03 Verzweifelt
Abby eilte am Montagmorgen um fünf nach neun durch die Tür von Kale & Wells. Sie fuhr ihren Computer hoch und stellte fest, dass sogar Justin schon vor ihr zur Arbeit gekommen war. Sie hatte verschlafen, nachdem sie den größten Teil der Nacht damit verbracht hatte, sich hin und her zu wälzen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal so gestresst gefühlt hatte. Niemals, beschloss sie. Sie hatte sich noch nie so gestresst gefühlt.
Die Mietobjekte, die sie sich am Samstag angeschaut hatte, waren bisher die schlimmsten gewesen. Schlechte Wohngegend, kaputte Zäune, bellende Hunde und verrückte Nachbarn waren nur die Spitze des Eisbergs gewesen. Außerdem stiegen die Immobilienpreise, so dass immer mehr Menschen gezwungen waren, zu mieten. Infolgedessen fühlten sich die Eigentümer berechtigt, ihre Mietpreise in die Höhe zu treiben. Wenn sie tatsächlich eine annehmbare Wohnung finden würde, hätte sie Mühe, den gesamten Betrag selbst zu zahlen.
Es war neun Jahre her, dass ihr Lebe so instabil und unberechenbar gewesen war - neun Jahre, seit sie Tasmanien und ihre problembeladene Mutter hinter sich gelassen hatte. Und es war noch länger her, dass sie Menschen hatte, an die sie sich hatte anlehnen und mit denen sie ihre Sorgen hatte teilen können. Seit sie achtzehn war, hatte sie sich nur auf sich selbst verlassen und auch nur sich selbst vertraut. Jetzt war das Leben wieder instabil, und sie hatte niemanden außer sich selbst die Schuld daran zu geben. Sie hatte auch niemanden, an den sie sich um Hilfe wenden konnte. Niemanden.
Zum ersten Mal seit langer Zeit beunruhigte sie die Tatsache, dass sie wirklich allein war. Die Einsamkeit hatte sich immer am Rande ihrer Welt abgespielt, aber bis jetzt hatte sie ihr keine Beachtung geschenkt. Gestern war das Gefühl der Einsamkeit so stark gewesen, dass ihr das Herz wehtat. Sie vermutete, dass sie bereit war, wieder auf Menschen zuzugehen und Freundschaften zu schließen, aber sie war sich nicht sicher, wo sie anfangen sollte.
Und was sollte sie mit der Tatsache anfangen, dass sie jetzt einen Freund brauchte? Abby brauchte jemanden, der sich um das Problem kümmerte, dass sie aus ihrer Wohnung vertrieben worden war. Sie brauchte einen Rat. Sie brauchte jemanden, der ihr sagte, dass sie nicht obdachlos werden würde.
Automatisch wanderte ihr Blick hinüber zu Justin, der stirnrunzelnd an seinem Computer saß. Sicher, er hatte ihr gesagt, dass sie sich bei ihm umsehen konnte, wenn sie verzweifelt war, aber er hatte es nur aus Höflichkeit gesagt. Der Gedanke, Justin D'Marco zu offenbaren, wie verzweifelt sie war, war ... unvorstellbar. Leider war sie sich nicht sicher, ob sie eine andere Wahl hatte. Selbst wenn er sie für erbärmlich hielt, konnte er sie vielleicht an jemanden verweisen, der einen Mitbewohner brauchte. Oder er könnte ihr wieder anbieten, ihr seine Wohnung zu zeigen.
Am Freitag war die Idee, mit Justin zusammenzuleben, noch undenkbar gewesen. Aber jetzt ... jetzt war sie so verzweifelt, dass sie es tatsächlich in Betracht zog.
Er sah plötzlich auf und ertappte sie beim Starren. Sie hatte gehofft, dass sie ihn, sobald sie wieder im Büro waren, wieder als ihren Konkurrenten sehen würde, aber als seine himmelblauen Augen die ihren einfingen und festhielten, spürte sie, wie sich ihr Herzschlag verdoppelte und ihr Gesicht rot wurde. So ein Mist. Zu erröten, weil Justin D'Marco sie ansah, war keine gute Art, den Tag zu beginnen. Er war ihr Rivale - und ein Rivale, von dem sie vielleicht einen Gefallen brauchte. Sie musste ihr Leben nicht noch komplizierter machen, indem sie sich in ihn verknallte.
Sie riss ihren Blick von ihm los, legte den Stift weg, den sie in der Hand hielt und nahm die saubere Tasse, die auf dem Schreibtisch stand, bevor sie in die Küche ging.
Sie schenkte sich gerade einen Kaffee ein, als sie hörte, wie jemand hinter ihr hereinkam. Der süßliche und würzige Duft von Justins Aftershave begrüßte sie, bevor er es tat.
"Gillis."
Sie drehte sich um, und sah ihm am Waschbecken stehen, wo er eine Wasserflasche, mit gefilterten Wasser füllte.
"D'Marco.", gab sie zurück.
"Du bist spät dran heute Morgen."
"Ich habe verschlafen."
"Das sieht dir gar nicht ähnlich."
Er grinste nicht und machte keine Witze auf ihre Kosten, und darüber war sie erleichtert. Ihre üblichen verbalen Wortgefechte konnte sie heute nicht ertragen.
"Ja, ich hatte eine etwas harte Nacht.", erklärte sie.
"Wie ist die Wohnungssuche gelaufen?", fragte er.
"Nicht so gut."
Er drehte den Wasserhahn zu und sah sie genau an. Offensichtlich wartete er darauf, dass sie es weiter ausführen würde. Sie war kurz davor, ihn zu fragen, ob sie bei ihm vorbeikommen und sich seine Wohnung ansehen könnte, wie er es vorgeschlagen hatte, als sie sich vorstellte, wie er sich ansehen würde, wenn er merkte, dass sie in fragte, weil sie sonst niemanden hatte, der ihr helfen konnte. Er würde sie für den erbärmlichsten Menschen der Welt halten.
Komm schon, Gillis. Du musst fragen. Du kannst nirgendwo anders hin. Du musst innerhalb einer Woche aus deiner Wohnung raus sein. Du kannst es dir nicht leisten jetzt stolz zu sein.
"Und was wirst du jetzt tun?", fragte er.
Frag ihn. Du musst ihn fragen.
"Ich ... könnte ...? War das dein Ernst, als du gesagt hast, ich könnte vorbeikommen und mir deine Wohnung ansehen?"
Die Sekunden verstrichen, während er sie ansah. Sie wusste, dass er sie sicher fragen wollte, ob sie nirgendwo anders hingehen konnte, aber sie kam ihm zuvor, indem sie sagte: "Justin, ich bin verzweifelt."
Er schwieg so lange, dass sie sich dabei ertappte, wie sie den Atem anhielt. "Ja, natürlich habe ich das ernst gemeint.", sagte er schließlich. "Du könntest heute Abend vorbeikommen."
Widerwille war ihm ins Gesicht geschrieben und es war nicht zu übersehen, dass er die Worte praktisch mit Gewalt über seine Lippen bringen musste. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass er sie gesagt hatte. Und in diesem Moment verstand sie. Es war egal, wer Justin D'Marco um eine Bleibe bat, er würde sie ihm geben. Er war einfach so ein Typ. Er würde nie jemanden abweisen - nicht einmal seinen Rivalen.
Sie hasste die Vorstellung, dass sie seine Gutmütigkeit ausnutzen könnte, aber sie brauchte das.
"Danke.", sagte sie aufrichtig.
"Dank mir noch nicht. Du könntest die Wohnung hassen. Und du weißt nicht, wie hoch die Miete ist."
"Wie hoch ist sie?"
Er ratterte einen Betrag herunter, der für eine halbe Miete recht hoch war, aber immer noch weniger als das, was sie im Moment allein bezahlte. Es wäre auch viel weniger, als sie zahlen müsste, wenn sie in eine der Bruchbuden ziehen würde, die sie am Wochenende gesehen hatte.
"Das kriege ich hin.", teilte sie ihm mit.
"Toll.", sagte er knapp. "Ich schicke dir meine Adresse per E-Mail. Du kannst mir nach Hause folgen, wenn du willst."
"Danke, aber ich bleibe wahrscheinlich länger. Du weißt schon, als Wiedergutmachung dafür, dass ich heute Morgen zu spät gekommen bin."
"Okay, dann sehen wir uns irgendwann heute Abend."
Sie nickte und schaute zu, wie Justin die Küche verließ. Zweifelsohne war sie die letzte Person, mit der Justin eine Wohnung teilen wollte. Sie waren keine Freunde. Der Waffenstillstand, den sie am Freitag geschlossen hatten, war vorbei, und selbst wenn sie für die nächsten fünf Monate einen neuen schließen würden - und sie hatte nicht mal eine Ahnung, ob das für Justin eine Option war -, wäre es nicht einfach zusammenzuleben, während sie miteinander konkurrierten.
Wenn ihr die Wohnung jedoch gefiel und Justin zustimmte, sie einziehen zu lassen, würde sie ihr Bestes tun, um eine gute Mitbewohnerin zu sein. Sie würde sich bemühen, hinter sich aufzuräumen. Es machte ihr nichts aus, zu putzen - wenn sie die Zeit dazu hatte - und sie konnte kochen. Eigentlich war sie eine ausgezeichnete Köchin. Vielleicht konnte sie es wieder gut machen, indem sie ihn Mahlzeiten kochte.
Und wie willst du dich daran erinnern, dass er dein Rivale ist, wenn du sein Abendessen kochst und jedes Mal rot wirst, wenn er dich ansieht?
Darauf hatte sie noch keine Antwort, aber sie konnte es sich nicht leisten, sich mit den negativen Aspekten oder Herausforderungen der Vereinbarung zu beschäftigen. Sie brauchte eine Lösung, und im Moment war das Justin.
*****
"Ist das dein Ernst? Ich kann ausziehen?"
Justin schüttelte den Kopf und lachte über seinen besten Kumpel. Tony sah so glücklich aus, als hätte er gerade im Lotto gewonnen. Sie waren die besten Freunde, seit sie zusammen zur Highschool gegangen waren. Tony hatte teilweise ein ziemlich hartes Leben gehabt, und es war schön zu sehen, dass er eine Frau gefunden hatte, die ihn so glücklich machte. Aber es gab Zeiten, in denen Tony einfach so ... unter dem Pantoffel stand.
Ja, und es ist noch nicht lange her, da warst du der Mann, den alle als Pantoffelheld bezeichnet haben. Gib es zu, du bist eifersüchtig, dass Tony mit der Liebe seines Lebens zusammenzieht und du warten musst, bist du nach Sydney ziehst.
"Und wer ist er?", fragte Tony.
"Wer er?"
"Der Kollege, der mir den Arsch gerettet hat, indem er bei dir einzieht?"
Justin ging zum Kühlschrank, holte sich eine Flasche Coopers aus dem Kühlschrank und entfernte den Verschluss der Bierflasche mit dem Flaschenöffner, den Tony auf der Bank für ihn liegen gelassen hatte.
"Nicht er.", korrigierte Justin. "Sie."
Tonys Augenbraue schossen in die Höhe. "Sie?"
Justin nickte.
"Also gut. Wer ist sie?"
"Abby Gillis."
Tony verschluckte sich fast an seinem Bier. "Wie in die Abby Gillis? Die Frau, die die Beförderung genauso sehr will wie du?"
"Jup, die Abby Gillis."
Justin hatte nie erwartet, dass Abby auf das Angebot eingehen würde, das er ihr am Freitag im O'Reillys unterbreitet hatte. Sicher, er hatte sich an diesem Abend sehr gut mit ihr verstanden, aber der Waffenstillstand, den sie geschlossen hatten, sollte nur vorübergehend sein. Er musste den Preis im Auge behalten und sich auf das Spiel konzentrieren. Justin hatte sich an sein Konkurrenzverhältnis zu Abby gewöhnt und wollte nicht, dass sich ihre Dynamik änderte.
Er war heute Morgen zur Arbeit gekommen, bereit, seiner Rivalin eine Menge Ärger zu machen, nur um sie beide daran zu erinnern, wie ihre Beziehung eigentlich sein sollte. Aber er war verwirrt, als er merkte, dass sie nicht an ihrem Schreibtisch saß. Dann hatte er sich Gedanken darüber gemacht, warum sie nicht an ihrem Schreibtisch saß. Hatte sie wieder eine Reifenpanne? Steckte sie irgendwo am Straßenrand fest und brauchte Hilfe?
Er wollte schon versuchen ihre Handynummer aus der Personalabteilung herauszubekommen, als sie endlich auftauchte. Sie hatte so gestresst gewirkt, dass er beschlossen hatte, sie nicht zu ärgern. Er war bereits dabei seine Schläge einzustecken, und genau das wollte er vermeiden. Mit Abby konkurrieren zu müssen, funktionierte für ihn. Er wollte nicht mit ihr befreundet sein. Dafür war es zu spät und er wollte definitiv nicht mit ihr zusammenleben.
Aber sie war verzweifelt.
Der Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie ihm das sagte, hatte es ihm unmöglich gemacht, das Angebot zurückzuziehen. Er hatte den schrecklichen Verdacht, dass sie sich an ihn gewandt hatte, weil er die einzige Person war, die ihr Hilfe angeboten hatte. Der Gedanke war mehr als nur ein wenig beunruhigend. Wo waren ihre Freunde? Wo war ihre Familie?
Diese Fragen hatten den ganzen Tag an ihm genagt und er hatte sich mehr als nur ein wenig darüber geärgert, dass sie eine Konzentration zerstört hatten. Wenn Abby niemanden hatte, der ihr half, war das ihr Problem. Wenn sie allein war, lag das wahrscheinlich daran, dass sie alle anderen weggestoßen hatte. Dennoch war er nicht in der Lage gewesen, den verletzlichen Ausdruck zu übersehen, den sie heute Morgen getragen hatte, als sie ihm ihre Situation gestanden hatte. Er hatte sich auch nicht davon abhalten können, sie heute zu begutachten.
Er hatte gehofft, sie wieder in ihrer Arbeitskleidung zu sehen, würde die Erinnerung an ihre Vorzüge aus seinem Gedächtnis löschen. Das war nicht der Fall. Jedes Mal, wenn sie aufstand, um die Kopierer zu benutzen, war er viel so sehr davon abgelenkt, wie gut sie aussah, wenn sie sich in der maßgeschneiderten Hose, die sie trug, bückte. Das war nicht gerade ein Problem, das er haben wollte, wenn er am Ende mit ihr zusammenleben sollte.
Obwohl sein Beziehungsstatus technisch gesehen immer noch 'Single' war, hatte er keine Lust, mit anderen zu schlafen. Seitdem er und Sarah darüber sprachen, wieder zusammenzukommen, hatte er aufgehört, sich mit anderen zu treffen. Er hatte gelegentlich einen One-Night-Stand, und er wusste, dass Sarah das auch hatte, aber eine Beziehung kam nicht infrage, und die Anziehung zu Abby, war nicht sehr willkommen. Er wollte nicht mit jemanden zusammenleben, den er abcheckte. Verdammt noch mal, warum musste Tony ausziehen?
Ein lautes Klopfen an der Haustür ertönte, bevor Justin hörte, wie sie aufschwang.
"Schatz, ich bin zu Hause.", rief Yvette.
"Hier drin, Honigbärchen.", rief Tony.
Justin verdrehte die Augen über Tonys ekelhaft süßen Kosenamen für seine Freundin. Tony und Yvette waren nun schon seit zwei Jahren zusammen. Bevor sie sich kennengelernt hatten, hatte Yvette ihr eigenes Haus in Warrandyte gebaut. Von Heirat war noch nicht die Rede, aber Yvette hatte in den letzten sechs Monaten darauf gedrängt, dass Tony bei ihr einzieht, und ihm gesagt, dass es sinnlos sei, Miete zu zahlen, wenn er es nicht müsse. Stattdessen könnte er bei Yvette wohnen und sparen, um seine eigene Landschaftsbaufirma zu gründen.
Yvette grinste, als sie in die Küche geschlendert kam. "Hey J.D."
Er zog spielerisch an ihrem langen Zopf. "Hey Evie."
"Hey, mein Mann.", sagte Yvette zu Tony und schlag ihre Arme um seinen Hals.
Justin sah weg, als Tony und Yvette sich gegenseitig ihre Zungen in den Hals steckten.
"Weißt du was?", fragte Tony, als sie aufgehört hatten einander aufzuessen. "Justin hat jemanden gefunden, der hier einziehen würde."
"Was?", reif Yvette aufgeregt.
"Vorausgesetzt, sie will einziehen.", stellte Justin klar.
Freude strahlte aus Yvettes grünen Augen, als sie Tony ansah. "Heißt das ...? Ziehst du bei mir ein?"
Tony grinste. "Ja, Baby, ich ziehe ein."
Es gab einen weiteren ekelerregenden Moment, als Yvette und Tony die Neuigkeit feierten, indem sie sich gegenseitig dumm und dämlich küssten. Justin wagte es nicht, sie daran zu erinnern, dass der Einzug von Abby noch nicht beschlossene Sache war.
"Also, wer ist das Mädchen und wann lerne ich sie kennen?", fragte Yvette, nachdem die beiden nach Luft geschnappt hatten.
"Abby Gillis. Sie kommt heute Abend vorbei, um sich die Wohnung anzusehen."
Bestand die Möglichkeit, dass Abby sich die Wohnung ansah und sie nicht mochte?
"Ich bin sicher, dass es ihr hier gefallen wird.", sagte Yvette zuversichtlich, bevor sie sich an Tony wandte. "Babe, was gibt es zum Abendessen?"
"Lasagne. Du kommst gerade rechtzeitig, um mir bei der Zubereitung zu helfen."
"Hey, vielleicht sollten wir auch für Abby welche mitmachen?" ,schlug Yvette vor.
Justin schüttelte schnell den Kopf. "Das musst du nicht tun."
Er musste sich daran erinnern, dass Abby der Feind war - was nicht leicht sein würde, wenn sie zusammen aßen ... oder gar zusammen lebten.
"Sei nicht albern.", erwiderte Yvette. "Ich möchte deine neue Mitbewohnerin kennenlernen."
"Sie ist kein großer Menschenfreund.", erklärte Justin ihr.
"Sie ist Justins Erzfeind.", sagte Tony mit einem leichten schmunzeln.
Yvettes Blick wurde unverkennbar schelmisch. "Du hast einen Erzfeind?"
"Was auch immer du denkst, Yvette, nein.", warnte Justin. "Kein Abendessen. Sie bleibt heute Abend sowieso wieder länger auf der Arbeit."
"Dann wird sie hungrig sein.", argumentierte Yvette. "Wir müssen wenigstens ein Abendessen anbieten."
"Das wird sie nicht interessieren."
Abby hasste soziale Kontakte, und im Moment war er wirklich dankbar dafür. Wenn sie dort leben würde, wäre sie zu sehr mit ihrer Arbeit beschäftigt, um ihm in die Quere zu kommen. So konnten sie ihre Distanz halten. Sie würde sicher nicht zum Essen bleiben.
"Es macht dir also nichts aus, wenn wir sie fragen?", fragte Yvette.
"Ich weiß, was sie sagen wird, aber lasst euch davon nicht abhalten."
"Das werde ich nicht.", gab Yvette zuckersüß zurück.
*****
Es war nach halb acht, als Abby endlich vor Justins Haus hielt. Sie ließ ihren Blick sofort über die große Wohnung schweifen, die er gemietet hatte. Das Haus sah genauso gepflegt aus wie die anderen Wohnhäuser in der Straße. Das gefiel ihr. Es gefiel ihr auch, dass sie keine bellenden Hunde hören konnte. Niemand lärmte draußen, mit Luftkompressoren und dergleichen. Und keine verrückten Nachbarn standen auf der Straße und beschimpften sich gegenseitig.
Sie atmete tief durch, öffnete die Autotür und stieg aus, wobei sie darauf achtete, das Auto abzuschließen, bevor sie den Weg entlangging, der von der Straße zum Haus führte. Als Abby jedoch das Lachen einer Frau von drinnen hörte, verlangsamte sie nervös ihre Schritte. Die einzigen Leute, die sie in diesen Tagen traf, waren neue Kunden. Sie hatte nicht darüber nachgedacht, dass Justin heute Abend vielleicht Gäste hatte.
Er könnte ein Date haben.
Der Gedanke ließ sie für einen Moment innehalten, bevor sich ihr gesunder Menschenverstand meldete. Justin wusste, dass sie kommen würde und er hätte ihr gesagt, dass sie heute Abend nicht vorbeikommen sollte, wenn er beschäftigt gewesen wäre. Sie schluckte und ging weiter, obwohl jede Zelle in ihrem Körper ihr sagte, dass sie nicht hätte kommen sollen - dass es doch sicher jemanden geben musste, an den sie sich wenden konnte.
Aber es gab niemanden, oder? Du hast es bewusst vermieden, dich mit anderen anzufreunden, weil du dachtest, es sei Zeitverschwendung, nachdem, was mit Candace und den Mädchen von Beaumont High passiert ist. Du dachtest, das Leben wäre besser und weniger lästig, wenn du es allein schaffst. Aber du hast dich geirrt. Wenn Justin dir nicht hilft, bist du aufgeschmissen.
Sie nahm all ihren Mut zusammen, klopfte an seine Haustüre und betete, dass dieser Besuch klappen würde. Die Nerven ließen ihren Magen flattern und sie war so sehr damit beschäftigt, auf das Gefühl zu achten, dass sie tatsächlich zusammenzuckte, als Justin die Tür aufzog.
"Gillis."
Offensichtlich war die Heizung im Haus an, denn sie spürte, wie ihr die warme Luft entgegenströmte. Außerdem stand Justin in der Tür und trug ein dunkelgraues T-Shirt und eine kurze Hose, als wäre es Sommer und nicht das Ende des Winters.
Sie hatte ihn noch nie ohne seine Arbeitskleidung gesehen. Dieser legere Look hätte ihn zugänglicher erscheinen lassen sollen. Aber das tat er nicht. So direkt vor ihm stehend, konnte sie sehen, wie gut gebaut er war. Sie hatte sogar angefangen, die Muskeln zu zählen, die sie unter seinem Hemd sehen konnte, bevor sie sich selbst stoppte und ihren Blick nach oben lenkte.
"Hi.", sagte sie, nachdem sie ihre Zunge vom Gaumen gelöst hatte.
"Ich habe dich erst später erwartet."
Wow. Könnte er es noch deutlicher machen, dass er dich nicht hier haben will? Gott, ist das demütigend.
Sie schluckte erneut. "Es tut mir leid. Ich wollte nicht stören. Ich kann später wiederkommen. Oder ich kann ganz verschwinden, wenn du deine Meinung geändert hast, mir das Zimmer zu zeigen."
Sie hoffte, dass er das leichte Schwanken in ihrer Stimme nicht bemerkt hatte. Sie wollte nicht, dass er sah, wie ängstlich - wie absolut verletzlich - sie sich fühlte, jetzt, da sie dachte, er könnte sein Angebot zurückziehen.
Er lehnte sich an den Türrahmen. "Ich habe meine Meinung nicht geändert. Ich hatte nur nicht gedacht, dass du so früh hier sein würdest. Wir wollten gerade zu Abendessen."
"Oh. Dann lass dich bitte nicht aufhalten. Zeig mir einfach wo ich sitzen soll, und ich warte, bist du fertig bist."
"Sei nicht albern.", rief eine Stimme vom Flur.
Zu Justin gesellte sich eine umwerfend aussehenden Frau mit glatten, langem, braunem Haar, das zu einem Zopf geflochten war, in der Tür. Abby schätze ihr Alter auf etwa dasselbe wie das von Justin; achtundzwanzig oder neunundzwanzig.
Sie lächelte Abby an, bevor sie Justin anschaute und ihn aus der Tür stieß. "Wie lange willst du sie denn noch da daraußen stehen lassen?" Die Frau winkte sie hinein.
Ihr Lächeln war äußerst warm, als Abby das Haus betrat.
"Ich bin Yvette.", stellte sie sich vor. "Wir haben Lasagne zum Abendessen gemacht. Möchtest du dich uns anschließen?"
Abbys Blick flog zu Justins, der von dieser Idee völlig unbeeindruckt schien. Wahrscheinlich dachte er, sie würde sein Abendessen mit seiner Freundin stören.
"Oh nein, das kann ich nicht.", erwiderte Abby so höflich wie möglich.
"Warum nicht? Tony und ich haben genug für alle gemacht."
"Tony?"
"Mein Freund und Justins derzeitiger Mitbewohner, oder, Bruder von einer anderen Mutter, wie sie behaupten.", antwortete Yvette lachend. "Wir dachten uns, du hast sicher Hunger, wenn du so lange arbeitest."
Yvette war also nicht Justins Freundin. Die Erleichterung darüber, dass sie ihn nicht beim Abendessen mit seiner Lebensgefährtin gestört hatte, wurde durch Beunruhigung ersetzt, als sie darüber nachdachte, dass Justin ein gesunder, gut aussehender Mann in den zwanzigern war und, wenn er nicht schon eine Freundin hatte, sicher irgendwann weibliche Gesellschaft zu Besuch haben würde. Was sollte sie tun, wenn er das tat? Sie würde sich rar machen müssen.
"Hast du schon gegessen?", fragte Yvette.
"Nein. Aber es war nicht meine Absicht, während des Abendessens aufzutauchen."
"Mach dir deshalb keine Sorgen. Wir haben einen Platz für dich und alles andere."
Sie konnte sich die Überraschung nicht verkneifen, als sie fragte: "Wirklich?"
Sie war etwas verwirrt, warum Tony und Yvette soviel zu essen machten, um sie einzubeziehen. Vielleicht glaubten sie, sie sei Justins Freundin, - eine logische Schlussfolgerung, da Abby erwog, bei ihm einzuziehen. Aber Justin tat ihr lediglich einen Gefallen, indem er sich bereit erklärte, ihr seine Wohnung zu zeigen. Und im Moment sah er wirklich nicht glücklich darüber aus, dass ein Abendessen angeboten wurde. Sie musste nein sagen.
"Danke, aber es geht mir gut. Ich habe bereits ein Abendessen geplant. Vielleicht ein anderes Mal?"
Yvette sah ein wenig niedergeschlagen aus. Abby fühlte sich ebenfalls so. Das Essen roch fantastisch und Yvette schien so nett zu sein. Abby konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal jemanden getroffen hatte, bei dem sie sich auf Anhieb wohlfühlte. Vorhin hatte sie darüber nachgedacht, auf andere zuzugehen - zu versuchen, mit Menschen in Kontakt zu treten. Hier war die perfekte Gelegenheit und sie schlug sie aus.
"Dann komm wenigstens und setz dich zu uns an den Tisch."
Abby entging nicht, dass Justin Yvette nun finster anstarrte, aber nachdem sie das Essen abgelehnt hatte, hatte Abby das Gefühl, dass sie nicht nein sagen konnte, sich mit an den Tisch zu setzen.
Den unglücklichen Ausdruck von Justin ignorierend, folgte sie Yvette in einen langen Flur und bewunderte dabei die polierten Dielen. Der Flur führte in eine große Küche, und Abby konnte nicht verhindern, dass ihr ein kleines Geräusch der Zustimmung entwich, als sie die vielen Arbeitsflächen und modernen Geräte im Augenschein nahm.
"Hi, ich bin Tony."
Abby riss ihren Blick vom Miele-Backofen los und blickte in ein Paar warmer brauner Augen. Sie schüttelte die Hand von Justins 'Bruder von einer anderen Mutter', sein Lächeln war genauso warm wie das von Yvette. Seine dunklen Haare sahen ein wenig unkontrolliert aus, aber er war auf jeden Fall gutaussehend.
"Äh, ich habe euer Gespräch gehört." Tony schaute ein wenig verlegen drein. "Aber ich hatte schon etwas für dich aufgetischt."
Ihre Aufmerksamkeit wurde sofort auf vier Teller mit dampfender Lasagne gelenkt, die auf einem großen Esstisch standen.
"Ich hoffe, es macht dir nichts aus.", sagte er.
Zu ihrer völligen Demütigung hatte ihr Magen genau diesen Moment ausgesucht, um sich bemerkbar zu machen, und das für alle hörbar.
"Das nehmen wir mal als Nein.", lache Yvette.
"Du bist offensichtlich am Verhungern.", sagte Tony. "Ich werde darauf bestehen müssen, dass du jetzt mit uns isst."
"Nimm das, was du heute Abend kochen wolltest, morgen.", sagte Yvette.
Abby seufzte. "Ich wollte nur etwas in der Mikrowelle aufwärmen."
Tony starrte sie an. "Willst du mir ernsthaft erzählen, dass du meine Weltklasse-Lasagne für etwas ablehnen wolltest, dass du dir in der Mikrowelle aufgewärmt hättest? Ich bin wirklich beleidigt."
Beschämung durchfuhr sie. "Es tut mir leid."
"Er macht nur Spaß, Abby.", sagte Justin sanft.
Natürlich war da ein neckisches Glitzern in Tonys Augen, als sie ihn wieder ansah. Auch Yvette und Justin sahen amüsiert aus. Es war lange her, dass sie in einer gesellschaftlichen Situation so viel freundliche Aufmerksamkeit erhalten hatte, und sie errötete.
"Ich habe jedoch nicht gescherzt, dass meine Lasagne Weltklasse ist. Das einzige, was sie noch verbessern könnte, ist die Begleitung durch den perfekten Wein. Darf ich dich mit einem Glas Rotwein in Versuchung führen?"
Sie trank selten Alkohol, aber ein Gläschen konnte ihr helfen, das Nerven flattern in ihrem Magen zu lindern. Dieses Abendessen kam ihr plötzlich zu wichtig vor. Justin würde wegen der Beförderung immer ihr Rivale sein. Daran würde sich nichts ändern. Aber sie mochte seine Freunde. Bis jetzt mochte sie sein Haus. Und sie mochte ihn. Er war einer der Guten, und sie wollte nicht, dass er sich davor fürchtete, mit ihr zusammenleben zu müssen. Wenn es heute Abend gut lief, würde er es vielleicht nicht tun.
Sie lächelte Tony an. "Ich hätte gerne ein Glas, danke."
Justin sah eher resigniert aus, als sie sich an den Tisch setzten. Sie setzte sich ihm gegenüber, während Yvette Tony gegenüber saß. Das Licht über dem Esstisch war heruntergedreht worden und spendete einen sanften Schein.
Tony schenkte ihnen allen ein Glas Wein ein und hob dann sein Glas. "Darauf, dass wir endlich Justins Erzfeind treffen."
Abby hätte sich an ihrem Wein verschluckt, wenn sie tatsächlich einen Schluck genommen hätte. Ihr Blick flog zu Justin, aber der rollte nur mit den Augen und schüttelte den Kopf. Was genau hatte Justin seinen Freunden über sie erzählt?
Oh Gott. Was, wenn Justin ihnen gesagt hatte, dass sie so verzweifelt war und dringend eine Wohnung brauchte, dass sie sich an niemanden außer an ihn wenden konnte? Vielleicht hatten sie sie zum Abendessen eingeladen, weil sie Mitleid mit ihr hatten. Der Gedanke verursachte ihr Magengrummeln.
"Ich wollte schon immer mal die Frau kennenlernen, die Justin das Wasser reichen kann.", sagte Tony und zwinkerte ihr zu.
Sie suchte in seinen Augen nach Mitleid, aber sie sah nichts als Wärme.
"Tony hatte schon immer ein Gespür für Dramatik.", kommentierte Justin trocken.
Sie nahm einen Schluck von ihrem Wein und erinnerte sich daran, dass sie die ganze Zeit, in der sie Justin kannte, defensiv und abweisend gewesen war. Er hatte das Recht über sie zu sagen, was er wollte. Er hatte mehr als jeder andere versucht, ihre Abwehr zu durchbrechen. Er hatte darauf bestanden freundlich zu sein, bis sie ihn schließlich zermürbt hatte und er sie aufgegeben hatte. Das bedauerte sie jetzt. Sie wollte sich ändern. Sie war bereit sich zu ändern. Hoffentlich würde Justin das heute Abend erkennen.
Sie sah Justin mit einer hochgezogenen Augenbraue an. "Erzfeind?"
"Ich glaube nicht, dass ich jemals genau diese Worte benutzt habe." In seiner Stimme lag ein Hauch von Belustigung und ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, bevor er sein Glas gegen ihres stieß. "Prost, Gillis."
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