war - einer, der mich näher zu Sarah bringen würde. Und dann, ich schäme mich, es zuzugeben, wollte ich sie, weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, dass du mich geschlagen hättest, und gegangen wärst."
"Und jetzt?"
"Und jetzt will ich sie, weil ... weil ich dafür gearbeitet habe. Ich habe dafür härter gearbeitet als für alles andere. Dinge sind mir oft leicht gefallen, Abs, aber das hier nicht. Und jetzt, da ich das Team getroffen habe, will ich es nicht enttäuschen. Ich habe das Gefühl, dass ich dort etwas zu bieten habe, und es wäre eine Herausforderung."
Sie nickte. "Dann musst du sie annehmen. Wir werden das schon schaffen, J.D.. Du wirst sehen. Wir werden es schaffen."
Das war die Sache mit Abby. Sarah hatte ihm gesagt, dass sie jetzt bereit war, um ihn zu kämpfen, aber Abby war von Anfang an bereit gewesen, um ihn zu kämpfen. Und anstatt dazusitzen und ihm zu sagen, dass er ein egoistischer Arsch sei, hatte sie ihm gesagt, dass es ihnen gut gehen würde - dass er gehen sollte und dass er es annehmen musste. Sie stand hundert Prozent hinter ihm.
Wenn er ihr jetzt zuhörte und den ernsten Ausdruck auf ihrem Gesicht sah, war er zuversichtlicher als je zuvor, dass sie eine Fernbeziehung überleben würden, wenn sie es versuchten. Abby war schließlich eine Kämpferin. Eine Überlebenskünstlerin. Sarah hatte nie hart für etwas arbeiten müssen, aber Abby? Abby war es gewohnt zu kämpfen, und sie gab nicht auf, wenn es schwierig wurde. Sie blieb hartnäckig, immer. Angepasst.
Aber das war es ja gerade. Warum sollte sie so hart kämpfen, ausharren und sich die ganze verdammte Zeit anpassen müssen? Sie verdiente eine Pause. Sie verdiente einen Mann, für den sie an erster Stelle stand. So sehr er auch nach Sydney gehen wollte, er würde die Stelle aufgeben. Wenn James jemand anderen finden konnte, würd er bleiben. Es war nur fair, dass Abby endlich jemanden hatte, der alles für sie aufgeben würde, und er wollte dieser Mann sein.
"Ich glaube an dich und mich, Abs.", begann er, kletterte weiter zu ihr aufs Bett und hielt seine Arme hoch, damit sie sich darunter kuscheln und an seine Seite drücken konnte. "Und du hast recht. Es wird uns gut gehen. Besser als gut."
Deshalb wollte er trotz seiner Zweifel gleich morgen früh in James Kales Büro gehen und fragen, ob es zu spät war, um auszusteigen.
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