01 Gestrandet

Abby Gillis starrte den roten Subaru Impreza an, der gerade von Nepean Highway abfuhr und hinter ihr parkte. Konnte ihr Tag noch schlimmer werden? Sie glaubte es nicht. Nicht, wenn die erste Person, die sich an diesem Morgen die Mühe gemacht hatte, anzuhalten und ihr zu helfen, Justin D'Marco war. Eigentlich war es unmöglich, dass Justin angehalten hatte, um ihr zu helfen. Höchstwahrscheinlich hatte er mit der Absicht angehalten, sich an ihrem Unglück zu weiden und sie dann im Stich zu lassen.

Er grinste, als er aus seinem Auto ausstieg. "Morgen, Gillis."

Sie war sehr versucht ihm zu sagen, er solle wieder in sein Auto steigen und wegfahren, aber sie war bereits spät dran für die Arbeit. Die nächste Tankstelle war kilometerweit entfernt, und es war noch zu früh, als dass die anderen Geschäfte entlang der Landstraße schon geöffnet hätten. Und da sie zum ersten Mal in ihrem Leben ihr Handy vergessen hatte, konnte sie keine Pannenhilfe anrufen. Damit stand sie am Straßenrand und war der Gnade ihres Arbeitsrivalen ausgeliefert. 

Es war eine schreckliche Art, die Arbeitswoche zu beginnen, aber sie musste einfach ihren Stolz herunterschlucken und Justin um eine Mitfahrgelegenheit bitten. Es war Montagmorgen. Er war auf dem Weg zu Kale & Wells, der Marketingfirma, für die sie beide arbeiteten. Es würde ihn nichts kosten, ihr zu helfen. Nicht, dass er sie so einfach davonkommen lassen würde. Sie würde ihm einfach etwas schuldig bleiben müssen. Bei dem Gedanken fühlte sie sich, als hätte sie gerade Säure zu sich genommen.

"Reifenpanne?", fragte er sie.

Sie zügelte ihren sofortigen Instinkt sarkastisch zu sein. "Ich glaube, ich bin über einen Nagel gefahren."

"Kein Ersatzreifen?"

"Er wurde vor einer Weile durchstochen und ich habe vergessen, ihn flicken zu lassen. Und ich habe mein Handy zu Hause gelassen."

Sein Gesichtsausdruck war viel zu selbstgefällig. "Klingt, als bräuchtest du eine Mitfahrgelegenheit."

"Ja." Dann fügte sie mit zusammengepressten Zähnen hinzu: "Bitte."

"Das wird dich was kosten.", sagte er ihr.

Sie schloss kurz die Augen und betete um Kraft. Sie ahnte, dass sie wusste, worum er sie bitten würde, aber er musste wissen, dass die Antwort Nein lauten würde. Lieber würde sie am Straßenrand sitzen und verrotten, als ihm die Clover Girls Unterwäschekampagne zu geben. "Das nicht."

"Komm schon, Gillis. Du weißt doch, dass ich gut darin bin Unterwäsche zu verkaufen."

Ja, das wusste sie. Genau deshalb musste sie dafür sorgen, dass er sie nie in die Finger bekam. Sie hatte sich den Arsch aufgerissen, um diesen Auftrag zu bekommen. Er hatte einen Knall, wenn er glaubte, dass sie sie einfach so hergeben würde.

"Das liegt wahrscheinlich daran, dass du zu viel Erfahrung mit dem Ausziehen hast.", erwiderte sie. "Oder vielleicht gibt es einen anderen Grund. Vielleicht hast du Neigungen ..."

"Erinnere mich daran, wer von uns beiden gerade die Hilfe des anderen braucht."

Sie wusste, dass sie auf nett machen musste, um sich eine Mitfahrgelegenheit zur Arbeit zu sichern, aber Justin D'Marco brachte sie so ... aus dem Gleichgewicht. Das hatte er schon immer.

"Vergiss es.", teilte sie ihm mit. "Ich werde laufen."

Das war besser, als sich die ganze Zeit über auf die Zunge zu beißen. Was machte es schon, wenn sie ein paar Stunden zu spät zur Arbeit kam? 

Außer, dass sie es hasste zu spät zu kommen.

Justin schaute auf ihre Schuhe hinunter. "Viel Spaß damit."

Sie folgte seinen Blick hinunter zu ihren roten Wildleder-Highheels. Die diamantenen Schnallen an ihnen funkelten im Sonnenlicht. Sie waren völlig unpraktisch, aber sie liebte sie. Und die paar Kilometer bis zur nächsten Tankstelle zu laufen, würde sie ruinieren. 

Oh, wem wollte sie etwas vormachen? Auf keinen Fall wollte sie die Landstraße hochlaufen oder am Straßenrand verrotten. Nicht, wenn es Arbeit zu erledigen gab.

Als ob er wüsste, was sie dachte, kehrte Justins Grinsen zurück. Und deshalb musste sie sich die Beförderung zum Creative Director im neuen Büro in Sydney schnappen. Justin D'Marco hatte sie täglich in den Wahnsinn getrieben, seit sie beide vor sechs Jahren bei der Werbeagentur Kate & Wells angestellt worden waren. Wenn nicht bald einer von ihnen den Staat verließ, würde sie ihn wahrscheinlich umbringe.

"Ich werde dir Clovers nicht geben.", sagte sie ihm erneut.

"Ich wollte dich nicht bitten, es mir zu geben. Ich hatte eher daran gedacht, es zu teilen."

Die Idee war so absurd, dass sie tatsächlich lachte. Eher würde sie einen Pakt mit dem Teufel schließen, als mit Justin an einem Projekt zu arbeiten.

"Ist das ein Nein?", fragte er.

"Du teilst die Lorbeeren auf keinen Fall mit mir."

"Na schön." Seine blauen Augen tanzten vor Schalk, als sein Blick den ihren einfing und festhielt. "Was willst du mir stattdessen geben?"

Der anzügliche Tonfall, das verruchte Grinsen, die Art und Weise, wie er sich so leicht nach vorne beugte, dass sie den sportlichen Duft seines Aftershaves riechen konnte, all das gab ihr das Gefühl, als hätte man ihr die Luft zum Atmen geraubt. Sie spürte, wie sie von den Zehenspitzen bis zu den Haarwurzeln errötete, und seine Nähe ließ den Regler ihres inneren Thermostats von kühl auf kochend heiß springen.

Sie hätte immun sein sollen. Sie wollte immun sein. Dann war er eben attraktiv, und wenn schon? Okay, sehr attraktiv. Das änderte nichts an der Tatsache, dass er ihr größter Konkurrent um die angestrebte Beförderung war und ihr an jedem Tag in der Woche ein Dorn im Auge war.

"Ich werde mich nächsten Monat nicht für den Spencer Katalog bewerben. Wie ist das?", fragte sie und hatte Mühe ihre Verärgerung zu unterdrücken.

"Schwach, Gillis. Ich bin dein Ticket hier raus und du gibst mir nichts."

Sie seufzte. "Was willst du dann? Ich meine, abgesehen davon, dass du die Lorbeeren für meine harte Arbeit bei der Clover-Kampange einheimst?"

"Hmm, was will ich?"

Er tippte sich mit einem Finger ans Kinn, als würde er die Frage sorgfältig abwägen. Aber sie ließ sich nicht täuschen. Wahrscheinlich hatte er in dem Moment gewusst, was er von ihr wollte, als er ihr Auto am Straßenrand sah und erkannte, dass sie eine Mitfahrgelegenheit brauchte.

"Ich habe gehört, dass Tom Welcock für sein neues Restaurant bei uns die Werbung machen will."

"Nein. Nein, nein, nein, nein, nein."

Er grinste wieder und brachte sie erneut aus dem Gleichgewicht.

Tom hatte in der Vergangenheit sowohl mit Justin als auch mit Abby bei verschiedenen Gelegenheiten zusammengearbeitet, und in einem Punkt konnte sie Justin zustimmen: Tom Welock war eine riesige Nervensäge. Er war beileibe nicht ihr größter Kunde, aber er erwartete, als solcher behandelt zu werden. Da Abby und Justin als die Besten der Besten bei Kale & Wells galten, würde Tom darum bitten, mit einem von ihnen zu arbeiten. 

Es war fifty-fifty, wer den Auftrag bekam, es sei denn, Abby meldete sich freiwillig und sie wollte wirklich nicht wieder mit Tom zusammenarbeiten.

"Ich kann keinen neuen Kunden annehmen, Justin. Ich habe schon zu viel zu tun."

Er trat einen Schritt zurück. "Dann werde ich mich wohl auf den Weg machen."

Wäre es jemand anderes aus ihrem Büro gewesen, der am Straßenrand gestrandet war, hätte Justin nicht gezögert, ihm zu helfen. Aber sie hatte ihm von Anfang an klargemacht, dass sie nichts von ihm wollte. Er war zu gut aussehend, zu charmant, zu beliebt - zu alles - für Abbys Seelenfrieden, und sie wollte nicht noch eine von seinen Groupies sein. Sie wollte nicht zu seiner Clique gehören. Sie hatte ihn und sein Freundschaftsangebot schon mehrfach abgewiesen. Jetzt zahlte sie den Preis dafür.

Sie war die einzige Person aus dem Büro, die er nicht bei Laune halten wollte. Er sah sie als seine Rivalin, als jemanden, den er um den Platz in Sydney ausstechen musste. Das machte es viel einfacher, die beunruhigenden Gefühle, die er in ihr auslöste, zu ignorieren, wenn er nicht versuchte, freundlich zu ihr zu sein. Aber dieses eine Mal wünschte sie sich, sie würden sich etwas besser verstehen, damit er sie mitnehmen würde, ohne eine Gegenleistung zu verlangen.

"Warte." Sie ergriff seinen Arm, um ihn am Weggehen zu hindern, ließ ihn aber genauso schnell wieder los, als sie spürte, dass ihre Hand an der Stelle, an der sie ihn berührte, kribbelte und brannte.

Sein Blick traf den ihren, als er auf eine Antwort wartete. "Gut, ich ... werde mich dafür melden. Okay?"

Die Arbeit mit Tom würde viele, viele weitere Arbeitsstunden für sie bedeuten. Sie konnte nur hoffen, dass sie eine noch bessere Chance auf eine Beförderung haben würde, wenn sie sich bei ihren anderen Projekten bewährte und Tom glücklich machte.

"Warum stehen wir dann noch hier rum?", fragte Justin und sah zufrieden aus. "Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit."

Den Drang ihn zu schlage ignorierend, ging sie zu seinem Auto und öffnete die Beifahrertür.

"Meinst du, wir könnten bei mir vorbeifahren und mein Handy holen?", fragte sie, während sie in sein Auto stieg.

Wenn sie Justin vor Welcock rettete, schuldete er ihr viel mehr als seine Fahrt zur Arbeit. Das mindeste, was er tun könnte, war, sie wegen ihres Handys zurückzufahren. 

"Wir werden zu spät zur Arbeit kommen.", sagte er ihr und manövrierte seinen Wagen in eine Lücke im Straßenverkehr. 

"Seit wann ist es dir wichtig pünktlich zu sein?"

"Ich wusste gar nicht, dass du so genau darauf achtest, wann ich zur Arbeit komme, Gillis."

"Das tue ich nicht, ich ..."

Sie hörte auf zu reden, als sie merkte, dass er sie nur anstachelte. Sie würde dieses Spiel nicht mit ihm spielen. Ja, sie bemerkte, wenn er zur Arbeit kam, aber es war unmöglich, es nicht zu tun. Es gab immer ein großes Getöse, wenn er endlich auftauchte, allen Männern High-Five gab, mit den Frauen flirtete und laut darüber sprach, wer gerade beim Fußballtippen vorne lag. Wenn sie zufällig auf die Uhr schaute, wenn sein Auftauchen sie jeden Morgen störte, dann war das doch zu erwarten, oder?

"Ich hole die Zeit heute Abend nach.", teilte sie ihn mit.

"Das war ein Scherz. Es stört mich nicht, wenn wir zu spät kommen. Ich weiß, dass du immer länger bleibst."

"Ich bleibe nicht immer länger.", erwiderte sie defensiv.

"Wie auch immer.", sagte Justin. "Du wohnst immer noch in Cheltenham, richtig?"

"Ja."

Sie machte sich nicht die Mühe ihn zu fragen, woher er das wusste. Sie musste es irgendwann einmal beiläufig erwähnt haben.

Nachdem er das Auto in die richtige Richtung gelenkt hatte, gab sie ihm die Wegbeschreibung zu ihrem Haus. Er hatte ihr angeboten sein Handy zu benutzen, um jemanden wegen ihres Autos anzurufen, aber sie hatte abgelehnt, da sie ihn nicht noch mehr schulden wollte.

Sie verbrachten die nächsten Minuten damit, darüber zu streiten, wessen Präsentation für die Black Forrest Weinkellerei besser war - eine Präsentation, die sie vor über einem Jahr gemacht hatten, bevor Justin vor ihrer kleinen Wohnanlage anhielt.

Sie stieg in dem Moment aus dem Auto, als er den Motor abstellte, und schaute erst hinter sich, als sie hörte, wie seine Autotür geöffnet wurde.

"Was machst du da?", fragte sie, als er aus dem Auto stieg.

"Ich komme mit rein. Wonach sieht es denn aus?"

Sie sah, wie er den Kopf schüttelte, als könnte er nicht glauben, wie dumm ihre Frage war. Sie erreichte die Haustüre und fischte ihre Schlüssel aus ihrer Handtasche. Sie wollte Justin D'Marco nicht in ihrer Wohnung haben. Das war ihr privater Bereich, ihr Refugium. 

"Es ist ein ziemliches Durcheinander ...", sagte sie und verfluchte sich sofort dafür, dass sie sich entschuldigte.

Ihre gesamte Freizeit verbrachte sie mit der Arbeit und an den Wochenenden war sie erschöpft. Egal wie viel Ausreden sie hatte, warum ihre Wohnung so unordentlich war, sie konnte nicht anders, als ihre Umgebung mit Justins Augen zu sehen, als sie durch die Eingangstür traten: saubere Kleidung lag auf den Möbeln, Bücher und Zeitschriften stapelten sich auf dem Boden, eine schmutzige Tasse und eine Schüssel standen auf dem Couchtisch.

"Es wird nicht lange dauern.", teilte sie ihm mit, während sie sich auf die Suche nach ihrem Handy machte.

Mach es dir also nicht zu bequem.

Ihr Handy, das sie seit einem Monat als Wecker benutzte, lag immer noch auf dem Nachttisch, genau dort, wo sie es liegen gelassen hatte. Sie nahm es in die Hand und stellte fest, dass es aufgeladen werden musste, und suchte in den Klamotten auf dem Boden ihres Schlafzimmers nach dem Ladegerät. Als sie es gefunden hatte, packte sie Handy und Ladegerät in ihre Tasche und ging zurück ins Wohnzimmer.

"Justin?"

Er kam aus der Küche und hielt ihren Räumungsbefehl in der Hand. In dem Moment, als sie ihn sah, stürmte sie auf ihn zu und riss ihm das Papier aus der Hand.

"Wie kannst du es wagen?"

"Beruhige dich, Gillis. Ich wollte mir ein Glas Wasser holen und es ist vom Tisch gefallen, als ich auf dem Weg zum Waschbecken war."

Vom Tisch gefallen, von wegen. "Du hättest Fragen sollen, bevor du dich bedienst."

"Für Wasser? Du bist noch verklemmter als ich dachte, Abby."

Sie spürte, wie sie bei seinen Worten blass wurde. Natürlich hatte sie schon öfter gehört, dass ihre Kollegen sie als verklemmt bezeichneten, aber als sie es von Justin D'Marco hörte, fühlte sie sich aus irgendeinem dummen Grund noch zehnmal schlimmer.

"Können wir bitte einfach gehen?"

"Auf dem Zettel steht, dass du in zwei Wochen raus sein musst."

"Danke, ich weiß genau, wie viel Zeit ich habe."

Der Mietmarkt war im Moment nicht besonders gut. Sie hatte die letzten drei Wochenenden damit verbracht, sich nach etwas umzusehen, aber jede Wohnung, die  man ihr gezeigt hatte, war eine Bruchbude gewesen.

Außerdem würde sie höchstens noch fünf Monate in Melbourne bleiben - vorausgesetzt, man bot ihr die Stelle im Inland an. Der einjährige Mietvertrag für ihre Wohnung war schon vor einiger Zeit ausgelaufen, und sie war mit der monatlichen Vereinbarung, die sie mit dem Makler getroffen hatte, zufrieden gewesen. Es hätte perfekt geklappt, wenn der Vermieter nicht beschlossen hätte, dass er selbst in die Wohnung einziehen wollte. Jetzt musste Abby wahrscheinlich wieder einen einjährigen Mietvertrag unterschreiben und dann versuchen jemanden zu finden, der den Mietvertrag übernahm, wenn sie umzog.

"Und wohin ziehst du?", fragte Justin sie.

"Das überlege ich noch.", teilte sie ihm mit, öffnete die Haustüre und versuchte, ihn hinauszubugsieren.

"Du weißt es nicht?"

"Ich habe noch nichts Anständiges gefunden."

Sie spürte, wie Justin sie beobachtete, als sie die Haustüre hinter ihnen zuzog und sich vergewisserte, dass sie abgeschlossen war. Gott, sie wünschte, er würde es fallen lassen.

"Ich habe gehört, dass es auf dem Mietmarkt im Moment nicht besonders gut aussieht."

"Stimmt.", bestätigte sie und ging zu seinem Auto.

"Die Freundin meines Mitbewohners hat eine Wohnung gekauft und bittet ihn ständig, bei ihr einzuziehen. Ich habe ihm gesagt, dass er bis März warten muss. Ich möchte nicht für beide Hälften aufkommen, und die Vorstellung, einen neuen Mitbewohner zu suchen und mit ihm ein Vorstellungsgespräch zu führen, ist eine Qual. Ganz zu schweigen davon, dass ich erklären müsste, dass ich in ein paar Monaten nach Sydney ziehen werde."

Ihre Hand rutschte vom Türgriff ab. Er grinste sie über sein Autodach hinweg an, und sie merkte, dass er sie wieder anzustacheln versuchte.

"Träum weiter, D'Marco.", sagte sie, öffnete die Autotür und ließ sich auf den Beifahrersitz gleiten. "Du weißt, dass die Beförderung mir gehört."

"Au contraire, Gillis. Ich habe sie im Sack. Ich habe am Freitagabend mit James Kale gesprochen ..."

"James Kale war Freitagabend da?"

Jeden Freitagabend gingen die meisten Mitarbeiter von Kale & Wells ins O'Reillys, dem Pub gegenüber der Agentur. Die Partner selbst gingen jedoch nur selten dorthin.

Da sie mit einer Mutter aufgewachsen war, die Probleme mit Alkohol hatte, wollte Abby keine Zeit mit Leuten verbringen, die tranken. Deshalb vermied sie es freitagabends auszugehen, weil sie der Meinung war, dass sie ihre Zeit besser mit der Arbeit verbringen sollte. Außerdem hatte sie ihren Kollegen außer Hallo und auf Wiedersehen nichts zu sagen.

"Er war da.", bestätige Justin. "Und er sprach darüber, dass sie die Rolle des Kreativdirektors an jemanden vergeben wollen, der mit einer Vielzahl von Leuten zusammenarbeiten kann. Das Büro in Sydney ist eine vielschichtige Gruppe, und sie suchen jemanden, der einspringt und der Klebstoff ist, der sie alle zusammenbringt."

Die Unterstellung, sie könnte das nicht, ärgerte sie. "Willst du damit sagen, dass ich das nicht kann?"

"Komm schon, Gillis, du weißt, dass du nicht gerade dafür bekannt bist ... gesellig zu sein, oder ein Teamplayer, was das betrifft. Du magst es nicht, mit anderen zu arbeiten."

Sie spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde. Justins genaue Einschätzung ihrer ... Unzulänglichkeiten ließ die Blase der Zuversicht, die sie noch vor wenigen Augenblicken empfunden hatte, schnell platzen. Sie hatte gehofft, ihm zu verheimlichen, dass es ihr keinen Spaß machte, mit anderen Menschen zu arbeiten. Offensichtlich hatte sie das nicht geschafft. 

Jetzt wollte sie sich verteidigen, aber sie wollte auf keinen Fall sagen, warum sie so war. Er musste nicht wissen, dass sie sich hilflos und unkontrolliert fühlte, wenn sie sich auf andere als sich selbst verließ, und das hatte sie in ihrer Kindheit viel zu oft erlebt, um es als Erwachsene zuzulassen.

Ihre Schwierigkeiten, mit anderen zusammenzuarbeiten, waren auch James Kale nicht entgangen. Bei ihrer jährlichen Beurteilung hatte er sie darauf hingewiesen, dass sie sich mehr um den Aufbau von Beziehungen zu den anderen Teammitgliedern bemühen sollte - dass es beim Erklimmen der Karriereleiter ebenso sehr auf den Umgang mit anderen Menschen ankam wie auf die Arbeit, die sie leistete.

Das hatte ihr nicht gepasst. Sie war gut in ihrem Job. Sie verstand es, ein Konzept so zu vermitteln, dass es in der Öffentlichkeit ankam. Die Kunden der Firma fragten oft speziell nach ihr, und sie hatte kein Problem damit, Beziehungen zu ihnen aufzubauen. Warum konnte das nicht ausreichen? Was machte es schon, wenn sie sich nicht dem Smalltalk und den Trinkgelagen mit Gleichaltrigen hingab?

Freundschaft wurde überbewertet. Der erschütternde Verrat, den sie vor Jahren erlebt hatte, hatte sie gelehrt, wie schnell sich Freunde verwandeln konnten, wenn sie verletzt wurden, wie sie einem direkt an die Gurgel gehen konnten. Die Menschen, denen sie einst bedingungslos vertraut hatte, hatten sich vorgenommen, sie direkt wieder zu verletzen, und sie hatten es so geschafft, dass sie Jahre gebraucht hatte, um darüber hinwegzukommen.

Selbst jetzt noch ließ die Erinnerung ihre Augenwinkel vor Emotionen zucken. Sie blinzelte schnell und versuchte die Tränen zu verdrängen. Sie würde nicht vor Justin D'Marco weinen. Und sie würde auch nicht aufgeben, befördert zu werden. Sie hatte viel zu hart gearbeitet, um das einfach so hinzunehmen.

"Hat Kale dir sein Wort gegeben?", fragte sie mit heiserer Stimme und versuchte zu verbergen, dass sie den Tränen nahe war.

"Was?"

"Hat James dir gesagt, dass die Beförderung dir gehört?"

"Er hat es angedeutet, aber nein, er hat mir nicht sein Wort gegeben."

Sie nickte. "Gut."

Es war noch nicht vorbei. Noch nicht.

James hatte ihr gesagt, sie sollte sich bemühen, Beziehungen aufzubauen, wenn sie in seinem Unternehmen aufsteigen wollte. Sie hatte so sehr gehofft, dass ihre hervorragende Arbeitsmoral ausreichen würde, um ihn ihr Versprechen vergessen zu lassen. Offensichtlich war das nicht der Fall. Jetzt lief sie Gefahr, dass Justin die Beförderung bekam, und das musste sie ändern. Und zwar schnell. Sie musste James zeigen, dass sie wachsen und sich ändern konnte, zumindest ein bisschen.

Sie würde sich nie mit Gleichaltrigen anfreunden können. Nicht so, wie Justin es tat. Aber sie musste es besser machen als die oberflächlichen und gestelzten Gespräche, die sie in den letzten sechs Jahren mit ihren Kollegen geführt hatte. Das konnte sie jett sehen. Sie musste eine Art von Beziehung mit ihren Kollegen aufbauen, auch wenn das bedeutete, dass sie aus ihrer Komfortzone heraustreten und freitags zu O'Reillys gehen musste.

Ihre Zuversicht schwand, als sie sich vorstellte, wie sie versuchte, sich mit den Leuten, mit denen sie arbeitete, zu unterhalten, während diese sich betranken. Sie musste ihre Gefühle verdrängen. Sie musste beweisen, dass sie diejenige sein konnte, die dem Büro in Sydney etwas Zusammenhalt verschaffte.

"Glaubst du immer noch, dass du eine Chance hast?", fragte Justin.

"Schreib mich noch nicht ab, D'Marco."

Justin sah sie an und grinste. "Das würde mir nicht einmal im Traum einfallen, Gillis."





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