14 Danach
"Abby, warte."
Justin streckte die Hand aus, um sie am Weggehen zu hindern. Seine Schuldgefühle drohten ihn zu erdrücken, als er den niedergeschlagenen Gesichtsausdruck seiner Mitbewohnerin erblickte. Er hatte gewusst, dass es ein großer Fehler sein würde, mit ihr zu schlafen, aber er hätte nicht gedacht, dass er so schnell Recht behalten würde. Sarahs Timing hätte nicht schlechter sein können.
Er lehnte den eingehenden Anruf mit der freien Hand ab und griff dann über Abby hinweg, um das Handy zurück auf den Nachtisch zu legen. Er hatte Sarah neulich gesagt, dass er heute Abend keine Zeit haben würde zu telefonieren, aber seine Ex rief wahrscheinlich an, weil Chloe ihr gerade in aller Ausführlichkeit erzählt hatte, was Justin heute Abend alles falsch gemacht hatte.
Er wollte sauer darüber sein, dass Sarah anrief und ihn über jede Kleinigkeit ausfragte, die ihre Freunde über sein Tun erzählten. Seine Angelegenheiten sollten seine Angelegenheiten bleiben, bis sie wieder im selben Staat lebten und wieder zusammen waren. Das war ihre Abmachung. Leider konnte er nicht sauer auf sie sein. Sie hatte freimütig zugegeben, dass sie sich von seiner neuen Mitbewohnerin bedroht fühlte, und er hatte ihr gesagt, sie müsse sich keine Sorgen machen. Er hatte sie angelogen.
Wie sollte er jetzt die Kurve kriegen und ihre sagen, dass er seine Verbindung zu Abby verleugnet hatte, seit sie bei ihm eingezogen war? Wie sollte er Sarah erzählen, was heute Abend passiert war? Sie würde am Boden zerstört sein, vor allem, wenn er ihr sagte, dass er durch das Schlafen mit Abby seine Gefühle für sie infrage gestellt hatte.
Sex war für ihn noch nie so gewesen - nicht einmal mit Sarah. Die Kombination aus ihrer Freundschaft und dem gegenseitigen Verlangen, das er und Abby füreinander empfanden, hatte zu einer Chemie geführt, die so intensiv und aufregend war, dass sie jede andere Erfahrung der gleichen Art in den Schatten stellte. Wie konnte er diese Gefühle für Abby haben und trotzdem in Sarah verliebt sein? Das konnte er nicht. Irgendwann hatte er aufgehört, seine Ex zu lieben.
Der Gedanke machte ihn sprachlos. Wie war das passiert, und warum wurde ihm das erst jetzt klar?
"Du willst sie sicher zurückrufen. Ich bin gleich weg.", sagte Abby und schüttelte seine Hand ab.
"Abby -"
"Da draußen findet eine Party statt, Justin. Eine, bei der wir die Gastgeber sind. Ich sollte anwesend sein.", teilte sie ihm mit und zog ich eilig ihre Unterwäsche wieder an.
Trotz der angespannten und schweren Stimmung zwischen ihnen konnte er nicht widerstehen, seinen Blick über ihren Körper wandern zu lassen, als er sich aufsetzte. Er wusste bereits, dass sie sich in Form hielt, aber das war das erste Mal, dass er den Beweis so deutlich sah. Ihr Körper war phänomenal. Er liebte es, wie empfindlich ihre Schulter war. Und er liebte es, wie sie reagiert hatte, als er ihre Brüste berührt hatte.
Sein Schwanz zuckte bei der Erinnerung daran, wie sie geschmeckt und sich angefühlt hatten, aber er erinnerte sich schnell daran, dass einmal miteinander zu schlafen die Dinge schon ordentlich durcheinander gebracht hatte. Zweimal miteinander zu schlafen, könnte katastrophal sein.
"Langsam, Abby.", sagte er, stand auf und zog seine Boxershorts an. "Wir müssen reden, meinst du nicht?"
"Da gibt es nichts zu reden.", antwortete sie und hielt ihren trägerlosen BH vorne fest, während sie versuchte, ihn hinten mit einer Hand zu schließen. Als er auseinandersprang, fluchte sie.
"Lass mich.", sagte er und deutete ihr an sich umzudrehen, damit er ihn für sie schließen konnte.
"Danke.", murmelte sie.
Er drehte sie so, dass sie ihm wieder zugewandt war, schob ein Finger unter ihr Kinn, um ihr Gesicht nach oben zu neigen und zwang sie so, Augenkontakt herzustellen. "Wir haben viel zu bereden, Abby."
"Justin, bitte." Ihr gequälter Gesichtsausdruck zerriss ihn förmlich. Es war, als ob es schmerzhaft war, ihm so nahe zu sein. "Du solltest Sarah zurückrufen."
"Abby -"
"Ich bin hier weg, sobald ich mein Kleid an bekommen habe. Also bitte, lass es einfach."
Ihre Stimme brach bei dem letzten Wort und obwohl sie ihr Gesicht von ihm abwandte, sah er die Tränen in ihren Augen glänzen. Er fühlte sich völlig überfordert mit dem, was hier zwischen ihnen geschah. Und wenn er sich schon überfordert fühlte, mochte er sich gar nicht vorstellen, wie sie sich gerade fühlen musste.
Abby hatte sein neun Jahre abstinent gelebt, und er wusste, dass es für sie eine große Sache war, dass sie miteinander geschlafen hatten. Für ihn war es das auch. Mit seiner Mitbewohnerin zu schlafen, hatte seine ganze Welt auf den Kopf gestellt. Jetzt war er so verloren, verwirrt und hin- und hergerissen, dass er nicht wusste, was er sagen oder tun sollte.
Die Beförderung bei der Arbeit war dazu bestimmt, sie zu trennen. Wie konnten sie eine Beziehung eingehen, wenn sie wussten, dass sie in ein paar Monaten enden musste? Er war noch nie ein Freund von Affären oder Freundschaften mit gewissen Vorzügen gewesen. Das war meist zu chaotisch.
Außerdem wusste er nicht mehr, was er für Sarah empfand. Selbst wenn er vermutete, dass er nicht mehr in seine Ex verliebt war, wäre es nicht fair, sich jetzt auf etwas mit Abby einzulassen. Seine Mitbewohnerin hatte es verdient zu wissen, dass sie nicht nur eine Art Lückenbüßerin war. Deshalb fühlte er sich hoffnungslos unfähig, mit dieser Situation umzugehen.
Er wusste nicht, wie er sich von ihr lösen sollte, nach dem, was sie gerade miteinander geteilt hatten, und doch hatte er das Gefühl, dass dies die einzige Möglichkeit war. Seine Brust schmerzte bei dem Gedanken.
Der letzte Kerl, mit dem sie geschlafen hatte, hatte ihr das Herz herausgerissen und im Moment fühlte er sich nicht viel besser als dieses Arschloch. Er hatte ihr bereits wehgetan, indem er so auf Sarahs Anruf reagiert hatte, wie er es getan hatte. Er wollte ihr heute Abend nicht noch mehr Schmerzen zufügen.
"Ich rufe Sarah nicht zurück, und du gehst nicht. Nicht so."
"Nicht so?", wiederholte sie. "Wir wissen beide, was das war, Justin. Du musst nicht so tun, als wäre es etwas, was es nicht ist."
"Und was war es, Abby?", fragte er. "Nur damit wir auf derselben Seite sind."
"Heute Abend waren ... nur zwei Freunde, die etwas Spaß ohne irgendwelche Verpflichtungen hatten. Den darfst du doch haben, oder? Ich weiß, worauf ich mich eingelassen habe. Ich wusste, dass es einfach nur Spaß sein würde, und das war es auch. Ich danke dir."
Sie spielte die Sache herunter, als wäre es nichts gewesen, und ließ ihn damit vom Haken. Ihre leichte Zurückweisung wäre viel überzeugender gewesen, wenn sie nicht so unglücklich ausgesehen hätte. Sie dachte offensichtlich, dass er das, was zwischen ihnen geschehen war, ignorieren wollte. In gewisser Weise hatte sie recht, aber er konnte sie nicht in den Glauben lassen, dass es ihn nichts bedeutet hätte.
"Es war mehr als nur Spaß für mich, Abby."
"Du hast es selbst gesagt, Justin. Daraus kann nichts werden."
"Ja, das habe ich. Aber das heißt nicht, dass heute Abend nichts passiert ist, und ich denke, wir müssen uns überlegen, wie wir damit umgehen."
"Wir müssen uns nicht damit befassen. Es war sehr ... schön. Aber jetzt ist es vorbei und die Dinge sollten wieder so werden, wie sie waren."
"Glaubst du wirklich, wir können einfach wieder 'nur Freunde' sein, ohne dass es Probleme gibt?", fragte er ungläubig.
In ihrem Gesicht flackerte mehr als nur ein Hauch Unsicherheit auf, als sie antwortete: "Absolut. Auf diese Weise können wir wie gewohnt weitermachen. Keiner wird verletzt."
Dafür war es zu spät. Er hatte ihr bereits wehgetan und jetzt versuchte sie, ihr Gesicht zu wahren. Nachdem er sich den ganzen Abend lang wie ein Arschloch benommen hatte, indem er sie überall angefasst und die Grenzen zwischen ihnen überschritten hatte, konnte er ihr das nicht nehmen. Das war er ihr schuldig. Sie wollte ihren Stolz. Den konnte er ihr geben.
Er schluckte schwer und beschloss zu ignorieren, wie sich sein Herz bei dem Gedanken, dass er sie noch mehr verletzen würde, wenn er sich einfach so gehen ließ, verknotete. "Wenn du das als Spaß zwischen zwei Freunden abtun willst, dann werden wir das so tun."
Sie nickte, obwohl ihm nicht entging, wie sie bei dem Wort Freunde zusammenzuckte. "Das ist es. Also musst du dir keine Sorgen darüber machen zu versuchen, das als etwas anderes auszugeben. Ich bin ein großes Mädchen und kann auf mich selbst aufpassen."
Er wusste, dass sie auf sich selbst aufpassen konnte. Sie hatte sich ihr ganzes Leben lang um sich selbst gekümmert. Wärme breitete sich in seiner Brust aus, berührte sein Herz und drückte es sanft zusammen, als er daran dachte, wie stark und unabhängig sie war. Er bewunderte die Art und Weise, wie sie die Unsicherheiten und den Schmerz aus ihrer Vergangenheit überwunden und wieder zu leben begonnen hatte. Sie hatte ihren Schutzpanzer vor ihm abgelegt; sie hatte ihn hereingelassen, und er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sie ihn wegstoßen könnte, nachdem er es heute Abend vermasselt und sie verletzt hatte.
"Tut mir leid, dass ich mich vorhin so blöd benommen habe."
"Du musst nicht -"
"Als wir Billard gespielt haben.", stellte er klar, weil er nicht wollte, dass sie dachte, dass er sich dafür entschuldigte, weil er mit ihr geschlafen hatte.
Sie schenkte ihm ein kleines Lächeln. "Mach dir nichts draus. Es ist alles gut ausgegangen."
"Ich bin froh, dass du das so siehst."
Eigentlich glaubte er, dass der heutige Abend nicht schlimmer enden konnte. er wollte sie wirklich nicht gehen lassen. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als sie in den Arm zu nehmen, sie zu küssen und ihr zu sagen, wie sehr er sie mochte. Aber das konnte er unter diesen Umständen nicht. Es wäre nicht fair.
Sie schenkte ihm ein wässriges Lächeln. "Der heutige Abend hat immerhin neun Jahre Abstinenz wettgemacht."
Er strich mit der Daumenkuppe über ihr Kinn. "Du hast meine Welt gerockt, Gillis. Das musst du wissen."
"Dito." Plötzlich stellte sie sich auf ihre Zehenspitzen, beugte sich vor und gab ihm einen sanften Kuss auf die Wange. "Danke, dass du mir gezeigt hast, wie es sein sollte."
Ohne nachzudenken, schlang er seine Arme um sie und drückte sie fest an sich, wobei er sein Kinn auf ihren Kopf legte. Es war ihm egal, dass sie spüren konnte, wie er erneut hart wurde. Einen Moment lang blieb sie in seinen Armen, dann löste sie sich von ihm und hob ihr zerknittertes Partykleid auf. Sie zog es über den Kopf und schloss den Reißverschluss, während er sein Hemd und seine Hose wieder anzog.
Abby hatte ihre Finger bereits am Türgriff, bereit, die Tür zu öffnen, als er seine Hand über ihre legte, um sie aufzuhalten.
Er schüttelte den Kopf. "Wenn du so rausgehst, weiß jeder genau, was wir gemacht haben.", flüsterte er.
Verständnis flackerte in ihren Augen auf. "Ich kann nicht hier drin bleiben. Es gibt keinen Spiegel, um mich wieder herzurichten."
"Ich werde zuerst rausgehen.", teilte er ihr mit. "Und sicherstellen, dass der Flur leer ist."
Sie nickte. Er zog seine Schuhe wieder an und fuhr sich ein paar Mal mit der Hand durch die Haare. Abby wischte einen Fleck Lippenstift aus seinem Gesicht und dann ging er auf dem Flur. Er war leer.
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass das Bad frei war und sich noch einmal im Spiegel angeschaut hatte, ging er zurück zu Abby, um ihr zu sagen, dass sie das Schlafzimmer verlassen konnte.
"Geh zurück auf die Party, Justin. Mir geht es gut.", wies sie ihn an, als er zögerte, zu gehen.
Als sie die Badezimmertür hinter sich schloss, spürte er, wie ihn ein Gefühl der Verzweiflung überkam. Abby zurückzulassen, fühlte sich so falsch an. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er mit ihr an seiner Seite zur Party zurückkehren sollte, aber die Leute würden darüber reden und spekulieren, wo die beiden gewesen waren und was sie gemacht hatten. Ihre Arbeitskollegen waren da und all seine Freunde. Sarah hatte es verdient, von ihm zu erfahren, was zwischen ihm und Abby vorgefallen war, von niemand sonst.
Und so zwang er sich, weiterzugehen.
*****
Abby zuckte zusammen, als sie in den Badezimmerspiegel schaute. Ihr Lippenstift war verschmiert und ihre Haare lagen kreuz und quer. Gott sei dank wohnte sie hier und all ihr Make-up befand sich in dem Schrank, der vor ihr stand. Sie wischte sich den Mund ab und trug dann schnell wieder denselben Lippenstift auf, den sie zuvor getragen hatte. Mit ihrem Haar war es etwas schwieriger. Nachdem sie ein paar Minuten versucht hatte, die Frisur von vorhin nachzumachen, gab sie auf und bürstete sie aus.
Es war zwar einfach, das verschmierte Make-up zu korrigieren und ihr Haar zu richten, aber sie war sich nicht sicher, wie sie den Schmerz und die Traurigkeit aus ihren Augen verschwinden lassen sollte. Justin hatte sie gewarnt, dass es eine schlechte Idee sei, miteinander zu schlafen, aber zu dem Zeitpunkt war es ihr egal gewesen.
Sie hatte leben wollen. Sie hatte rücksichtslos sein wollen. Und mit Justin zusammen zu sein, war die unglaublichste, erstaunlichste, euphorischste Erfahrung ihres Lebens gewesen. Deshalb war sie auch so erschüttert gewesen, als sie das Bedauern und die Schuldgefühle in seinen Augen gesehen hatte, nur wenige Augenblicke, nachdem er ihre Welt zum Beben gebracht hatte.
War ja klar, dass der erste Mann, der ihr das Gefühl gab, etwas besonders zu sein, begehrt zu werden und sich um sie zu kümmern - der erste Mann, von dem sie wusste, dass sie sich in ihn verlieben könnte - bereits eine andere liebte. Der Gedanke bereitete ihr körperliche Schmerzen in der Brust.
Sie beobachtete, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. "Hey, komm schon.", sagte sie zu ihrem Spiegelbild. "Du solltest stolz sein. Du wolltest heute Abend etwas, und du hattest den Mut es dir zu nehmen. Das ist ein Fortschritt, Abby."
Und obwohl sie sich fühlte, als hätte sie eine Kugel ins Herz bekommen, hatte sie immer noch ihre Würde. Sie hatte den ganzen Abend heruntergespielt und so getan, als würde es ihr nicht so viel bedeute. Es war das Einzige, was sie tun konnte, denn Justin liebte und wollte mit einer anderen zusammen sein.
Jetzt drückte ihr Magen und ihre Augen brannten, aber sie würde erhobenen Hauptes aus dem Bad gehen und so tun, als ginge es ihr gut. Wenn sie Justin täuschen konnte, konnte sie auch alle anderen täuschen, oder? Sie atmete tief durch und öffnete die Badezimmertür.
Yvette, die am anderen Ende des Flurs stand, sah sie sofort und kam herüber.
"Abby, was ist los?", fragte Yvette sofort und ihre Augen füllten sich mit Sorge.
Okay, vielleicht konnte sie also nicht alle anderen täuschen. Sofort traten die Tränen, die sie gerade weggeblinzelt hatte, wieder an die Oberfläche und sie musste den Drang zu schluchzen unterdrücken.
"Komm schon.", sagte Yvette, nahm Abbys Hand und zog sie mit sich. "Wir verschwinden von hier."
Abby ließ sich von ihrer Freundin führen, aber als sie aus dem Haus und auf die Straße gingen, fragte sie: "Wohin gehen wir?"
"Irgendwohin, wo ich weiß, dass uns niemand hören wird." Yvette schloss ihr Auto auf. "Steig ein."
Als sie beide im Auto saßen, stellte Yvette das Radio an, griff hinter ihrem Sitz und holte eine Flasche Bourbon hervor. "Die habe ich auf den Weg hierher geholt. Ich dachte, Tony könnte sie später gebrauchen, wenn ihm das Bier ausgeht, aber ich denke, wir können sie jetzt gebrauchen."
Yvette öffnete die Flasche und nahm einen Schluck, bevor sie sie an Abby weiterreichte. Der Gedanke, Bourbon pur zu trinken, gefiel ihr überhaupt nicht, aber sie nahm trotzdem einen Schluck, spürte, wie die widerliche Flüssigkeit den ganzen Weg hinunter brannte, und reichte die Flasche zurück an Yvette.
"Und jetzt rede.", befahl Yvette.
Überraschenderweise war es nur allzu leicht Yvette alles zu erzählen. Sie stolperte nicht einmal über den Teil, indem sie gerade mit Justin eingesperrt war und vor fünfzehn Minuten Sex in seinem Schlafzimmer hatte.
"Das habe ich nicht kommen sehen.", sagte Yvette. "Solange ich ihn kenne, drehte sich alles um Sarah. Zumindest, bis du bei ihm eingezogen bist."
"Es dreht sich immer noch alles um Sarah.", sagte Abby ihr und klärte sie über den ungünstigen Zeitpunkt von Sarahs Anruf auf.
Yvette starrte sie an. "Und er hat den Anruf angenommen?"
Abby schenkte ihr ein schiefes Lächeln. "Nein, er hat den Anruf nicht angenommen. Aber das Bedauern und die Schuldgefühle, die ich in seinem Gesicht sah, sagten mir, dass er sich wünschte, er hätte es tun können. Was zwischen uns passiert ist, hat ihn nicht halb so viel bedeutet wie mir. Aber damit hätte ich rechnen müssen, wenn er in eine andere verliebt ist, oder?"
"Oh, Abby.", sagte Yvette, legte ihre Arme um sie und drückte sie.
Es hatte etwas, in den Armen eines Freundes gehalten zu werden, das alle Emotionen des Abends hoch sprudeln und überkochen ließ. Sie konnte ihr Schluchzen nicht unterdrücken.
Yvette streichelte ihr über das Haar. "Lass alles raus."
Das tat sie. Erst als ihre Tränen endlich versiegten, zog sie sich zurück. "Es tut mir leid. Ich habe dich voll geheult."
Yvette grinste. "Wozu sind Freunde da?"
Abby lächelte zurück. "Das habe ich vermisst."
"Was? Den Schmerz, den Männer uns zufügen?"
"Nein, das bestimmt nicht.", sagte sie schnell. "Ich habe es wirklich vermisst, eine Freundin zu haben."
Bevor ihre Mutter Candaces Vater erpresst hatte, war Candace eine hervorragende Freundin gewesen. Deshalb war ihr Verrat auch so verheerend gewesen. Abby hatte es nicht kommen sehen.
"Nun, Gott sei Dank hast du dich entschieden, mich deine Freundin sein zu lassen, Abby. Du wirst mich brauchen, jetzt wo du wieder anfängst dich zu verabreden." Yvette lächelte warmherzig. "Obwohl ich leider nicht weiß, was ich dir über Justin sagen soll. Ich hätte nie gedacht, dass er in der Lage ist, dir so etwas anzutun. Er war immer so loyal und anständig. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was in ihn gefahren ist."
Es war ihre Schuld, dachte Abby. Sie hatte sich gewünscht, er würde aufhören, so vernünftig und ehrenhaft zu sein, und rücksichtsloser sein. Ihr Wunsch war in Erfüllung gegangen, nicht wahr? Dennoch weigerte sie sich, das Geschehene zu bereuen.
Es war fantastisch gewesen, und sie war wirklich dankbar, dass sie wusste, wie sich Sex mit jemanden anfühlte, den sie mochte und begehrte. Sie konnte sich nicht dazu durchringen, es zu bereuen. Sie hatte es gewollt und sich darauf eingelassen, und ein Vergnügen erlebt, das unvergleichlich war mit allem, was sie je zuvor erlebt hatte.
Abby verwarf den Gedanken schnell, dass es sich nur so angefühlt hatte, weil sie mit Justin zusammen gewesen war. Es wäre wirklich nicht fair, wenn der einzige Mensch, der ihr diese Gefühle gab, ein Mann war, der einer anderen völlig ergeben war. Es stimmte, dass das Leben nicht fair war, aber sie konnte nicht glauben, dass es niemanden gab, der sie so fühlen ließ, wie Justin es getan hatte. Das Universum konnte nicht so grausam sein.
"Wenn die Dinge anders wären, würde ich dir raten, es zu versuchen. Aber unter diesen Umständen bin ich mir nicht sicher, ob es eine kluge Idee ist, romantische Hoffnung in Justin zu setzen."
Abby nickte. "Ich weiß."
"Es gibt noch viele andere Fische im Meer.", sagte Yvette sanft. "Lass dich davon nicht hinter diese Mauern zurückdrängen, okay?"
"Das werde ich nicht."
Heute Abend hatte sie einen Schlag ins Herz bekommen, aber sie bedauerte nicht, dass sie offen genug war, um es zu fühlen. Sie hatte sich neun Jahre lang abgekapselt, und obwohl sie verletzt war, wollte sie nicht aufhören, sich wieder zu öffnen.
Ein plötzliches Klopfen an der Beifahrertür ließ sie aufschrecken.
"Es ist Tony.", sagte Yvette und drückte den Knopf, um das Fenster herunterzulassen.
Abby hatte keine Ahnung, wie sie aussah, nachdem sie sich die Seele aus dem Leib geschluchzt hatte, aber Tony war einen Blick auf ihr Gesicht, und seine Wut wurde greifbar. "Ich werde ihn umbringen."
"Nein.", sagte sie, streckte ihre Hand aus dem Fenster und packte sein Handgelenk. "Bitte, Tony. Ich will nicht, dass er weiß, wie bestürzt ich bin. Bitte sag es ihm nicht. Mir geht es gut, wirklich. Ich verspreche es."
Er schüttelte den Kopf, offensichtlich glaubte er ihr kein Wort. Er marschierte jedoch nicht los, nachdem er Yvette angesehen hatte. Hoffentlich sagte ihm das, was er im Gesichtsausdruck seiner Freundin sah, dass Justin am besten im Dunkeln bleiben sollte.
"Kommt ihr zurück zur Party?", fragte Tony. "Alle fragen, wo ihr seid."
"Wir kommen gleich.", teilte ihm Yvette mit, hob ihren Arm und schaltete das Licht über ihnen ein. Sie betrachtete Abby kurz, bevor sie eine Packung Tücher aus ihrer Handtasche nahm und mit einem davon Abbys Augen abtupfte. Danach fuhr Yvette mit den Daumen, unter ihren Augen entlang.
"Da.", sagte Yvette und klappte die Sonnenblende vor Abby hinunter. "Sieh es dir an."
"Danke.", erwiderte Abby und schaute in den kleinen Spiegel. Ihr Make-up war in Ordnung, aber ihre Augen sahen immer noch ein wenig gerötet aus.
"Bleib eine Weile aus dem Schuppen und dem Haus.", wies Yvette sie an. "Im Licht der Tiki-Fackeln wird niemand merken, dass du geweint hast."
Abby nickte und klettere aus dem Auto, wo sie sich schnell von Tony umarmt fand. Als er sie losließ, ging Yvette auf ihm zu und gab ihn einen kurzen Kuss auf den Mund. Tony hob Yvette, zog sie an sich und küsste sie innig. "Du hast mir gefehlt, Babe."
"Ich habe dich auch vermisst."
Die offensichtliche Liebe, die sie teilten, ließ Abbys Herz vor Neid stechen. Der erste Kerl, mit dem Abby Sex gehabt hatte, war in Candace verliebt gewesen, nicht in sie. Justin war in Sarah verknallt, nicht in sie. Der nächste Kerl, mit dem sie ins Bett gehen würde, musste auf sie stehen und auf niemand anderen, denn sie war es leid, die zweite Geige zu spielen. Um ehrlich zu sein, war es zum Kotzen. Sie wollte das, was Yvette hatte: einen Mann, der sie liebte, einen Mann, der sie vermisste, wenn sie nicht da war, ein Mann, der völlig vernarrt in sie war.
"Abby.", sagte Tony und streckte ihr seinen Arm entgegen.
Abby warf ihm einen dankbaren Blick zu, als sie sich bei Tony unterhakte. Yvette öffnete das hintere Tor und die drei gingen gemeinsam hindurch.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie daran dachte, Justin wiederzusehen. Sie hatte gesagt, sie seien nur Freunde, als sie sich vorhin getrennt hatten, aber plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, wie sie das bewerkstelligen sollte.
Die Art und Weise, wie sie sich gefühlt hatte, als er sie in seinen Armen gehalten und sie angesehen hatte, als ob sie ihn etwas bedeutete - nicht nur als Freund, sondern als etwas mehr -, hatte sie dazu gebracht, sich nach so viel mehr von ihm zu sehnen, als nur nach einer einmaligen Sache. Nicht, dass sie ihn das jemals hätte sagen können.
Als sie Justin in der Nähe des Feuers entdeckte, wo er sich mit ein paar Leuten unterhielt, wusste sie, dass sie nie in der Lage sein würde, sich von ihm unbeeindruckt zu zeigen. Das Licht des Feuers flackerte über seine Züge und hob hervor, wie gut er aussah, und als er zu ihr hinübersah und sein Blick sich mit ihrem traf, war das Verlangen, das sie verspürte, stärker, als vor dem Sex mit ihm. Oh Gott. Er war ihr Mitbewohner, Arbeitskollege und Rivale, und er liebte eine andere. Er sollte sie nicht so fühlen lassen.
Und doch tat er es.
Sein erleichterter Gesichtsausdruck war nicht zu übersehen, als er sie sah. Sofort machte er Anstalten, zu ihr zu kommen, aber sie schüttelte nur leicht den Kopf und hielt ihn damit auf. Er sah überrascht und dann niedergeschlagen aus, als er sie musterte, und einen Moment lang fühlte sie sich schuldig, weil sie ihm gesagt hatte, er solle sich fernhalten.
Um ehrlich zu sein, war es keine bewusste Entscheidung gewesen. Sie hatte instinktiv den Kopf geschüttelt. Jetzt, wo sein Blick ihr Gesicht absuchten, war sie froh, dass er nicht nahe genug war, um mit Sicherheit zu wissen, dass sie geweint hatte.
Schuldgefühle bohrten sich wie ein Messer in ihr Herz, als sie seinen unglücklichen Gesichtsausdruck wahrnahm. Als jemand einen Arm um ihre Schultern legte, war sie demjenigen fast dankbar, dass er für die dringend benötigte Ablenkung sorgte. Sie drehte sich um und sah Chris Bradshaw neben sich stehen.
"Hey, Partygirl. Wo ist dein Drink?"
Sie lächelte ihn an. "Ähm, ich habe keinen."
"Das müssen wir sofort in Ordnung bringen."
Sie hatte bereits ihr Limit erreicht. Sie fuhr heute Abend nirgendwohin und war völlig nüchtern, aber sie trank nie mehr als drei Drinks bei gegebenen Anlässen. Nur so konnte sie sicherstellen, dass sie nicht wie ihre Mutter werden würde.
Vielleicht würde es an diesem einen Abend nicht schaden, mehr als drei zu trinken. Es ist ja schließlich deine Party.
Sie beschloss, dass die Stimme in ihren Kopf recht hatte, und ließ sich von Chris zu den Getränken ziehen.
Der Blick, den Justin ihr zuwarf, als sie mit Chris ging, gab ihr das Gefühl, als hätte sie ihn gerade verraten, was lächerlich war. Egal wie toll der heutige Abend gewesen war und wie sehr sie sich wünschte, alles noch einmal zu tun, Justin würde niemals ihr gehören. Daran musste sie sich erinnern, wenn sie in Zukunft nicht in Versuchung geraten wollte.
Mit ihm zu schlafen hatte ihr einen kleinen Einblick gegeben, wie es sich anfühlen würde, von ihm geschätzt und geliebt zu werden. Dass ihr dieses Gefühl einmal genommen wurde, war schwer genug gewesen. Es war gut möglich, dass ein zweites Mal sie zerstören würde.
Und, obwohl es sie ärgerte, dass sie ihn verletzte, indem sie ihn auf Abstand hielt, konzentrierte sie sich auf Chris und schwor sich, den Abend so gut wie möglich zu verbringen. Nur ein schneller Drink mit ihrem Kollegen; was konnte daran schon schlimm sein?
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