04 Die Wahrheit ist kompliziert
Justin lehnte sich in seinem Stuhl zurück und fühlte sich nach den zwei Portionen Lasagne, die er gegessen hatte, völlig gesättigt. Tony hätte wirklich Koch werden sollen und nicht Landschaftsgärtner. Jedes Mal, wenn der Kerl kochte, schuf er ein Meisterwerk.
Yvette betrachtete Justins entspannte Körperhaltung. "Abby, du solltest Justin dazu bringen, dir das Haus zu zeigen, bevor er dort drüben einschläft."
"Das sollte ich.", stimmte Abby zu, sah ihn an und dann wieder zu Yvette. "Das Abendessen war absolut fantastisch. Danke."
"Ich hoffe, es war besser als das, was du aufwärmen wolltest", grinste Tony.
"So viel besser."
Justin sah Abby zu, wie sie ihren letzten Schluck Wein trank. Ihre Wangen waren ein wenig gerötet und sie hatte ihren Blazer schon vor einer Weile ausgezogen. Infolgedessen war seine Aufmerksamkeit häufig auf ihre Brust gerichtet worden. Die Art und Weise, wie sich ihre Brüste gegen die zartrosa Bluse, die sie trug, drückten, war viel zu ablenkend. Ihr Haar war immer noch zu einem Dutt zusammengebunden, aber es war jetzt etwas lockerer, und die wenigen Strähnen, die herausgefallen waren, umrahmten ihr Gesicht und gaben ihr einen weichen Ausdruck. Ihre braunen Augen sahen durch die Brillengläser unglaublich groß aus, und sie leuchteten hell, als ob sie ... glücklich wäre.
Tony und Yvette hatten den größten Teil der letzten dreißig Minuten damit verbracht, Abby mit Fragen zu löchern. Zu seiner Überraschung hatte Abby jede einzelne davon beantwortet und dann über all die Geschichten gelacht, die sie ihr erzählt hatten. Er glaubte sogar, dass sie nicht mehr aufgehört hatte zu lächeln, seit sie sich zum Abendessen hingesetzt hatten.
"Ich hoffe du bekommst die Beförderung, Abby.", sagte Tony.
Justin funkelte seinen Mitbewohner finster an. Wirklich? Verstand Tony nicht, dass Loyalität etwas war, das man in einer lebenslangen Freundschaft als selbstverständlich ansehen sollte? Abby musste etwas Ähnliches gedacht haben, denn ihre Augen weiteten sich und ihr Mund blieb offen stehen.
"Aber warum?", fragte sie.
"Weil ich den großen Klotz hier vermissen werde.", sagte Tony. Dann beugte er sich zu Abby vor und flüsterte: "Aber sag ihm das nicht."
"Ich bin sicher, sie hat viele Freunde und Verwandte, die sie ebenfalls vermissen werden, nicht wahr, Abby?", fragte Yvette.
Das Lächeln verschwand aus Abbys Gesicht, während sie unbehaglich auf ihrem Sitz hin und her rutschte. "Ähm, nicht wirklich."
Justin hätte über Yvettes Unfähigkeit, ihre Überraschung zu verbergen, gelacht, wenn er nicht über die Bedeutung von Abbys Antwort nachgedacht hätte. Er hatte bereits vermutet, dass seine Kollegin nicht viele Freunde hatte, und offensichtlich stand sie ihrer Familie nicht nahe, dass sie ihn gefragt hatte, ob sie einziehen könnte, aber es schien einfach so ... traurig.
"Oh, ich bin mir sicher, es gibt Leute.", sagte Yvette.
Abby schüttelte ihren Kopf. "Seit ich von Tasmanien nach Melbourne gezogen bin, habe ich nicht wirklich Freunde gefunden."
Ihr Ton war lässig, aber ihr Gesicht war rot und sie blickte sehnsüchtig auf ihr leeres Weinglas.
"Wie lange ist es her, seit du umgezogen bist?", fragte Tony.
Die Farbe in ihrem Gesicht vertiefte sich. "Neun Jahre."
Abbys Unbehagen war spürbar, als eine schwere Stille über sie hereinbrach.
"Neun Jahre.", wiederholte Yvette schließlich in einem erstaunten Flüsterton.
"Neun Jahre sind eine lange Zeit, Abby.", fügte er unwillkürlich hinzu.
Ihr Blick blieb an seinem hängen. "Ich weiß."
"Wo ist deine Familie?", fragte Tony.
"Meine Mutter ist in Tasmanien. Sie ist die einzige Familie, die ich habe, und wir stehen uns nicht sehr nahe."
Yvette starrte Abby an, als wäre sie eine Art Rechenaufgabe, die sie nicht zusammenzählen konnte. "Willst du mir sagen, dass du keine Freunde oder Familie hier in Melbourne hast?"
Abby fummelte mit dem Ende von Messer und Gabel auf ihrem Teller herum. "Jep."
"Aber ... warum?", fragte Yvette. "Hast du versucht, Freunde zu finden?"
Abby schluckte schwer. "Es gab eine ... Situation während meines letzten Schuljahres in der Highschool. Sie hat mich wütend, nachtragend und verletzt gemacht. Ich schätze, man kann sagen, dass ich mich seitdem von den Leuten ferngehalten habe. Aber ich beginne zu erkennen, was für ein Fehler das gewesen sein könnte."
Ihr Blick flatterte hoch zu Justins, bevor sie wieder auf ihr leeres Weinglas schaute. Ihm gefiel der Klang dieser 'Situation', die sie erwähnt hatte, nicht besonders. Es musste wirklich schlimm gewesen sein, wenn sie das Gefühl hatte, sich danach von allen abkapseln zu müssen. Aber neun Jahre war eine wirklich lange Zeit, um an diese Art von Schmerz festzuhalten. Sie musste loslassen, was auch immer es war, und mit ihrem Leben weitermachen.
"Das klingt nach einer wirklich einsamen Art zu leben.", bemerkte Tony.
Abby zuckte mit den Schultern und schenkte ihm ein kleines Lächeln. "Mir war nicht bewusst, dass ich einsam war, bis ... nun, bis vor kurzem."
"Wenn du einsam bist, solltest du etwas dagegen tun.", sagte Yvette streng zu ihr.
"Evie.", tadelten Justin und Tony sie gleichermaßen.
"Nein, ist schon in Ordnung.", sagte Abby. "Das sollte ich. Ich will nicht mehr einsam sein."
Yvette nickte aufmunternd. "Dann musst du es auch nicht sein. Niemand sollte ohne Freunde sein, Abby."
"Und du bist hier genau richtig, wenn du nicht mehr einsam sein willst.", sagte Tony zu ihr. Justin hatte schon immer eine Art Drehtür. Er ist nie allein."
Yvette nickte. "Er ist der übliche Mr. Populär."
"Hör auf.", sagte Justin zu ihnen.
Er hatte ein paar Freunde. Und wenn schon. Ihn als Mr. Populär zu bezeichnen, ging ein bisschen zu weit. Und er hatte keine Lust, sich an Abbys Mission, Freunde zu finden, zu beteiligen. Er hatte ihr im Laufe der Jahre immer wieder den Arm der Freundschaft entgegengestreckt, und sie hatte ihn jedes Mal weggeschlagen. Das Schiff war abgefahren. Da die Beförderung auf dem Spiel stand, würden sie niemals Freunde werden.
"Achte nicht auf seine Bescheidenheit.", riet Tony Abby. "Justin war Kapitän des Footballteams von Mentone."
"Er und Sarah wurden in der zwölften Klasse zum Ballkönig und Königin gewählt, richtig?", fragte Yvette Tony.
Wenn er 'Mr. Populär' war, dann war Sarah 'Mrs. Populär' gewesen. Wie Yvette war Sarah warmherzig, unkompliziert und bei allen, die ihr begegneten, sehr beliebt - das komplette Gegenteil von Abby. Er kannte Sarah schon die ganze Highschool über, aber sie waren erst in ihrem letzten Jahr Schuljahr zusammen gekommen. Sie waren sechseinhalb Jahre zusammen gewesen, bevor sie nach Sydney gezogen war.
"Sarah?", fragte Abby.
"Meine Ex.", antwortete er ihr schnell.
Er hatte keine Lust zu erklären, wer Sarah war, oder Fragen über sie zu beantworten. Er wollte ganz sicher nicht, dass Abby erfuhr, dass Sarah einer der Gründe war, warum er befördert werden wollte. Er wusste nicht, was sie darüber denken würde, und er wollte es auch nicht herausfinden.
"Er wurde von allen in unserem Jahrgang zum sympathischsten Kerl gewählt.", fügte Tony hinzu.
"Er hat immer noch alle seine Freunde aus der Highschool, alle seine Freunde von der Uni, seine Footballkameraden und seine Freunde von der Arbeit.", zählte Yvette auf. "Wenn du Freunde finden willst, kann Justin dir helfen."
"Ich bin sicher, Abby will meine Hilfe nicht.", sagte Justin.
Ein Dach über dem Kopf konnte er ihr geben. Aber genau da zog er die Grenze.
Abby sah ihn kurz an, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder Yvette zuwandte. "Ich suche mir meine Freunde lieber selbst."
"Sei nicht albern.", sagte Yvette. "Justin hat eine Superkraft, wenn es um Menschen geht. Er sollte seine Kräfte für das Gute einsetzen."
"Anstelle des Bösen?", fragte Justin und schüttelte den Kopf.
"Du könntest für Abby eine Einweihungsparty geben.", schlug Tony vor.
"Danke.", sagte Abby. "Aber es ist noch nicht in Stein gemeißelt. Ich meine, mit dem hier einziehen, oder, Justin?"
Er beobachtete, wie sie an ihrer Unterlippe knabberte und ihn ängstlich ansah. "Außerdem glaube ich nicht, dass jemand wirklich kommen will.", fügte sie leise hinzu.
"Sie würden, wenn Justin sie fragen würde.", teilte ihr Yvette mit.
"Ich sollte dir alles zeigen.", sagte Justin zu Abby, als er aufstand.
Sie nickte und schob ihren Stuhl zurück. "Wollt ihr zuerst etwas Hilfe beim Abwaschen?"
"Geh.", forderte Yvette. "Und sorge dafür, dass er dir den Schuppen mit seinem Billardtisch und der Bar zeigt."
*****
"Und das ist das dritte Schlafzimmer.", sagte Justin.
Abby spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog, als sie merkte, dass sie in der Tür von Justins Zimmer stand. Der Duft seines Rasierwassers lag noch immer in der Luft und verursachte ein Hitzebad, dass sich tief in ihrem Bauch zusammenzog. Abgesehen von dem abgelegten Hemd und der Krawatte, die über sein Bett verstreut lagen, war das Zimmer aufgeräumt. Sogar das Bett war gemacht. Außerdem sehr großen Bett, das den größten Teil des Raumes einnahm, gab es nicht viele Möbel. Sie schluckte, als sie versuchte sich vorstellte, wie sie jede Nacht den Flur hinunter, neben ihm im Zimmer schlief.
"Also, was denkst du?", fragte Justin sie.
"Die Wohnung ist unglaublich."
Sie übertrieb nicht. Sie liebte sie. Die Wohnung war voller warmer Farben, und alle drei Schlafzimmer waren geräumig und hatten Einbauschränke. Keins der Schlafzimmer, hatte jedoch ein eigenes angrenzendes Bad, was bedeutete, dass sie sich ein Bad mit Justin teilen musste, aber alles andere, machte das mehr als wett. Auch mit dem Billardtisch und der Bar im Schuppen hatte Yvette nicht gescherzt. Es war der perfekte Ort, um Gäste zu unterhalten, und da Justin so beliebt war, würde er wahrscheinlich viele Gäste empfangen.
"Du willst also wirklich einziehen?", fragte er.
Sie studierte sein Gesicht. Das Zögern von heute Morgen war jetzt nicht mehr zu sehen, aber er wirkte auch nicht gerade begeistert von der Idee, dass die beiden zusammen wohnen würden.
Während des Abendessens hatte sie wirklich geglaubt, es sei ihr gelungen, ihn vergessen zu lassen, dass er sie nicht dabei haben wollte. Sie hatte die Gesellschaft der anderen sehr genossen, und obwohl es offensichtlich war, dass Justin, Tony und Yvette eine verrückte gemeinsame Vergangenheit hatten, hatte sie das Gefühl gehabt, dass sie in die kleine Gruppe passte. Sie fühlte sich einbezogen, akzeptiert und .... gemocht. Es war das zweite Mal in der letzten Woche, dass sie sich so gefühlt hatte, und es war ihr nicht entgangen, dass Justin beide Male dabei gewesen war.
Dann hatte sie die Tatsache erwähnt, dass sie in Melbourne keine Freunde gefunden hatte. Offenbar war Justin mit allen befreundet, so das er über ihre mangelnde Bereitschaft Kontakte zu knüpfen, völlig verblüfft gewesen sein musste. Er hatte sie sagen hören, dass niemand sie vermissen würde. Wie erbärmlich und verzweifelt hatte sie geklungen?
Sie war so kurz davor gewesen, sich ihm gegenüber zu verteidigen, so kurz davor, ihm zu erklären, warum sie sich von den Menschen abgekapselt und so gehandelt hatte, wie sie es getan hatte. Nur die Angst, seine Meinung über sie zu verschlimmern, hatte sie davon abgehalten.
"Ist es okay für dich, wenn ich das tue?", hakte sie nach.
Er zuckte mit den Schultern. "Ja. Es wird anders sein, aber ich werde mich daran gewöhnen. Außerdem würden Tony und Yvette mich umbringen, wenn ich Nein sagen würde."
Natürlich tat er das für Tony und Yvette, damit die beiden zusammenziehen konnten. Justin D'Marco schien der Typ zu sein, der alles für seine Freunde tun würde.
"Dann ja, ich würde gerne einziehen, bitte.", teilte sie ihn mit. "Dafür bin ich dir wohl etwas schuldig."
"Das tust du, Gillis."
Er stupste sie leicht an der Schulter an, um ihr zu zeigen, dass er es nicht ernst meinte, aber sie war ihm tatsächlich etwas schuldig, und das wusste sie.
Abby ging mit Justin zurück in die Küche, als Tony und Yvette gerade das Geschirr abräumten.
"Wie ist es gelaufen?", fragte Tony sie.
"Die Wohnung ist toll.", antwortete sie lächelnd.
Yvette und Tony stießen einen gemeinsamen Freudenschrei aus, bevor Tony Yvette hochhob und sie in seinen Armen herumwirbelte.
"Sieht so aus, als würden wir endlich zusammenziehen.", sagte Yvette.
Die Freude in ihrer Stimme war unüberhörbar. Abby machte eine Show daraus, ihre Handtasche aufzusammeln, während Tony Yvette leidenschaftlich küsste. Sie waren so verliebt, so glücklich. Etwas Schnelles und Unerwünschtes trat ihr in den Magen, und es dauerte einen Moment, bis sie merkte, dass sie ein wenig neidisch war. Es war Jahre her, dass sie Sex gehabt hatte, und der einzige Mann, der sie so angesehen hatte, hatte es nur vorgetäuscht, weil ihre beste Freundin ihn darum gebeten hatte.
"Nun, ich sollte mich auf den Weg machen.", sagte sie zu allen.
Sie musste da raus. Sie brauchte etwas Raum zum Nachdenken.
"Justin hat gesagt, du musst ziemlich schnell ausziehen.", sagte Yvette und löste sich schließlich von Tony, mit einem leicht benommenen Blick in ihren Augen.
"Ja, ich muss dieses Wochenende wirklich raus sein. Ich meine, Montag soll ich die Schlüssel zurückgeben, aber ich brauche noch einen Tag oder so, zum sauber machen."
"Eher einen Monat.", warf Justin ein. "Deine Wohnung ist ein einziges Durcheinander."
Abby starrte ihn finster an, aber in seinen Augen tanzte Humor und sie merkte, dass er sie aufzog. Er zog sie ständig auf.
Und du giftest ihn ständig an. Es wird mehr als einen Tag dauern, diese Dynamic zu ändern.
"Ich kann für Samstag einen Lastwagen mieten.", sagte Tony. "Ich bringe meine Sachen nach Yvette, und danach kann ich deine Sachen abholen. Ich helfe dir beim Umzug."
"Das würdest du für mich tun?", fragte Abby überrascht.
"Das ist kein Problem."
"Und wenn du Hilfe beim Putzen brauchst, frag einfach.", sagte Yvette und lächelte fröhlich.
Abby wusste nicht, was sie angesichts der Großzügigkeit der beiden sagen sollte.
Als hätte er das geahnt, deutete Justin auf die Tür. "Ich begleite dich hinaus."
Abby nickte. "Danke noch mal für das Essen und ... und für alles andere."
"Es war uns ein Vergnügen, Abby.", sagte Tony. "Wir sehen uns am Samstag."
"Das werden wir. Gute Nacht."
Sie ging schweigend zur Tür. Justin folgte ihr.
"Deine Freunde sind ziemlich toll.", sagte sie zu ihm, als sie die Tür erreichten. Sie öffnete sie, als sie merkte, dass ihr eine Frage auf der Zunge brannte. "Ich verstehe das nicht. Wie kannst du nur nach Sydney gehen und sie verlassen wollen?"
Sie hatte nichts und niemanden, der sie hier in Melbourne hielt. Sie hatte die letzten neun Jahre damit verbracht ihren Abschluss zu machen und sich die Karriereleiter hochzuarbeiten. Die Arbeit war ihr Leben gewesen, ihr Ein und Alles. Aber das war bei Justin nicht der Fall. Er hatte genug, was in hier hielt. Warum in aller Welt wollte er das alles hinter sich lassen?
"Äh..." Er kratzte sich am Kopf. "Ich denke nur, dass die neue Stelle und die Stadt gut zu mir passen würden."
Er verlagerte sein Gewicht und mied ihren Blick. Sie spürte, dass ihm die Frage unangenehm war. Und wenn sie sich nicht irrte, erzählte er ihr nicht alles. Sie wollte ihm nach dem Rest der Antwort drängen, aber sie konnte nicht. Sie waren keine Freunde. Sie waren Rivalen. Lange Zeit war es das gewesen, was sie gewollt hatte, aber sie erkannte, dass es das nicht mehr war.
"Okay.", sagte sie und ließ das Thema vorerst ruhen.
"Also, gute Nacht, Abby."
"Gute Nacht, Justin."
*****
Abby zog das Packband über den Deckel des Kartons vor ihr, bevor sie das Ende abschnitt und andrückte. Wenn die Person, die gerade an ihrer Tür klopfte, ein religiöser Missionar oder ein Verkäufer war, würde sie sie dazu bringen, ihr beim Packen zu helfen. Es war Freitag und eigentlich sollte sie morgen aus ihrer Wohnung ausziehen, aber sie war noch lange nicht fertig.
Auf dem Weg zur Tür stolperte sie fast über einen Karton. Sie griff nach dem Türgriff, um das Gleichgewicht zu halten und zog die Tür eilig auf.
"Justin.", rief sie aus und konnte den Schock in ihrer Stimme nicht verbergen.
Er sah ebenso überrascht aus. "Was hast du gemacht?"
"Was?"
Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass er von ihrem Haar sprach. Sie griff nach oben und berührte es. Heute war es zu einem Pferdeschwanz gebunden, aber es war natürlich trotzdem offensichtlich, dass sie beim Friseur gewesen war. Jeden Morgen in dieser Woche hatte sie sich im Spiegel betrachtet und fühlte sich ... unzufrieden. Sie hatte das Gefühl, dass sich in ihrem inneren drastische Veränderungen vollzogen hatten. Aber äußerlich sah sie immer noch genauso aus wie vorher.
Deshalb war sie zum Friseur gegangen. Sie hatte sich die Haare so schneiden lassen, dass sie gerade nur bis zu den Schultern reichten und sie hatte sie ebenfalls honigblond gefärbt. Es gefiel ihr, obwohl sie sich jetzt fragte, ob der Friseur gelogen hatte, als er sagte, sie sähe toll aus. Justin sah sie immer noch mit gerunzelter Stirn an.
"Ich habe sie gefärbt.", teilte sie ihm etwas abwehrend mit.
"Wo ist deine Brille?"
"Ich muss sie nicht immer tragen."
Ihre Brille war eigentlich nur zum Lesen und Autofahren da. Sie hatte sich nur einfach angewöhnt sie immer zu tragen.
"Du siehst anders aus.", sagte er.
"Das war ja auch so gedacht." Sie rückte zur Seite, um ihn hineinzulassen und gab es auf herauszufinden, ob ihm ihr neues Aussehen gefiel. "Ist alles in Ordnung?"
"Genau das wollte ich dich fragen. Du warst in den letzten zwei Tagen nicht bei der Arbeit."
"Ich musste mir eine Auszeit zum Packen nehmen. Warum? Gibt es ein Problem auf der Arbeit?"
"Irgendwie schon. Du hast dir noch nie einen Tag freigenommen. Das ganze Büro hat einen Schock erlitten."
Sie lachte über seinen verrückten Gesichtsausdruck. "Ich bin mir sicher, dass es niemanden wirklich aufgefallen ist."
"Willst du mich verarschen?"
"Nein. Kann ich dir etwas zu trinken anbieten? Tee? Oder Kaffee? Ich glaube nicht, dass ich Bier habe, tut mir leid."
"Eigentlich war ich gerade auf den Weg zu O'Reillys."
"Oh."
"Ich wollte dich fragen, ob du mitkommst, aber so wie es aussieht, bist du ziemlich beschäftigt."
Sie steckte ihre Hände in die Gesäßtaschen ihrer Jeans und sah ihn aufmerksam an. Sie verstand nicht wirklich, warum er hier war. Abby konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand wegen ihres Verschwindens wirklich in Schockstarre verfallen war. Und da Justin am Montagabend nicht gerade begeistert gewesen war, Zeit mit ihr zu verbringen, wusste sie nicht, warum er vorbeigekommen war, um sie zu fragen, ob sie mit zu O'Reillys ging. Ihre Wohnung lag weit von seinem Weg entfernt. Es ergab keinen Sinn.
"Danke, dass du vorbeigekommen bist, um zu fragen, aber wie du siehst, steh ich hier im totalen Chaos. Ich werde bis spät in die Nacht hinein packen müssen.", lachte sie. "Ich hatte eigentlich gehofft, dass du ein Vertreter bist, damit ich dich hereinlocken und zwingen kann, mir zu helfen."
Er schenkte ihr ein knappes Lächeln, bevor er von den Kisten die sie noch packen musste, zur Tür blickte. Sie kannte ihn nicht gut genug, um seine Stimmungen zu lesen, aber sie war sich ziemlich sicher, dass er gehen wollte und sich schuldig fühlte, weil sie so offensichtlich Hilfe brauchte.
"Ich komme schon klar.", teilte sie ihm mit. "Grüß alle von mir."
Er war schon bis zur Tür gekommen, bevor er sich umdrehte. "Ich wollte gerade etwas essen, bevor ich in den Pub fahre, aber ich denke, ich kann noch eine Stunde oder so bleiben und helfen. Wenn du willst?"
Sie konnte sehen, dass er sich nicht sicher war, ob er wirklich bleiben wollte, aber sie brauchte die Hilfe und hatte keine andere Möglichkeiten. "Ja. Ich meine, ja bitte. Wenn es dir nichts ausmacht?"
Vor ein paar Wochen noch hätte sie Justin zur Tür hinausgeschoben und versucht, das ganze Packen selbst zu übernehmen. Aber damals war sie noch davon überzeugt gewesen, dass sie die Menschen nicht brauchte und diese sie nicht brauchten. Jetzt kannte sie die Wahrheit. Sie brauchte Freunde. Der Stolz, den sie früher empfunden hatte, weil sie alles alleine machen konnte, war durch den wachsenden Wunsch ersetzt worden, Zeit mit anderen Menschen zu verbringen.
Und ja, sie konnte es zugeben - es machte Spaß, mit Justin abzuhängen, und sie freute sich auf die Stunde, in der er ihr helfen würde. Auch wenn sie sehen konnte, dass er von der Aussicht, mit ihr abzuhängen und zu packen, nicht ganz so begeistert war, war dies eine Gelegenheit, die Wogen zu glätten.
Er nickte langsam, als würde er die Tatsache verarbeiten, dass sie tatsächlich Ja gesagt hatte. "Sag mir, was ich tun soll, und ich fange an."
*****
Zwei Stunden später schaute sich Justin um. Abby war noch nicht einmal annähernd mit dem Packen fertig. Er hatte gesagt, er würde nur eine Stunde bleiben, aber jetzt waren schon zwei vergangen. Er war sich nicht sicher, warum. Er verpasste nie den Freitagabend im O'Reillys, für niemanden und nichts. Ein Drink mit seinen Kollegen war seine liebste Art, nach einer hektischen Arbeistswoche abzuschalten.
Und er musste sich nach der Woche, die er gerade hinter sich hatte, erholen. Der Gedanke, dass Abby bei ihm einzog, hatte ihn seit Montag in Aufregung versetzt. Außerdem hatte ihn ihre Abwesenheit im Büro gestern und heute beunruhigt und verstört. Abby nahm sich nie frei. Niemals. Es war schon das zweite Mal in dieser Woche, dass er sich wünschte, er hätte ihre Handynummer. Er hatte sich sogar mit der Personalabteilung gestritten, als sie sich geweigert hatten, sie ihm aus Datenschutzgründen nicht zu geben.
Wahrscheinlich hätte ihm klar sein müssen, dass sie packen würde, obwohl das offensichtlich nicht das Einzige war, was sie in ihrer Abwesenheit getan hatte. Sie hatte sich ein Make-over verpasst. Statt wie die süße, sexy Streberin auszusehen, die er am Mittwoch gesehen hatte, sah sie wie eine blonde, aber unschuldige Sexbombe aus.
Sie wippte gerade zu der Musik, die aus den Lautsprechern ihres iPods dudelte. Nachdem sie Seite an Seite mit ihm gearbeitet und geplaudert hatte, war sie vor einer halben Stunde in die Küche gegangen und hatte dort mit dem Packen begonnen. Er vermutete, dass sie nicht wusste, dass er sie von seinem Platz im Wohnzimmer aus tanzen sehen konnte. Sie schien in ihrer eigenen Welt versunken zu sein und wippte mit den Hüften im Takt. Sie hatte einen tollen Hintern und jedes Mal, wenn er sie dabei beobachtete, brachte es sein Blut in Wallung und sein Herz zum Rasen.
In einer rosa Jogginghose und einem grauen T-Shirt war sie wohl kaum umwerfend gekleidet, aber seit er sie letzten Freitag im O'Reillys gesehen hatte, konnte er seine Libido in ihrer Nähe nicht mehr unterdrücken. Und Abbys Tanzerei war auch nicht gerade hilfreich. Er musste da raus. Er brauchte die Normalität seines Abends im O'Reillys. Und er brauchte definitiv einen Drink.
"Ich habe Hunger.", rief sie ihm zu. "Ich wollte mir eine Pizza bestellen."
Das ist dein Stichwort. Zeit, von hier zu verschwinden.
"Klingt nach einem Plan, aber ich verschwinde jetzt."
Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, sah sie so enttäuscht aus, dass er das Gefühl hatte, er hätte gerade einen Welpen getreten. Er war es nicht gewohnt, Abby als verletzlich zu betrachten, aber in diesem Moment sah sie genauso aus. Es stand ihr förmlich ins Gesicht geschrieben. Sie wollte, dass er blieb.
Er wusste, dass sie vor kurzem beschlossen hatte, dass sie einsam war und Menschen um sich haben wollte, aber er konnte nicht einer dieser Menschen für sie sein. Sie würden vielleicht zusammenziehen, aber Freundschaft stand nicht auf dem Plan. Abgesehen davon, dass sie Rivalen waren, war er es nicht gewohnt, von seinen weiblichen Freunden angetörnt zu werden. Er war es auch nicht gewöhnt, dass er ein so schlechtes Gewissen hatte, weil sie so traurig aussah.
"Bei O'Reillys wird immer noch was los sein.", versuchte er es zu erklären.
"Bleib doch einfach hier und iss ein Stück Pizza.", flehte sie. "Lass mich dich wenigstens füttern. So viel bin ich dir schuldig."
Er war an die toughe Abby gewöhnt - die Abby, die kalt war und den Anschein erweckte, dass sie sich um niemanden oder nichts kümmerte, die Aufsteigerin, die niemand mochte. Er wollte diese Abby zurück. Mit ihr war es einfacher umzugehen, als mit dieser Version.
"Du schuldest mir mehr als das, Gillis."
"Nun, dann lass mich damit anfangen, es wieder gutzumachen."
Er hatte versucht einen Scherz zu machen, damit sie wieder zu ihrer alten Rivalität und ihrem Geplänkel zurückkehren konnten. Stattdessen konnte er nur noch an die Möglichkeiten denken, wie sie es wieder gut machen konnte, und alle beinhalteten seine Zunge in ihrem Mund und ihre Beine um seine Hüften, während sie sich zusammen gegen die nächste Oberfläche wiegten. Sein Herz schlug bis zum Hals, als das heiße Verlangen in ihm explodierte. Glücklicherweise verdeckte ein großer Karton die Tatsache, dass er plötzlich steinhart war. Er musste da raus. Und zwar sofort.
"Angefangen bei der Pizza.", fügte sie hinzu.
Sie klang ein wenig zu atemlos für seinen Geschmack, ihre Wangen waren ein wenig zu rot als sie ihm ansah. Er redete sich ein, dass ihre erhitzten Wangen daher rührten, dass sie in der Küche getanzt hatte, aber dann glitt ihre Zunge einladend über ihre Unterlippe und er fragte sich, ob er sich etwas vormachen wollte.
Er hoffte nicht. Das Einzige, was die ganze Situation noch schlimmer machen würde, wäre, wenn Abby die gleiche Anziehungskraft verspürte wie er in diesem Moment. Sie hatten kein Recht miteinander zu schlafen. Sie arbeiteten zusammen. Sie waren dabei, Mitbewohner zu werden. Einer von ihnen würde in ein paar Monaten nach Sydney ziehen. Und dann war da noch Sarah. Er würde nichts mit einer anderen Frau anfangen, wenn er schon bald mit der zusammen sein würde, die er wirklich wollte.
"Sorry, Gillis. Die Pizza müssen wir verschieben, okay?"
"Alles klar."
"Wir sehen uns dann morgen."
Sie nickte sichtlich enttäuscht, aber Justin wusste, dass es das Beste war. Und selbst nachdem sie bei ihm eingezogen sein würde, hatte er vor, sie wie die Pest zu meiden. Tony und Yvette hatten seit dem Abendessen am Montag all diese Pläne geschmiedet - Pläne, wie sie Abby dazu bringen konnten, Kontakte zu knüpfen und Leute zu treffen, aber sie musste es einfach ohne seine Hilfe schaffen. Sie würde das schon hinkriegen. Wenn sie einsam war, war das ihr Problem, das sie lösen musste. Sie hatte sich immer um sich selbst gekümmert.
"Gute Nacht, Abby.", sagte er schließlich, bevor er zur Tür flüchtete.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top