Verhaftet
„Ich kann dich sehen! Und jetzt komme ich dich holen."
Die Worte des Entführers halten von den Tunnelwänden wieder und ihr Echo erreichten Noras Ohren wieder und wieder.
„Ich kann dich sehen! Und jetzt komme ich dich holen."
Sie rannte noch schneller, hörte das tiefe Schnaufen, welches jedoch nicht von ihr stammte.
Das Licht am Ende des Tunnels wurde immer größer, heller, flackernder.
Beinahe hatte sie den Ausgang erreicht, konnte diesem Monster hinter sich wirklich entkommen.
Da hörte sie neue Stimmen.
„Hilfe, Nora. Er hat mich. Er kommt mich holen, nur wegen dir." Jessys Stimme klang als käme sie direkt aus dem Licht vor ihr.
Dem Licht, das sich bewegte, flackerte.
Nur noch ein paar Schritte und sie würde den dunklen Tunnel hinter sich lassen.
„Vergiss es Jessy", rief nun Phil seiner Schwester zu. „Sie heißt gar nicht Nora. Sie hat euch belogen, von Anfang an."
„Nora, hilf mir", rief Jessy dennoch erneut.
„Ich habs euch ja gesagt", mischte sich nun Lilly ein. „Ich habs euch ja gesagt."
„Aber nicht heulen jetzt", lachte Dan bitter auf.
Das Lachen begleitete sie auf den letzten Metern, dann verließ sie den Tunnel endlich und erkannte den Ursprung des flackernden Lichts.
Ihr Haus, brennend, von den Flammen verschlungen und immer wieder die leisen Hilferufe von Jessy.
„Du musst klopfen. Dreimal. Und dich dann umdrehen und zurück laufen. Laufen, nicht rennen, das ist ganz wichtig", erklärte Richy.
„Ich kann dich sehen."
„Sie hat euch belogen, von Anfang an."
„Laufen, nicht rennen."
„Er hat mich, nur wegen dir."
„Ich habs euch ja gesagt."
„Ich kann dich sehen! Und jetzt komme ich dich holen."
Ruckartig fuhr Nora aus dem Schlaf und setzte sich auf.
Ihr Herz raste, ihr Atem ging stoßweise, ihr Magen hatte sich vor Übelkeit zusammen gezogen, ihr Kopf schmerzte und sie zitterte am ganzen Körper.
Sie konnte sich nicht bewegen, nicht einmal die Decke enger um sich schlingen oder sich zurück lehnen.
Sie saß einfach da, zitterte, weinte stumme Tränen und hörte noch immer die verschiedenen Stimmen.
„Guten Morgen."
Das Lächeln, mit dem Phil ihr die Wohnungstüre geöffnet hatte wurde schwächer.
„Du siehst mitgenommen aus, alles okay?"
Sie nickte nur leicht und betrat seine Wohnung.
„Hi, ich hoffe du hast Hunger mitgebracht", rief Jessy gutgelaunt aus der offenen Küche zu ihr rüber.
Doch auch sie wirkte besorgt, als sie Nora genauer ansah.
Sie war blass, was die dunklen Ringe unter ihren geröteten Augen noch verstärkte.
Zwar lächelte sie leicht, aber es wirkte eher gezwungen, als herzlich und das Zittern ihrer Hände konnte sie kaum verbergen.
„Ist etwas passiert?"
Jessy umrundete die Küchentheke, die die Küche vom Wohnbereich abtrennte, ging auf Nora zu und zog sie in eine Umarmung.
Einen Moment versteifte sich Nora, dann schlang auch sie ihre Arme um Jessy.
„Mir geht's gut", versicherte sie. „Ich hatte nur zu wenig Schlaf."
Viel zu wenig, um genau zu sein.
Es war schon ungefähr halb drei gewesen, als Phil sie am Motel abgesetzt hatte, bis sie dann wirklich geschlafen hatte war nach drei. Auf die Uhr gesehen hatte sie, nach ihrem Traum und der Starre die danach einige Zeit angehalten hatte, dann um 5:47Uhr
Ab da hatte sie nur noch darauf gewartet, dass die Zeit um ging und sie zu Phil und Jessy konnte.
Selbst die Dusche hatte nicht dazu beigetragen, dass sie sich fitter fühlte oder aussah.
„Dann willst du sicher Kaffee?", wollte Phil wissen und ging an den beiden Frauen vorbei in die Küche.
„Und Jessy hat das ernst gemeint mit dem Hunger. Sie hat Waffeln und Pancakes gemacht. Außerdem Rührei, Speck und Würstchen."
Nora löste sich von ihrer Freundin. „Warum denn so viel?"
Jessy grinste. „Ich war schon so früh wach, also hab ich Phil schon um neun überfallen und angefangen."
„Hm", brummte Phil. „Viel zu früh, ich hab noch geschlafen."
Jessy winkte ab. „Morgenmuffel, das war er schon immer", flüsterte sie Nora zu. „Ich dachte einfach, wenn wir schon zusammen frühstücken, dann richtig."
„Das klingt toll", entgegnete Nora und lächelte.
Sie hatte keinen großen Hunger, dennoch würde sie Jessy wegen natürlich ordentlich zugreifen.
Schon reichte Phil ihr eine Tasse. „Schwarz, ohne alles, richtig?"
Nickend nahm sie ihm die Tasse ab. „Danke."
Er hatte wohl am Abend zuvor gut aufgepasst, als sie ihren Kaffee in der Aurora getrunken hatte.
„Also setzt euch. Ist schon alles fertig", sagte Jessy und deutete auf den Esstisch im hinteren Teil des Raumes, direkt am Fenster.
Sie hatte den Tisch bereits gedeckt, die Waffeln und Pancakes standen bereit und in den beiden Warmhaltebehältern waren sicherlich die Eier, Würstchen und der Speck.
Dazu sah Nora noch Toast, Marmelade, Butter, Schokocreme und Ahornsirup.
„Ich war schon in Hotels mit weniger Auswahl", meinte sie anerkennend und setzte sich auf einen der Stühle.
Jessys Lächeln wurde noch breiter.
Mit einer Kanne Tee kam auch sie an den Tisch und setzte sich.
„Dann haut rein."
Es war ruhig, während sie sich die Teller füllten und aßen. Nur die leise Musik im Hintergrund war zu hören.
Noras Gedanken schweiften immer wieder zurück zu ihrem Traum.
Wie gehässig sich Phil angehört hatte und wie verzweifelt Jessy.
Jetzt saß sie hier mit beiden am Tisch und es war alles in bester Ordnung, trotzdem hielt dieses ungute Gefühl an, welches sie seit ihrem Albtraum begleitete.
„Wirklich sehr lecker", meinte sie nach einigen Minuten, um das Schweigen zu brechen und ihre Gedanken zu verdrängen.
„Danke", antwortete Jessy. „Ich koch eigentlich ganz gern, auch wenn man das jetzt nicht unbedingt zum Kochen zählen kann."
„Ach warum denn nicht? Bei manchen brennt der Toast an, der Speck wird nicht knusprig und im Rührei gibt's die Schale inklusive." Nora lächelte.
„Und zu manchen zählst du dich dazu?", hakte Phil grinsend nach.
Jessy gab ihm dafür einen Boxer gegen die Schulter.
Nora lachte auf. „So schlimm ists bei mir dann doch nicht. Ich bekomm schon auch was Gescheites auf den Tisch, aber meistens gibt's nur was Schnelles. Für mich allein groß zu kochen lohnt sich einfach nicht."
„Dann kochen wir demnächst mal zusammen, vielleicht ja für alle", schlug Jessy vor.
Zustimmend nickte Nora. Das würde ihr tatsächlich gefallen.
„Dann komm ich aber hoffentlich auch in den Genuss", forderte Phil.
Jessy tippte sich mit dem Zeigefinger überlegend an die Lippen. „Da muss ich echt nochmal drüber schlafen."
Aber schnell nickte sie grinsend. „Na klar. Wenn das alles hier vorbei und Hannah wieder bei uns ist geben wir ein Festessen für all unsere Freunde. Und wenn du lieb bist, gehörst du auch dazu."
„Ich bin immer lieb", entgegnete Phil und zwinkerte Nora zu.
Er konnte es wohl nicht lassen, brachte sie damit aber auch zum Grinsen.
„Entschuldigt", sagte sie, als ihr Handy laut piepste.
Phil winkte ab, Jessy griff selbst zu ihrem Handy, welches auf dem Tisch lag und vibrierte.
Let'sSchwätz
Gruppenchat
Jessy, Dan, Cleo, Richy,..
Richy:
Was in aller Welt ist #iamjake? :-/
[Img1256.jpg] (Foto einer Hauswand, ein Auge aufgesprayt, darunter #iamjake geschrieben)
Und wieso glaube ich, dass Nora darin verwickelt ist?
„Nora? Hast du das etwa gemacht? Und was soll das bedeuten?", fragte Jessy.
„Das hab ich natürlich nicht gemacht", entgegnete sie. „Ich erklär es dir, okay? Gib mir zwei Minuten. Ich muss zuerst mit Lilly schreiben."
„Mit Lilly? Ist das die eine Sache, die du gestern meintest?"
Nora nickte, Phil griff sich Jessys Handy und sah sich das Foto an.
„Jake? Ist das nicht dieser komische Typ von dem du erzählt hast?" Er sah Jessy fragend an.
„Ja ist er."
„Ich erklärs euch wirklich, okay? Ein Moment."
Schon öffnete Nora den Chat mit Lilly, die bereits online war.
Let'sSchwätz
Lilly
Online
Hast du gesehen, was Richy in der Gruppe gepostet hat?
Ja. Ich wollte dir auch gerade schreiben.
Es war ja nur eine Frage der Zeit, bis das passieren würde.
Und was jetzt?
Wir können ihnen doch nicht sagen, wer Jake wirklich ist.
Andererseits wäre es auch gut, wenn sie es wüssten.
Dann würden sie ihm vielleicht vertrauen.
Schon.
Aber wir sollten ihnen so wenig wie möglich erzählen.
Ja.
Können wir auch die Halbbrudersache weglassen?
Klar, wie du möchtest.
Also gut, bringen wir es hinter uns.
„Also Lilly weiß auch Bescheid, wir klären das im Gruppenchat. Und denk daran, ich bin nicht hier."
Nora sah Jessy fragend an, biss sich dabei auf die Unterlippe, wie sie es immer machte, wenn sie verlegen, peinlich berührt oder unsicher war.
„Okay. Ich bin gespannt. Die anderen sind auch schon online."
Let'sSchwätz
Gruppenchat
Jessy, Dan, Cleo, Richy,..
Cleo:
Sowas ähnliches hatte ich vorhin schon in meinem Feed.
Ist das in Duskwood?
Richy:
Ja gegenüber der alten Schule
Dan:
Jup. Definitiv Nora.
Wie könnt ihr dadurch auf mich schließen?
Dan:
Weils zu dir passt?
Cleo:
Was hat es denn damit auf sich Nora?
Naja, eigentlich war das gar nicht meine Idee...
Lilly:
Jake ist in Schwierigkeiten
In großen Schwierigkeiten
Ihr erinnert euch sicher an Lillys Video
Lilly:
Jake hat mir damals etwas erzählt.
Dan:
Wartet.
Was hat Lilly jetzt damit zu tun?
Das wollte sie gerade erklären.
Dan:
Es ist noch gar nicht so lange her, da hab ich euch einen guten Rat gegeben
Jagt Monster im Wald, rettet die Welt, alles kein Problem
Aber haltet euch von diesem Kerl fern.
Und stattdessen wechselt Lilly auch noch die Seiten, oder wie?
Richy:
Bin ich der Einzige, der irgendwie verwirrt ist?
Cleo:
Könnte es sein, dass er seine Drohung wahr gemacht hat Lilly?
Und du es uns jetzt nur nicht sagen kannst?
Lilly:
Wie meinst du das?
Cleo:
Hat Jake vielleicht etwas Privates von dir veröffentlicht?
Lilly:
Nein hat er nicht.
Dan:
Aber er hat dir damals gedroht und dann hast du das Video gelöscht.
Lilly:
Nein
Es war völlig anders.
Lasst mich doch mal erzählen.
Jake muss seine Identität zu seinem eigenen Schutz verschleiern.
Er hat mir und Nora etwas Wichtiges offenbart.
Er gehört zu uns, auch wenn ihr das jetzt nicht versteht.
Habe ich ja auch lange nicht.
Aber er ist in keiner Weise an Hannahs Verschwinden beteiligt.
Er will nur helfen sie zu finden.
Lilly:
Vertraut ihr uns. Also mir und Nora?
Richy:
Klar tun wir das.
Jessy:
Bedingungslos
Cleo:
Ja
Thomas:
Natürlich
Dan:
Jaja
Dann vertraut auch Jake.
Thomas:
Können wir dann wenigstens jetzt mit ihm reden?
Dan:
Pf ja ganz toll
Jake hat jeglichen Kontakt zu uns abgebrochen.
Lilly:
Vielleicht wurde er auch schon geschnappt.
Cleo:
Und warum jetzt #iamjake?
Seine Verfolger sollen dadurch verwirrt werden.
Wenn sie jeder Spur nachgehen müssen, und aus jedem Winkel der Erde jemand schreibt er ist Jake, haben sie viel zu tun.
Lilly:
Und aktuell hoffen wir eben, dass wir ihm helfen können unterzutauchen
Cleo:
Und könnt ihr uns dann wenigstens sagen, wenn es etwas Neues gibt?
Lilly:
Natürlich können wir das machen.
Richy:
Ich bin immer noch verwirrt.
Aber immerhin haben Nora und Lilly das Kriegsbeil begraben :-D
Wir können Hannah eben nur zusammen finden.
Thomas:
Und können wir euch irgendwie helfen?
Lilly:
Nein. Wir haben bereits getan, was wir konnten.
Jetzt heißt es abwarten.
Thomas:
Na gut. Dann wünsch ich euch beiden viel Glück damit.
„Also ich weiß ja nicht ob mir das gefällt", meinte Jessy. „Warum muss er seine Identität verbergen und untertauchen?"
„Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten", antwortete Nora. Sie wusste ja von was sie sprach.
„Schon, aber er hat doch sicher etwas gesagt. Etwas, was dich und Lilly sogar zusammen gebracht hat."
„Er hat Rätsel hinterlassen, die wir nur gemeinsam lösen konnten. Wir wollten ihm beide helfen, also haben wir uns zusammen gerauft. Am Ende dieser Rätsel bekamen wir eine Videobotschaft von ihm. Ich kann dir nicht alles erzählen, was er gesagt hat, aber er meinte darin, dass er untertauchen musste. Dann hatte Lilly die Idee mit dieser „I am Jake" Sache, um ihm zu helfen", erklärte Nora.
„Okay, das hab ich ja verstanden, warum diese Hashtag Sache, aber ich verstehe nicht, warum Lilly da plötzlich mit macht. Vor ein paar Tagen meinte sie noch du und Jake seien Mörder und Entführer? Er muss also irgendetwas gesagt haben, schon bevor die Rätsel anfingen, sonst hätte sie die doch gar nicht gemacht, oder?"
Nora wusste sie stand auf verlorenem Posten. Sie musste entweder Jessy vor den Kopf stoßen und sie wieder mal hinhalten mit den Worten „Vertrau mir" oder sie musste Jessy erzählen, in welcher Beziehung Jake zu Lilly und Hannah stand.
Sie warf einen vorsichtigen Blick zu Phil, der sie wieder ansah wie in der Nacht zuvor in seiner Bar.
Kalt, distanziert, misstrauisch.
Sie mochte Jake, vertraute ihm und wollte sein Vertrauen in sie nicht enttäuschen, trotzdem hatte sie sich entschieden.
Jake war wie ein Gespenst. Mal hier, mal dort. Dieses Leben kannte sie, dieses Leben hatte sie geführt und dieses Leben hatte sie zu jemandem gemacht, der sie eigentlich nicht war.
Aber gestern Abend und Nacht hatte sie Spaß gehabt, sich dabei gut gefühlt und die Zeit genossen.
Vielleicht war es endlich an der Zeit wieder zu Leben, statt nur zu Überleben.
Und mit Jessy und Phil, die hier waren, greifbar, echt und aus Fleisch und Blut, gelang ihr das besser, als mit einem Phantom am Telefon.
Sie würde Jessy einweihen und hoffte Jake würde ihr vergeben.
„Na gut. Aber es muss unter uns bleiben", fing sie an und wurde durch ein lautes Klopfen an der Wohnungstür zum Schweigen gebracht.
Unsicher folgte sie mit den Augen Phil, der zur Wohnungstüre ging, um sie zu öffnen.
Kaum hatte er den Türknauf gedreht wurde die Türe schon von außen aufgedrückt und er wich schnell einen Schritt zurück.
Vier Polizisten sah Nora. Zwei kamen auf Phil zu, packten ihn an den Armen, verdrehten sie auf den Rücken und legten ihm Handschellen an.
Zwei blieben im Türrahmen stehen.
Es war einer von ihnen, der sprach.
„Phil Hawkins, sie sind verhaftet."
„Was? Aber warum? Wegen was?", fragte Phil ungläubig.
Jessy sprang von ihrem Stuhl auf und lief auf die Beamten zu. „Lassen Sie ihn los. Er hat gar nichts gemacht."
„Bitte bleiben Sie zurück", sagte der Beamte, der zuvor Phils Verhaftung ausgesprochen hatte.
Aber Jessy ließ sich nichts sagen.
Sie zog am Arm eines der Polizisten, die nun zu beiden Seiten von Phil standen.
„Sie sollen ihn wieder frei lassen", sagte sie nun eindringlicher.
Nora packte sie von hinten. „Beruhig dich Jessy. Es wird sich schon aufklären."
„Aber sie können ihn doch nicht mitnehmen."
Jessy brach in Tränen aus und fiel Phil um den Hals.
Nora hatte keine Chance sie zurück zu halten.
Phil selbst stand reglos da, sagte nichts, rührte sich nicht.
„Mister Hawkins, kommen Sie bitte."
Jessy hing noch immer an Phil und einer der Polizisten griff nach ihr.
„Jessy bitte", meinte Nora ruhig. „Wir kriegen das hin."
Mutlos ließ Jessy von ihrem Bruder ab und ging zur Seite.
Nora schlang schnell ihre Arme um sie, bevor sie zusammenbrechen konnte.
Ihr Blick hing dabei jedoch an Phil.
Seine schönen braunen Augen, kupferfarben um die Pupille, dunkler werdend zum Rand der Iris hin, waren leer.
Die schwarzen, langen Haare hatte er im Nacken zu einem Knoten zusammen gebunden, aber ein paar dünne Strähnen hatten sich daraus gelöst und hingen ihm ins Gesicht.
Sein hübsches Gesicht nicht mehr misstrauisch oder distanziert, sondern ausdruckslos und resigniert.
Die Beamten neben ihm gaben ihm einen Schubser in Richtung Türe.
„Auf geht's", meinte einer von ihnen.
Phil lief los.
Nora wartete darauf, dass er sich noch einmal umdrehte, aber das tat er nicht.
Er verschwand durch die Türe, die einer der Beamten schloss.
Und sie starrte auf diese Türe, während Jessy sich in ihren Armen ausweinte.
Jessy saß auf dem Sofa und schniefte immer noch ab und zu.
Auch Nora hatte letztlich ihren Tränen freien Lauf gelassen, sich jedoch schneller wieder gefasst und nach ihrem Handy gegriffen.
Sie hatte Constanzes Nummer gewählt.
„Hallo Constanze", meldete sie sich. „Ich brauche dringend und am besten sofort einen guten Anwalt in Duskwood. Einen wirklich guten Anwalt. Es geht um einen Phil Hawkins, der gerade verhaftet wurde."
„Natürlich. Ich werde mich sofort darum kümmern Miss Drex. Bezahlung über die Stiftung oder privat?"
„Privat und kümmern Sie sich darum bitte auch gleich", sagte Nora.
„Werde ich. Nora Smiths Arbeit ist gekündigt, um Julia Winters Haus kümmert sich Edgar. Sobald das Grundstück freigegeben ist wird er sich um die Beseitigung der Trümmer kümmern und um einen Architekten, sollte das Haus wieder aufgebaut werden."
„Darüber habe ich noch nicht nachgedacht", gab Nora zu. „Ich werde nochmal Bescheid geben."
„Gut. Ach und Detective Radish erwartete Ihren Anruf."
„Werde ich noch heute machen. Am wichtigsten ist jetzt der Anwalt. Ich melde mich in dreißig Minuten wieder."
Schon hatte Nora aufgelegt und ließ sich neben Jessy auf das Sofa plumpsen.
„Mit wem hast du da telefoniert?", wollte Jessy wissen.
Nora dachte kurz nach. Als was würde sie Constanze bezeichnen? Mädchen für alles und damit meinte sie wirklich für alles?
Persönliche Assistentin?
„Das ist schwer zu beschreiben. Constanze ist eine Art Notarin und kümmert sich immer wieder um geschäftliche Angelegenheiten für mich. Oder auch um finanzielle. Und sie hat es drauf anderen Feuer unterm Hintern zu machen. Deshalb wird sie auch den besten Anwalt der Umgebung dazu bekommen, sich sofort auf den Weg zu Phil zu machen."
„Aber kann sich Phil den denn leisten?"
Nora winkte ab. „Das sollte jetzt nicht das Thema sein."
„Was meinst du, warum haben sie ihn festgenommen? Doch nicht wegen Hannah?" Erneut traten Tränen in Jessys Augen.
„Ich weiß es nicht", gab Nora zu. „Aber es könnte schon sein. Wegen Hannah und der Leiche."
Jessy hob den Kopf und sah sie verständnislos an. „Wie kommst du darauf?"
„Ich wollte es dir ersparen, weil ich mir sicher bin Phil hat mit der ganzen Sache nichts zu tun. Aber bei der Leiche wurde angeblich eine Streichholzschachtel der Aurora gefunden."
„Was? Wer hat das gesagt? Die Polizei hat doch gar nichts raus gelassen." Jessy war aufgesprungen und funkelte Nora böse an.
„Beruhig dich Jessy. Ich sagte doch, ich verdächtige Phil nicht. Und ich dachte, wenn das mit den Streichhölzern stimmt, dann hätte die Polizei sich doch schon lange an ihn gewandt. Aber das haben sie nicht, also hab ich die Sache nicht so ganz geglaubt und dir auch nichts davon erzählt", versuchte Nora zu erklären. „Ich wollte nur, dass du es jetzt weißt und nicht aus allen Wolken fällst."
Jessy setzte an etwas zu erwidern, dann ließ sie es bleiben und setzte sich wieder.
„Ich weiß du hast es nur gut gemeint. Aber was machen wir jetzt?"
„In einer halben Stunde rufe ich Constanze wieder an, dann wissen wir, welcher Anwalt sich um Phil kümmert. Egal was ihm vorgeworfen wird, er hat nichts getan. Er kommt da wieder raus!"
„Weißt du Nora. Das habe ich gemeint, als ich anfangs nicht mithelfen wollte und mich raushielt. Ich hab noch gesagt diese Einmischerei bringt noch einen Unschuldigen ins Gefängnis und jetzt hab ich selbst mitgemacht." Einzelne Tränen liefen über ihre Wangen. „Ich sag den anderen Bescheid."
Auch Nora nahm ihr Handy, nachdem Jessy geschrieben und es gepiepst hatte.
Let'sSchwätz
Gruppenchat
Jessy, Dan, Cleo, Richy,..
Jessy:
Phil wurde verhaftet.
Lilly:
Was?
Jessy:
Ich war gerade bei ihm. Die Polizei ist gekommen und hat ihn festgenommen.
Sie haben ihn in Handschellen abgeführt, wie einen Schwerverbrecher.
Richy:
Und was soll er angestellt haben?
Jessy:
Ich weiß es nicht
Richy:
Was?!
Jessy:
Ich weiß überhaupt nichts.
Das muss ein Missverständnis sein
Richy:
Ja eben, denk ich auch :-[
Jessy:
Es musste ja so kommen
Richy:
?
Jessy:
Deswegen wollt ich mich zuerst nicht einmischen, weil dann sowas passiert!!!
Dan:
Woah
Was geht denn hier ab
Cleo:
Jessy du musst dich jetzt erst mal beruhigen.
Jessy:
Ich muss jetzt raus finden, warum mein Bruder verhaftet wurde.
Richy:
Oh man
Das kam jetzt wirklich unerwartet
Cleo:
Mich würde der Grund der Festnahme interessieren
Auch Nora legte das Handy weg, so wie Jessy es schon getan hatte und ignorierte die weiteren Nachrichten.
Gerade Cleo und Richy, die ihr doch erst vor kurzem gesagt hatten, dass sie Phil verdächtigten, taten nun so unschuldig.
Vielleicht ja nur aus Rücksicht auf Jessy, der sie selbst ja auch nichts von den Streichhölzern gesagt hatte, aber sie selbst hatte ja auch nie geglaubt, dass Phil etwas mit der Sache zu tun hatte.
Trotzdem bekam sie immer mehr den Eindruck, dass jeder der Freunde mittlerweile etwas verschwieg und die anderen belog.
Sie selbst bildete da keine Ausnahme.
„Und jetzt?", fragte Jessy erneut mit hängendem Kopf. „Ich kann nicht einfach hier rum sitzen."
„Lass uns aufräumen, damit Phil das nicht noch erledigen muss, wenn er wieder daheim ist", schlug Nora vor.
„Du bist dir sicher, dass er unschuldig ist, oder? Du sagst das nicht nur mir zuliebe?"
Nora sah die Hoffnung in Jessys Augen, aber nicht deshalb nickte sie, sondern weil sie das wirklich glaubte.
„Ich kann nicht sagen warum, aber ja, ich bin mir sicher, dass Phil weder etwas mit Hannahs Verschwinden, noch mit der Leiche oder irgendetwas anderem zu tun hat."
„Danke Nora."
Kurz umarmten sich die zwei, dann machten sie sich daran aufzuräumen.
Als sie damit fertig waren und Nora sich noch einen Kaffee, Jessy noch einen Tee, genommen hatte und sie wieder auf dem Sofa saßen, rief Nora erneut Constanze an.
„Hallo Constanze. Ich habe Sie auf Lautsprecher. Mister Hawkins Schwester, Jessica Hawkins, hört mit."
„Guten Tag", grüßte Constanze knapp ohne Namen zu erwähnen.
„Haben Sie einen Anwalt gefunden?"
„Das habe ich. Stan Radowitz, der angesehenste Anwalt der Umgebung mit einer erstaunlichen Freispruchquote. Er ist bereits auf dem Weg, allerdings braucht er mindestens eine Stunde für den Weg. Auf dem Polizeirevier hat er sich bereits angekündigt und die Beamten daran erinnert, dass alles vor Gericht Null und Nichtig ist, falls sein Mandant verhört wird, bevor er den genauen Grund der Verhaftung kennt und selbst mit ihm gesprochen hat. Leider erhielt er telefonisch keine Aussage darüber, was Phil Hawkins vorgeworfen wird. Er meldet sich jedoch sobald er mit diesem gesprochen hat. Ich kann ihm auch gerne eine Telefonnummer weiterleiten, damit Sie selbst mit ihm in Kontakt treten können."
„Ich habe eine neue Nummer und kenn sie nicht auswendig. Gibst du ihr deine Jessy?"
„Klar. Haben Sie etwas zu schreiben?"
„Habe ich Miss Hawkins", antwortete Constanze.
Schnell diktierte Jessy ihre Handynummer und bedankte sich.
„Vielen Dank Constanze. Ich melde mich wieder", verabschiedete sich Nora.
„Ein Moment noch. Denken Sie an den Anruf bei Samuel Radish? Er betonte, dass es wichtig sei."
„Natürlich. Ich werde mich sofort darum kümmern. Bis dann Constanze."
„Auf Wiederhören."
Nora legte auf und spürte Jessys fragenden Blick auf sich.
„Was?", fragte sie vorsichtig.
„Das alles hat sich so geschäftsmäßig angehört und ich weiß gar nicht, was du beruflich machst", meinte Jessy.
Nora grinste. „Darauf kommst du nie."
„Irgendwo im Management eine großen Firma?", riet Jessy.
„Nein."
„In einer Bank?"
Nora schüttelte den Kopf.
„An der Börse?"
„Wieder falsch. Denk nicht an den Anruf, sondern daran wie du mich kennst. Was würdest du mir dann zutrauen?", wollte Nora wissen und war wirklich gespannt.
„Hm. Irgendwas mit Tieren? Oder mit Menschen. Du bist hilfsbereit. Krankenschwester vielleicht?"
„Nö."
„Ich komm echt nicht drauf. Verrat es mir."
„Okay", stimmte Nora zu. „Ich arbeite in einer großen Bibliothek und begutachte und restauriere alte Bücher. Nichts mit Menschen um mich, nur ich und alte, dicke Schinken."
„Wow", entfuhr es Jessy. „Passt irgendwie genauso wenig zu dir wie so ein Beruf in dem du Anzug und Kostüm trägst."
Sie grinste.
„Findest du?", fragte Nora. „Ich trag gern mal nen Anzug in meinem kleinen Kabuff. Dazu rauch ich ne Zigarre, trink nen Whiskey und halt den Büchern einen Vortrag über den aktuellen Aktienindex, natürlich um drei Uhr morgens, wenn der Japanische Markt geöffnet ist."
Jessy fing an zu lachen und Nora stimmte mit ein.
Dass Phil nun ein Anwalt zur Seite stand, hatte die angespannte Stimmung ein wenig gelöst.
Doch nun hieß es wieder warten und das fiel sowohl Nora, als auch Jessy schwer.
„Wenn der Anwalt noch eine Stunde braucht, bis er dort ist, ist Phil sicher nicht pünktlich zurück um die Aurora zu öffnen", überlegte Jessy. „Soll ich ein Schild an die Türe hängen, dass sie geschlossen bleibt?"
Nora zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung wie das hier so aufgenommen wird. Ist denn sonntags sonst viel los?"
„Mal so, mal so. Allerdings könnte es schnell zu Gerüchten kommen. Sicher wird jetzt schon geredet, weil die Polizei hier war. Duskwood, du kennst es ja mittlerweile", meinte Jessy. „Aber ich allein krieg das nicht hin. Milow ist zwar da, aber in der Küche."
„Wie wärs mit ner Aushilfe namens Anne?"
„Was? Das würdest du wirklich tun?" Jessy fiel ihr um den Hals.
„Klar, warum nicht? Ich hab schon mal in einer Kneipe gearbeitet."
Nora hatte damit kein Problem, zumal sie so vielleicht auch ein wenig dazu beitragen konnte, dass Jessy und Phil sich besser vertrugen. Die letzten Tage und die Aktionen der anderen hatten dazu nicht gerade beigetragen.
Und sie tat es für Phil, wenn sie ehrlich zu sich selbst war. Vielleicht sogar, um einen kleinen Vorteil bei ihm zu gewinnen.
„Aber davor muss ich nochmal ins Motel."
„Ich muss auch nach Hause. Die Aurora öffnet um zwei, aber wir sollten ein wenig früher dort sein. So um halb?", erkundigte sich Jessy.
Nora nickte zustimmend. „Ich bin da. Hast du einen Schlüssel?"
„Ich nicht, aber Phils Schlüssel hängt hier." Jessy deutete auf das Schlüsselbrett neben der Wohnungstüre. Dort hing ein Autoschlüssel, ein kleiner Schlüsselbund mit zwei oder drei Schlüsseln daran und ein größerer mit mindestens sechs.
Aus der Entfernung konnte Nora es nicht genau erkennen.
„Vergiss auch nicht seinen Hausschlüssel, nicht dass er dann vor verschlossener Türe steht", sagte sie und stand auf, um in ihre Jacke zu schlüpfen. „Soll ich dich heim fahren? Du musst mir nur den Weg erklären."
„Du bist mit dem Auto da?"
Nora nickte. „Mir war nicht so nach Laufen."
„Okay. Ich muss mich auch echt schon beeilen, wenn ich noch duschen will." Jessy stand nun auch auf, nahm ihre Tasche und die beiden Schlüsselbunde vom Brett.
Gemeinsam verließen sie Phils Wohnung.
„Das Auto steht da drüben", sagte Nora und zeigte ein Stück die Straße runter.
Jessy grinste. „Ist das der kleine Bruder von Phils Auto?"
„Sieht fast so aus", antwortete Nora. „Das dachte ich gestern Nacht schon."
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