Kapitel 19- Herz oder Verstand?

Völlig durcheinander halte ich den Zettel fest in meiner Hand. Jemand entführte James, nur um mir zu schaden. Doch warum das Ganze?  Der Gedanke, dass die Person in Verbindung mit den Notizen aus meinem Tagebuch stehen könnte, verharrt in mir.

Milo ist immer noch nicht zurück und ich kann nicht mehr länger warten. Jetzt, wo ich weiß, in welcher Gefahr James und Kai ausgesetzt sind und dass alles WEGEN MIR.

Im Gang entdecke ich Milos Handy. Der Trottel hatte es nicht mal bei sich. Ich schlucke. Gut, dann werde ich wohl alleine zum Campus gehen müssen.
Seufzend ziehe ich mir eine dickere Jacke an, draußen fallen die Temperaturen immer schneller, als ich auf einmal meine Kette entdecke.
Ich Trottel!
Natürlich könnte ich Nathaniel herbeirufen, schließlich ist es eine gefährliche Situation, womöglich sehr gefährlich.

Ich nehme die Perlenkette von meinem Hals und wollte gerade eine Perle hinunterreißen, da erscheint Kai vor mir.

„Nicht!", schreit er mich wütend an.

Überrascht blicke ich tonlos zu ihm. Sein starrer Blick verweilt auf der Kette in meiner Hand, sein Mund formt sich zu einer Sichel.

Als würde hinter ihm jemand stehen, redet er wie eine Marionette. Kräftig, aber doch unmenschlich.

„Gib mir die Kette!", befiehlt er.

„Was? Warum?", versuche ich zu begreifen.

„Hättest du gern einen toten Mitbewohner, Theresia?", Kai zieht ein Messer hinter seinem Rücken hervor und ich richtet es auf seine Kehle.

Angst breitet sich in mir auf. Seine Art, seine Worte, wie er mich nannte bei meinem wahren Vornamen! Vor mir steht nicht Kai, sondern nur seine Person selbst. Er ist manipuliert!

Im Fernseher sah ich oft funktionierende Manipulationen, aber das ein Mensch sich in eine hüllenlose Puppe verwandeln konnte, ist mir bis jetzt unbekannt gewesen.

Ich zögere nicht und überreiche ihm die Kette. Nickend nimmt Kai sie mir entgegen und verschwindet im Wohnzimmer.

Sprachlos stehe ich da, die Angst umhüllt mich immer mehr. Jetzt zittern bereits meine Hände.
Mein Verstand sagt mir: Warte bis Milo da ist oder kontaktiere Nathaniel anderweitig.

Mein Herz, aber sagt mir: Geh ALLEINE zum Campus und rette James.

Damit Kai sich nicht doch was tut, laufe ich ins Wohnzimmer. Er sitzt im Sessel und schaut eine Fernsehserie an. Die Kette hat er nicht mehr bei sich. Keine Spur von auch nur einer einzigen Perle.

„Hey, Miranda. Du kommst aber spät nach Hause", Kai richtet sich auf, als sähe er mich zum ersten Mal heute.
„Du wirst nicht glauben, wer die Prüfung bestanden hat", feierlich springt er auf und strahlt mich von oben bis unten an.

„Du hast die Prüfung bestanden?", wiederhole ich seine Worte ungläubig.

„Ja, denkst du ich würd es nicht schaffen?", fragt er überrascht, nachdem er meine zweifelten Ton hörte.

„Nein, nein. Ich wusste gleich von Anfang an, dass du es schaffst", versuche ich ein Lächeln zusammenzubekommen.

Kai ist nun wieder ganz der Alte, doch meine Angst verlässt mich nicht. Was war das vorhin? Wer hatte ihn manipuliert?

„Ich muss kurz weg", erkläre ich mit einer zittrigen Stimme. Ehe Kai antworten konnte, verlasse ich die Wohnung. James ist in Gefahr. Ich muss in RETTEN!

Während ich Richtung Campus lief, verfolgte mich der widerliche Gestank. Er scheint mich wahrhaft zu verfolgen.
Als ich endlich den Campus erreiche, scheint hier alles menschenleer und ruhig. Ein Widerspruch zu meinem chaotischen Inneren.

Ich versuche mich ein wenig zu beruhigen, was kaum funktioniert. Ein paar Meter vor mir türmt sich die Treppe auf, die ins Innere meiner Uni führt. Bäume breiten sich links und rechts auf dem Rasen aus. Im Dunkeln wirken sie ein wenig wie verdunkelte Riesen.

Niemand ist hier. Keine Menschenseele. Verzweifelt setzte ich mich auf die Treppenstufen. Bin ich zu spät dran?

Mittlerweile sind Stunden vergangen, so fühlt es sich an, obwohl es eigentlich nur Minuten waren.
„Hallo. Ist hier jemand?", rufe ich erneut in die seelenlose Gegend.

Im Gegensatz zu den anderen 100 Male, die ich rief, höre ich nun ein Geräusch. Es kommt von einem Strauch im Rasen. Eilig richte ich mich auf und renne dorthin. Ehe ich an der Pflanze ankomme, taucht eine in einem Umhang gehüllte Gestalt auf.

Ich weiche kurz zurück von dem fremden Anblick. Der Unbekannte sagt kein Wort, sondern geht stumm an mir vorbei Richtung Uni.
Sein Gesicht erkennt man kaum, da er ein Tuch um seinen Mund gewickelt hat. Lediglich seine Augen sind erkennbar,die zu mandelförmigen Schlitzen gezogen sind.

Ich folge ihm mit langsamen Schritt. Vor der Treppe macht er kurz halt, dann wirft er plötzlich eine Porzellanfigur, die zuvor auf der Treppe lag, hinunter. Ich zucke bei dem Aufprall des Gegenstands zusammen, doch er zerbricht nicht mal. Komisch.

Unter dem Geländer der Treppe, bildet sich an der Wand eine winzige Tür ab. Im der vielleicht gerade mal ein Kind hineinpasst, doch der Fremde zwängt sich ohne Müh hindurch. Zu meinem Überraschen gelingt es ihm durch die Tür zu gelangen. Ohne nachzudenken, tue ich es ihm gleich.

Im Inneren wird es größer, wie eine Art Tunnel bäumt sich ein Gang vor mir auf. Der Fremde marschiert zielstrebig durch den Tunnel.

Meine Augen passen sich dem spärlichen Licht der wenigen Fackeln an der Wand an. Nach einer Zeit erreichen wir einen großen Raum, der ein wenig Ähnlichkeit mit einem Thronsaal hatte.

Nur vor mir ragt kein Thron, sondern zwei Käfige und unzählig gefüllte Schränke drum herum auf. Es scheinen Medikamente und Spritze in den Schränken zu sein, so viel erkenne ich durch das Glas.

„James!", schreie ich auf, als ich in einem Käfig auf einer Krankenliege- wirklich solch eine Liege wie sie es im Krankenhaus gibt- erblicke. Er hat seine Augen geschlossen und scheint tief und fest zu schlafen. Nicht einmal meine Schreie und die heftigen Schläge, die ich gegen die kalten Gitterstäbe versetzte, bekommt er mit.

Wie Dornröschen schläft er vor sich her.
„Was habt ihr mit ihm gemacht?", sage ich entsetzt, während sich immer mehr Tränen in meinen Augen bilden.

„Hallo, Miranda oder soll ich lieber Theresia sagen?", eine tiefe Stimme dringt hinter mir hervor.

Sofort drehe ich mich um und erkenne einen älteren Mann vor mir. Er hatte wenig weiße Haare auf dem Kopf, tiefe Falten, aber seine tiefschwarzen Augen funkeln erbarmungslos Böse.

„Wer sind sie?", meine Stimme bricht mittendrin ab.

„Dazu später", sagt er in einem etwas gelangweilten Ton, meine Frage scheint ihn zu nerven.
Der Fremde in schwarzen Umhang steht neben dem Weißhaarigen, er hält eine Klinge in der Hand, womöglich für den Fall ich würde ihn angreifen.

Der ältere Herr verschränkt seine Hände. „Ich bin äußerst überrascht, dich endlich kennenzulernen, Theresia. Um ehrlich zu sein bin ich dein größter Fan!"

Ich gebe ein verächtliches Schnauben von mir.

„Du hast recht wie unhöflich von mir", der Unbekannte verbeugt sich vor mir", „Doktor Cherp ist mein Name."

„Meinen kennen sie ja bereits", fauche ich ihn an.

„All deine Namen kenne ich", er lacht höhnisch auf, „wie mir mitgeteilt wurde, hast du dein Tagebuch gefunden mit meinen Notizen."

„Ihre Notizen", fasse ich ungläubig zusammen.

„So ist es", ein breites Grinsen bildet sich auf seinen Lippen, „Es ist zu meiner Lebensaufgabe geworden dich zu finden."

„Warum?", frage ich nach.

„Dazu später", antwortet er.

„Was ist mit James? Was haben Sie ihm angetan?", schreie ich dramatisiert.

„Nichts. Er schläft nur. Wir werden ihn nichts tun, das liegt bei dir."

„Bei mir? Ich habe Ihnen nie etwas getan. Was wollen Sie von mir?"

Der Doktor geht zu einem der Schränke und nimmt ein Gefäß in die Hand, danach geht er wieder auf mich zu. Unglaubwürdig verfolge ich das Geschehen.
Im ganzen Raum hängt ebenso der widerliche Geruch. Was ist das nur?

„Was ist das für ein Gestank?", frage ich. „Das erfährst du früh genug", lacht der Doktor.

Er nimmt eine Tablette aus dem Behälter heraus und überreicht sie mir. „Schluck Sie."

Sein befehlshaberischer Ton macht mir Angst. „Was ist das?", frage ich.

„Die Tablette wird dir helfen sehr sogar", der Doktor strahlt über beide Ohren, „wenn du sie schluckst, lasse ich deinen Freund unter einer Bedingung raus."

„Die wäre?"
„Erfährst du früh genug."

„Nein! Ich will wie jetzt wissen!"

„Moro", ruft Doktor Cherp. Der eingehüllte Mann geht zum Käfig und nimmt eine Pistole aus seinem Gürtel. Er richtet sie vor dem Käfig direkt auf James.

„Okey, ich erfülle sie", stammle ich. Zögerlich nehme ich die Tablette in meinen Mund und schlucke sie hinunter, um James zu retten.

Nachdem ich sie geschluckt hatte, scheint alles beim Alten geblieben zu sein. Keine Nebenwirkung.

Der Doktor stahlt nur noch mehr. „Braver Vampier."

Mit zusammengekniffenen Augen funkle ich ihn böse an.
Plötzlich rieche ich etwas. Ein unbekannter Geruch breitet sich in meiner Nase an. Süß und doch ein wenig salzig. Schmackhaft und sehr einprägend.

Der Duft zieht mich vollkommen in den Bann. „Was ist das für ein Geruch?", frage ich.

„Der Geruch ist schon immer hier gewesen.", antwortet mir der Doktor, „du hattest ihn nur als Gestank eingeordnet." Fragwürdig schaue ich ihn schräg von der Seite an.

„Komm mit", der Doktor führt mich auf die andere Seite des Käfigs. Erst jetzt erkenne ich, die Wunde an James Arm. Er hat dort einen Kratzer, der ein wenig blutet.

„Blut", stammle ich. „Richtig, das Blut ist es, was du riechst. Es ist schon die gesamte Zeit bei dir gewesen, nur nahmst du es kaum war. Mit der Tablette tat ich dir einen Gefallen, ich erweckte deinen Vampier Instinkt wieder, den du auf unglaublicher Weise abgeschaltet hattest."

Der Duft hängt so stark in mir, sodass er mich benebelt. Durst. Ich habe Durst nach Menschenblut. Zum ersten Mal spüre ich das Bedürfnis.

„Komm", der Arzt zieht mich aus dem Raum, weg von James.

Der Doktor bringt mich nach draußen, dort wo der süße Duft nur noch mehr in der Luft hängt. „Ich habe für dich ein Geschenk"

Ich schaue ihn erneut fragwürdig an.
Ein breites Grinsen zieht sich auf seinen Mund. „Die ganze Stadt ist voll von verletzten Menschen. Du kannst heute Nacht jagt machen und jeden einzelnen von ihnen aussagen. Sterben würden sie heute so und so."

Schockiert schaue ich ihn an. Der Gestank in den Gassen während meines Heimwegs waren die verwundeten Menschen! Und ich wusste es nicht.

„Niemals!" sage ich.

„Der arme James..", mummelte der Doktor, „Vergiss meine weitere Bedingung nicht", ruft er mir ins Gedächtnis.

„Ist es das? Unzählige verletzte Menschen in New York aussaugen, die eigentlich Hilfe brauchen?"

„Nein natürlich nicht! Das ist nur mein Geschenk an dich. Moro!"

Der in Schleier gehüllte Mann erscheint wieder. Wie ein Hund folgt er dem Doktor auf Schritt und Tritt.

„Bring Theresia dorthin. Du weißt, was zu tun ist, wenn sie nicht gehorcht."

Moro nickt stumm und geht auf mich zu. Ich weiche zurück, bereit weg zu rennen, doch dann zieht er plötzlich etwas aus seiner Tasche.

Eine Spritze!

Er rammt sie mir in meinen Arm. Alles wird vor mir Schwarz und ich falle.

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