Vergangenheit
Ein lautes Brummen erfüllte das Krankenzimmer und Phil sah sich irritiert um.
Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass es aus der Schublade des Tischchens kam.
Schnell zog er sie auf, wollte nicht, dass Nora aufwachte, aber es war zu spät.
Noch ehe er ihr Handy in der Hand hatte, schlug sie die Augen auf.
„Was?", fragte sie leise und musste sich kurz orientieren, dann sah sie Phil und lächelte.
Das Handy in seiner Hand hatte gerade aufgehört zu klingeln, es war ihr Handy.
Hector hatte es wohl in die Schublade gelegt.
Daneben hatte ihr Zimmerschlüssel, ihr Geldbeutel und ein Buch gelegen.
„Ich war zu spät, sorry", sagte er und hob das Handy etwas an.
„Wer war es?", fragte sie ein wenig ängstlich.
„Hab ich nicht mehr gesehen."
„Aurora", sagte sie leise. „Das Passwort."
Sie wollte nicht nachsehen, wer da angerufen hatte, wollte nicht wissen, ob Davids krankes Spiel doch noch weiter ging.
Ein Lächeln huschte über Phils Gesicht.
Er setzte sich wieder, gab das Passwort ein und sah nach, welchen Anruf sie verpasst hatte.
Eine Nummer, die nicht eingespeichert war.
Er war gerade dabei ihr diese Nummer zu diktieren, da klingelte sein Handy.
Es war die gleiche Nummer, die nun ihn anrief.
„Hallo?", meldete er sich.
„Hier ist Detective Radish. Spreche ich mit Phil Hawkins?"
„Ja", antwortete er. Nora sah ihn fragend an.
„Gut. Ich habe es gerade auch schon bei...", der Polizist machte eine Pause, schien zu überlegen, wie er sie nennen sollte. „...Nora versucht. Sind Sie bei ihr im Krankenhaus? Ich würde gerne vorbei kommen, sie sehen und auf den neusten Stand bringen."
„Ja, ich bin noch hier. Sie ist gerade wieder aufgewacht."
„Sehr schön", meinte Radish. „Ich bin in ungefähr einer halben Stunde da."
Schon hatte er aufgelegt.
„Detective Radish kommt vorbei", klärte Phil Nora auf.
Diese nickte leicht, biss sich verlegen auf dir Unterlippe.
„Habe ich irgendwelche Nachrichten auf dem Handy?", wollte sie leise wissen. In ihrem Kopf schrie David ihr all die hässlichen Dinge zu, die ihre Freunde über sie dachten.
Aber Phil war hier, obwohl David auch gesagt hatte, dass er sie hassen würde.
„Keine ungelesenen", antwortete Phil.
„Und gelesene", wollte sie es genauer wissen. Vielleicht hatte Hector sie ja gelesen.
Zu spät fiel ihr ein, was Phil noch finden könnte, wenn er die Chats durchsah. Die Chats zwischen ihm und Jessy. Die Chats mit denen sie ihre Freunde ausspioniert hatte.
Er hatte kurz auf dem Display getippt, jetzt sah er skeptisch darauf und Nora schloss die Augen.
Sie wollte nicht die Enttäuschung in seinen Augen sehen, wenn er feststellte, dass sie ihn hintergangen hatte.
Konnte man das überhaupt so ausdrücken?
„Du hast keine Chats auf dem Handy", meinte er und sie riss ungläubig die Augen wieder auf.
„Wie?", fragte sie.
Phil gab ihr das Handy in die Hand und sie sah selbst nach.
Tatsächlich, alle Chats waren gelöscht, die Kontakte allerdings noch da.
Und als sie in die Telefonkontakte wechselte sah sie, dass Hector seine Nummern eingespeichert hatte.
Außerdem die von Nadi.
Sie grinste leicht.
Phil sah sie fragend an.
„Ich denke das war Nadi", erklärte sie. „Und wahrscheinlich hat er mein Handy jetzt sicherer gemacht, als andere ihren Computer."
Sie legte das Handy auf die Decke und ihre Hand auf seine.
Radish hatte sich auf den Stuhl neben Noras Bett gesetzt, auf dem zwei Stunden zuvor noch Hector saß.
Nach einer herzlichen Begrüßung und einem kurzen Geplänkel zwischen Radish und Nora, fing der Detective an von den Ermittlungen zu erzählen.
„Als Hector plötzlich da stand und mir all die Sachen von David und Jacob erzählte war ich schockiert. Sie hatten es geschafft uns an der Nase herumzuführen. Ich hab sofort ein Team zusammen gestellt und wir sind nach Duskwood aufgebrochen. Zuerst haben wir das Haus beobachtet, einen Zugang gesucht. Dann erfuhren wir davon, dass David, oder Jacob, einen Fahrservice angefordert hatte. Von seinem Haus zum Flughafen. Mir war klar, wir haben nur diese eine Chance, also musste alles gut gehen."
Er fuhr sich übers Gesicht. Auch an ihm ging diese Geschichte nicht spurlos vorbei, auch wenn er erst seit dem Tag zuvor von Noras Verschwinden erfahren hatte.
„Nora war also die ganze Zeit über in Duskwood?", murmelte Phil leise.
Radish nickte.
„Hector hat ein kleines Problem, was die Polizei angeht. Sein Vertrauen in uns ist auf ein Minimum geschrumpft, nachdem David wieder frei kam. Aber er weiß, dass auch ich ein Problem damit hatte. Deshalb kam er zu mir, statt zur Polizei in Duskwood. Wir fingen den Fahrer ab, setzten statt ihm einen meiner Leute ein. Sobald David die Tür geöffnet hatte wurde er festgenommen und wir stürmten das Haus. Dich zu sehen, bewegungslos, blutend, es war schrecklich. Aber du warst am Leben und frei. Leider konnte ich nicht verhindern, dass du unter deinem richtigen Namen eingeliefert wurdest. Das ganze Wohnzimmer war voll mit Bildern von dir, Zeitungsberichten, Briefen. Dein Name stand überall."
„Schon okay", meinte Nora lächelnd. Wie könnte sie ihm böse sein, er hatte sie da raus geholt?
Er erwiderte das Lächeln und fuhr fort.
„Bisher haben wir keinerlei Hinweise darauf, dass David mit jemandem zusammen gearbeitet hat. Keine größere Geldsummen, die er an jemanden überwies, keine Kontakte die er in letzter Zeit anrief. Nichts Nachvollziehbares bisher. Dafür jede Menge Beweise für das, was er dir angetan hat. Und Hannah. Sein detaillierter Plan, Videos, Bilder, Chats. Wir haben alles auf seinen Computern gefunden und sichten das Material bereits."
„Er hatte keinen Kontakt zu anderen die letzten Tage? Bist du dir sicher?", fragte Nora nervös.
Davids Drohung ihren Freunden gegenüber klang ihr noch immer in den Ohren.
„Natürlich kann ich es noch nicht komplett ausschließen, bevor wir alles durchgegangen sind", meinte er. „Aber dank der Kameras im ganzen Haus werden wir wohl die letzten Wochen komplett überprüfen können. Wieso?"
„David wollte heute mit mir nach Neuseeland fliegen. Er hat dort ein riesen Grundstück gekauft und wollte neu anfangen. Damit ich ihn freiwillig begleite hat er gesagt, er hätte in Auftrag gegeben jeden der Clique umzubringen, wenn ich es nicht tue. Auch Phil."
Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen, sah stattdessen auf die Bettdecke.
Aber sie fühlte, wie Phil ihre Hand leicht drückte.
„Bisher deutet nichts darauf hin", sagte Radish und überlegte kurz. „Aber ich werde dafür sorgen, dass die Polizei ein Auge auf sie alle hat."
„Wie lange wird es wohl gehen, bis alles gesichtet ist?", hakte Phil nach.
Radish zuckte mit den Schultern. „Ein paar Wochen wahrscheinlich. Genug für einen Haftbefehl haben wir aber schon jetzt. Und ich werde euch natürlich auf dem Laufenden halten."
Das leise Klopfen an der Türe unterbrach das Gespräch.
Herein kam eine Krankenschwester mit einem Tablett.
Sie stellte es auf dem Tischchen ab.
„Es tut mir leid, aber ich muss Sie bitten zu gehen", sagte sie. „Die Besuchszeiten sind vorbei."
„Natürlich", meinte Radish und Phil nickte.
Die Krankenschwester ging wieder nach draußen und Radish verabschiedete sich.
Als Phil und Nora alleine waren, war es auch für sie Zeit sich zu verabschieden.
Noch immer wusste Phil nicht, was da zwischen ihnen war, aber er war sich sicher, dass da etwas war.
„Also dann. Ich muss wohl auch gehen", meinte er. „Ich komme morgen früh wieder, wenn du willst."
„Natürlich", antwortete sie.
„Und wenn etwas ist, dann meld dich. Egal wann, okay?"
Sie nickte.
„Ach, ähm... Jessy hat gemeint ich soll dich fragen, ob sie dich auch besuchen kommen darf."
„Klar", antwortete sie etwas unsicher. „Wenn sie mich wirklich sehen will."
„Will sie", versicherte er. „Sie hat sich Sorgen gemacht."
Was und warum auch immer David ihr über ihre Freunde eingeredet hat wusste Phil nicht, aber heute wollte er Nora damit auch nicht mehr belästigen. Sie sollte sich ausruhen.
„Dann geh ich mal. Bis morgen."
Er bewegte sich jedoch nicht und auch Nora lockerte den Griff um seine Hand nicht.
Stattdessen sahen sie sich in die Augen, wie damals in der Bar, und wieder war die Spannung zwischen ihnen spürbar.
Er beugte sich über sie, seine Lippen legten sich ganz sanft auf ihre.
„Nochmal", flüsterte sie, als er sich schon wieder von ihr löste.
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und er küsste sie erneut. Diesmal intensiver, länger, aber immer noch zurückhaltend.
Sie brauchte Ruhe, rief er sich in Erinnerung, würde er jetzt nicht gehen, würde er gar nicht mehr gehen.
Langsam richtete er sich auf.
„Jetzt muss ich aber wirklich los. Ruh dich aus."
Radish hatte im Flur auf ihn gewartet und wollte noch mit ihm sprechen.
Phil lud ihn kurzerhand zu sich in die Aurora ein.
Sofort stimmte der Detective zu.
Er übernachtete ohnehin in Duskwood und konnte jetzt ein Bier vertragen.
„Guten Morgen."
Phil betrat das Krankenzimmer in der einen Hand einen Kaffeebecher, in der anderen einen Strauß orangener Gerbera.
„Hallo", grüßte Nora zurück und lächelte leicht.
Nach dem Aufwachen, war sie sich nicht mehr sicher gewesen, ob Phil, Hector und Radish tatsächlich da gewesen waren. Und sie hatte sich nicht getraut Phil zu schreiben.
Wahrscheinlich die Nachwirkungen des Narkosemittels.
Aber jetzt war er wieder da und hatte ihr sogar Blumen mitgebracht.
„Danke", sagte sie, als er ihr den Strauß überreichte. „Woher weißt du, dass ich Orange mag?"
„Da hat mir ein netter Detective einen Tipp gegeben", meinte er grinsend. „Aber DA bin ich ganz allein drauf gekommen."
Er reichte ihr den Thermokaffeebecher.
Sie lächelte. „Danke. Du bist der Beste. Die Brühe hier ist echt schlimm."
Es klopfte leise und sofort öffnete sich die Türe.
Eine Schwester kam herein und brachte eine Blumenvase.
Phil nahm sie ihr ab und bedankte sich.
Er stellte die Vase auf das Tischchen und stellte dann die Blumen hinein.
„Wie geht's dir heut?"
„Ganz gut", gab sie zurück. „Die Schmerzen halten sich in Grenzen."
„Freut mich zu hören", sagte er. „Jessy kommt etwas später, aber sie kommt auf jeden Fall."
„Schön."
Er stand unsicher neben dem Bett, rieb sich nervös den Nacken.
Sie biss sich verlegen auf die Unterlippe.
Ohne es zu wissen beschäftigte sie beide die gleiche Frage.
Was war da zwischen ihnen?
Schließlich war es Nora, die etwas unternahm.
Sie rutschte ein wenig zur Seite und klopfte mit ihrer rechten Hand auf die Matratze neben sich.
Er zögerte einen Augenblick und sie war erleichtert, als er sich dann doch zu ihr setzte und nicht den Stuhl heran zog.
Zuerst griff er nach ihrer Hand, dann beugte er sich endlich zu ihr hin und küsste sie.
Schüchtern, als wolle er sich zuerst langsam vortasten, dann intensiver, als sie ihre Lippen öffnete.
Nach Atem ringend lösten sie sich voneinander.
„Jetzt geht's mir noch besser", meinte Nora schmunzelnd.
Phil zwinkerte ihr zu. „Jederzeit wieder."
Ihr Herz setzte offenbar einen Schlag aus, nur um dann noch schneller zu schlagen.
Da war er wieder.
Der flirtende Phil, den sie mochte und vermisst hatte.
Aber dann wurde sie ernst.
„Ich bin Aurora Drex", sagte sie leise. „Mir gehört die Drex Hotelkette."
Phil sah sie mit großen Augen an.
„Die Drex Hotels? Die es in ganz Amerika gibt?"
Sie nickte.
„Okay", sagte Phil.
Jetzt wusste er wie bekannt Nora tatsächlich war. Jeder in Amerika kannte diese Hotelkette.
„Ich will nicht, dass sich deshalb etwas zwischen uns ändert", sagte sie. „Ich bin eigentlich trotzdem die Nora, die du kennengelernt hast."
Phil sah sie fragend an.
„Naja, ich bin keine hochnäsige Vorstandsgeschäftsfrau. Ich gehe nicht auf irgendwelche Sitzungen, auf goldene Klos, in überteuerte Restaurants oder auf Promigalas."
„So hab ich dich auch nicht eingeschätzt", gab Phil zu.
Sie lächelte kurz.
„Ich hab die Medien schon gemieden, bevor die Sache damals mit David war. Wollte nie ins Rampenlicht. Ich hab nie wirklich in diese Welt gepasst. Dann habe ich mich noch gegen ein Studium entschieden, mit dem ich mich ins Unternehmen hätte mit einbringen können. Dann war ich ohnehin schon fast eine Ausgestoßene. Aber jetzt werde ich wohl wieder in den Medien aktuell sein. Meine Vergangenheit wird wieder aufgerollt und ich kann nichts dagegen tun. Aber ich will, dass du all das nicht aus der Zeitung oder dem Internet erfährst, sondern von mir. Und zwar alles."
Phil drückte ihre Hand. „Du musst das aber nicht."
„Ich weiß", gab sie zurück. „Aber..."
Sie brach ab und sah ihn an. Ihre Blicke trafen sich.
„Ich hatte nach David keine Beziehung mehr. Zum einen, weil ich niemandem so richtig vertraut habe, weil ich nie wusste, ob ich nicht demnächst wieder eine andere Identität annehmen würde, zum anderen, weil ich wohl nie jemanden kennengelernt habe, mit dem ich mir eine Beziehung vorstellen konnte. Jetzt ist das anders. Radish hat sich gemeldet, ein Mittäter ist immer unwahrscheinlicher, David hat alles allein geplant und wird dafür auch ins Gefängnis wandern. Ich bin frei, muss nicht mehr untertauchen. Und jetzt kenn ich dich."
Phil sah sie überrascht an, allerdings nicht wegen dem, was sie gesagt hatte, sondern wegen ihrer Ehrlichkeit.
Nora hatte das offensichtlich anders aufgefasst.
„Nicht dass ich damit sagen will, dass wir zusammen sind", sagte sie schnell. „Wir kennen uns ja noch gar nicht richtig. Aber du bist der erste, bei dem ich mich gefragt habe, ob ich überhaupt noch zu einer Beziehung fähig bin."
„Und bist du es?", fragte er nach.
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht."
Wieder drückte er ihre Hand. „Wenn du hier raus kommst und du in Duskwood oder zumindest in der Nähe bleibst, würdest du dann mit mir ausgehen?"
Sie ließ den Kopf hängen.
Wohin sie ginge nach ihrer Entlassung wusste sie noch gar nicht und ob Phil das noch wollte, wenn er ihre Geschichte hörte, auch nicht.
„Wenn du das dann immer noch willst, frag mich nochmal nachdem ich dir alles erzählt habe."
„Bestimmt", antwortete er.
Sie lachte auf, nicht wirklich amüsiert.
„Warte erst mal ab."
Er hatte für sich noch einen Kaffee und für Nora ein Wasser besorgt und sich dann wieder zu ihr aufs Bett gesetzt.
„Meine Kindheit war eigentlich ganz schön. Meine Eltern hatten viel zu tun mit den Hotels, aber sie haben mich geliebt. Unser letztes gemeinsames Weihnachten haben wir in Norwegen gefeiert und ich habe die Polarlichter gesehen. Zwei Monate später stürzte ihr Hubschrauber ab. Sie haben es nicht überlebt."
Schnell wischte sie sich die Tränen vom Gesicht.
Phil stand auf, drehte sich um und setzte sich so wieder neben sie, dass er ihr einen Arm um die Schulter legen konnte und zog sie an sich.
Sie bettete ihren Kopf auf seine Schulter.
„Ich kam aufs Internat", redete sie leise weiter. „Danach ging ich aufs College und studierte historische Hilfswissenschaften. Gleichzeitig übernahm ich die Hotelkette, stellte fähige Leute ein, die sich damit wirklich auskannten. Entgegen der Meinung vieler funktioniert es so bis heute. Ich kam mit David zusammen. Es lief eigentlich ganz gut, wir dachten sogar übers heiraten nach. Dann wurde ich schwanger. Ich hab mich schon immer ehrenamtlich engagiert, hab bei einem Große-Geschwister-Programm mitgemacht, war Betreuerin in einem Jugendzentrum, half in der Suppenküche. Am Anfang der Schwangerschaft ging es mir schlecht. Ich litt unter Morgenübelkeit, die allerdings den ganzen Tag über anhielt. Erst Ende des dritten Monats wurde es besser. Danach fing ich auch wieder mit meinen ehrenamtlichen Aufgaben an. Als ich schon Mitte des fünften Monats war fühlte ich mich nicht gut. Trotzdem ging ich in die Suppenküche. Zwei andere Helfer waren krank und ich war davor schon so oft ausgefallen, deshalb hatte ich ein schlechtes Gewissen. Nach drei Stunden bekam ich starke Bauchschmerzen, auf der Toilette bemerkte ich das Blut. Ich hatte eine Fehlgeburt, hatte mein kleines Mädchen verloren."
Die Tränen liefen ihr nun über die Wangen, ohne dass sie diese wegwischte. Es hätte ohnehin nichts gebracht.
Phil schob sich noch ein wenig näher an sie, strich mit seiner freien Hand sanft über ihre Haare.
„Ich war am Boden zerstört, David auch. Aber nicht sehr lange. Nach ein paar Tagen fing er an mir Vorwürfe zu machen. Ich wäre Schuld an der Fehlgeburt, ich hätte nicht arbeiten gehen dürfen und schließlich meinte er sogar, ich hätte das absichtlich gemacht. Mal meinte er, weil ich kein Kind wollte, mal weil ich nicht dick werden wollte, man aber langsam ein Bäuchlein sah, mal weil ich ihn nicht liebte. Mir ging es immer schlechter, weil ich mir langsam tatsächlich selbst die Schuld gab. Aber der Arzt meinte es wäre auch passiert, wenn ich zuhause im Bett gelegen wäre. Schließlich trennte ich mich von David. Es gab nichts mehr zwischen uns außer Vorwürfen. Nach einer Weile fing er dann an mich zu stalken. Ich bekam über hundert Anrufe am Tag, Briefe, Geschenke, Nachrichten. Er wartete vor meiner Wohnung, bei meiner Arbeit, war ganz zufällig im gleichen Restaurant wie ich. Nach tausenden Entschuldigungen von ihm fingen die Bedrohungen an. Irgendwann bekam ich Polizeischutz. Trotzdem hat er mich geschnappt und in seine Wohnung gebracht. Ich saß dort drei Tage mit ihm fest. Und drei Tage lang hat er versucht eine Familie mit mir zu gründen. Er ist der Meinung, ich schulde ihm ein Kind. Radish hat mich dort raus geholt, David kam ins Gefängnis und als er wieder raus war, nach zwei Monaten, habe ich Hector als Bodyguard angestellt. Ich habe damit gerechnet, David schnell wieder zu sehen. Aber drei Jahre lang hatte ich Ruhe. Ich war drei Monate in einer Klinik wegen Depressionen, zog über zehnmal um, legte mir an die zwanzig verschiedenen Identitäten zu. Es war das einzige Mal, dass ich tatsächlich froh war genug Geld zu besitzen. Ich habe vier Häuser, drei Wohnungen, ein Hausboot, einen Wohnwagen in einem Trailerpark, fünf verschiedene Autos. Alle für verschiedene Identitäten. Ausweise, Kreditkarten, Bankkonten, Führerscheine. Alles ganz offiziell. Du hättest meine Karte damals also annehmen können."
Sie lachte kurz.
„Ich fing wieder an mich sicherer zu fühlen und erschuf eine letzte Identität. Nora Smith. Mein Vater nannte mich immer Nora, Aurora war ich nur, wenn ich etwas angestellt hatte. Selbst David wusste das nicht, also hielt ich diesen Namen für sicher. Diesen Namen trug ich über sieben Monate, bis ich zu Anne wurde."
„Nach Lillys Video", meinte Phil, der ihr bisher nur zugehört hatte.
Sie nickte.
„David hat in meinem Motelzimmer auf mich gewartet, mich betäubt und verschleppt. Er erzählte mir von seinem Plan. Er hatte das alles geplant. Hannahs Entführung, der Mann ohne Gesicht, Dans Unfall, der Angriff auf Jessy. All das war er und gleichzeitig war er auch Jake, der mich immer wieder dazu ermutigt hat weiter zu machen, mir das Gefühl gab ich konnte helfen, mein Vertrauen erschlichen hatte. Alles nur, um mich nach Duskwood zu locken, damit er an mich ran kam. Damit ich in seine Falle ging und er doch noch eine Familie mit mir gründen könnte. Er erzählte mir davon, dass Hannah wieder zurück sei und ihr dachtet ich stecke hinter ihrer Entführung. Deshalb hassen mich alle und sind froh, dass ich weg bin. Ich hätte niemanden mehr, außer ihn. Dann sagte er gestern, dass wir gleich nach dem Mittagessen abgeholt werden und nach Neuseeland fliegen. Wenn ich nicht mitkäme würde er euch alle umbringen lassen und ich müsste mir Videos davon ansehen. Natürlich wollte ich das nicht, aber ich wollte auch nicht ins Ausland, damit wäre jede noch so kleine Chance irgendwann gefunden zu werden zunichte gemacht. Er ging aus dem Zimmer und ich griff nach dem Steakmesser. Ich sah keinen anderen Ausweg. Ich wollte ihm wenigstens die Möglichkeit nehmen, mit mir ein Kind zu bekommen. Er durfte nicht gewinnen."
„Hat er...", Phil räusperte sich und fing noch einmal an. „Hat er dich angefasst?"
Sie schüttelte den Kopf.
Auch wenn ihn das ein bisschen beruhigte war er aufgewühlt.
David wäre er am liebsten an die Gurgel gesprungen, Nora wollte er am liebsten all die Erinnerungen nehmen und sie in Zukunft vor allem Bösen schützen.
Aber er war sprachlos.
Er fand einfach keine Worte dafür auszudrücken, wie er das alles fand, wie leid ihm das alles tat.
Also sagte er nichts.
Und Nora war ihm dankbar.
Sie lehnte noch immer mit dem Kopf gegen seine Schulter, er hatte seinen Arm um sie gelegt und hielt sie fest.
Als Jessy ungefähr eine Stunde später kam, saßen sie noch immer so zusammen.
Jessy grinste breit, umarmte Nora so gut es ging und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett.
Phil stand auf und ließ die beiden Frauen alleine.
Er musste ohnehin noch telefonieren.
Nora hatte nämlich beschlossen auch ihren Freunden ihre Geschichte zu erzählen, wenn auch in sehr gekürzter Version, aber sie würde damit auch zugeben, dass sie in Duskwood war.
Er telefonierte mit Hector und mit Radish.
Sie gaben grünes Licht, glaubten Nora wäre sicher, auch unter ihrem echten Namen.
Radish meinte zudem, dass er wegen Davids falschem Namen und weil Wochenende war, die Veröffentlichung des Falls etwas bremsen konnte. So würde die Presse wohl frühestens am nächsten Tag davon erfahren.
Eine Neuigkeit, die Nora sicher gefiel, denn laut Aussage der Ärzte durfte sie am nächsten Morgen das Krankenhaus verlassen, dann vielleicht sogar noch unerkannt.
Was allerdings nach ihrer Entlassung wäre, hatten sie noch nicht besprochen.
Bevor sie dazu gekommen waren, war Jessy gekommen.
„Und du willst das wirklich tun?"
Phil sah Nora aufmerksam an.
Er stand am Fenster, Jessy saß noch immer auf dem Stuhl neben dem Bett.
Nora nickte.
„Dann wissen sie es alle gleich und können selbst entscheiden was sie tun wollen."
„Ich komm auf jeden Fall", meinte Jessy. „Und dir ist hoffentlich klar, dass ich dir an gar nichts die Schuld gebe."
Nora sah zu ihr und schenkte ihr ein Lächeln.
Ihr hatte sie etwas mehr erzählt, als sie den anderen gleich schreiben würde, aber nicht so viel, wie Phil.
Jessy musste nicht wissen, was David von ihr wollte. Auch nicht, warum er das wollte.
Irgendwann vielleicht, aber heute konnte sie nicht noch einmal darüber reden.
„Also, dann mach ich das gleich."
Sie griff nach ihrem Handy.
Den Text hatte sie bereits an Jessy geschickt, sie und Phil hatten es gelesen und zugestimmt.
Jetzt öffnete sie die Let'sSchwätz App und erstellte einen Gruppenchat.
Von Jessy hatte sie auch Hannahs ID bekommen.
Let'sSchwätz
Gruppenchat
Jessy, Dan, Lilly,...
Du hast den Gruppenchat erstellt
Du hast Jessy, Dan, Lilly, Richy, Cleo, Thomas, Hannah hinzugefügt
Hallo
Mein echter Name ist Aurora Drex.
Ich bin Inhaberin der Drex Hotel Gruppe.
Als ich mich von meinem Exfreund getrennt habe, hat er angefangen mich zu stalken und mich dann entführt.
Wegen eines Verfahrensfehlers wurde er nach zwei Monaten wieder entlassen und ich nutzte einen anderen Namen.
Sogar mehrere andere Namen.
Insgesamt knapp 20 Identitäten.
Eine davon war Nora Smith.
Die Nora, die ihr kennengelernt habt.
Also ja, ich habe euch angelogen was meinen Namen betraf.
Aber ich hoffe ihr glaubt mir, dass ich nichts von den Plänen meines Ex wusste, wirklich immer nur Hannah finden wollte und auch nicht wusste, wer sich hinter Jake verbarg.
Mein Ex gab sich als Jake aus, entführte Hannah und schickte Thomas meine ID.
Er war der Mann ohne Gesicht, hatte alles geplant, euch bedroht und geschadet, um mich nach Duskwood zu locken.
Und das hat er geschafft.
Ich kam nach Duskwood
Hannah wurde in der Nacht freigelassen, in der er mich entführte und er hatte, was er wollte.
Ich will kein Mitleid von euch, ich wollte nur, dass ihr es von mir selbst erfahrt.
Bevor die Zeitungen und das Internet in nächster Zeit mein halbes Leben öffentlich breittreten.
Ich verstehe, wenn ihr nichts mehr mit mir zu tun haben wollt.
Immerhin bin ich der Grund warum Hannah verschwand, Thomas Höllenqualen durchlebte, Lilly Ärger mit der Polizei nach ihrem Video hatte, Dan verunglückte, Richy markiert, Jessy angegriffen, Cleo bedroht und Phil verhaftet wurde.
Und darum werde ich den Gruppenchat jetzt auch verlassen.
Für diejenigen unter euch, die mich jedoch trotzdem kennenlernen wollen...
...ich bin morgen Abend ab sieben in der Aurora.
Nora hat die Gruppe verlassen
Sie wollte gar nicht wissen, was die anderen jetzt schrieben.
Jessy war kurz nach ihrer Nachricht gegangen, Phil musste gegen eins los, um die Aurora zu öffnen.
Am nächsten Morgen kam er so gegen zehn wieder, um sie abzuholen.
Er hatte sogar daran gedacht im Motel vorbei zu gehen, um ihr frische Kleidung mitzubringen.
Nach einer letzten Untersuchung zog sich Nora um und verließ mit Phil zusammen das Krankenhaus.
Da von Reportern weit und breit keine Spur war, nahm sie auch seine Einladung zum Mittagessen an und ließ sich in Pauls Diner einen Burger schmecken.
Dann brachte er sie ins Motel.
Nachdem Phil gegangen war, um die Aurora zu öffnen, zogen sich die Stunden, bis auch sie dorthin aufbrach.
Die Wunden am Bauch zogen ein wenig, ihre Hand pochte.
Trotzdem wollte sie die Einnahme der Schmerzmittel noch etwas heraus zögern, denn danach hätte sie die maximale Tagesdosis erreicht.
Sie bekam einen Parkplatz direkt gegenüber Phils Wohnhaus und traf vor der Türe der Aurora auf Jessy.
Phil begrüßte die beiden mit einer Umarmung und zeigte ihnen den Tisch, den er für die Clique reserviert hatte.
Ob überhaupt jemand kam wusste Nora nicht, Jessy hatte zwar den Chat weiter verfolgt, verriet ihr aber nichts. Nur, dass Jessy den anderen gleich gesagt hatte, dass man sie weiterhin Nora nennen konnte.
Es war kurz nach sieben und als beim nächsten Mal die Türe aufging, kamen sie alle zusammen herein.
Richy, Cleo, Hannah mit Thomas, Lilly und Dan.
Sie alle wollten sie kennenlernen und keiner von ihnen sah aus, als wolle er Nora gleich einen Vorwurf machen.
Im Gegenteil.
Sie alle begrüßten Nora mit einer herzlichen Umarmung, selbst Dan.
Als Dan dann Jessy mit einem Kuss begrüßte, war Nora nicht die einzige, die überrascht aussah.
Aber sie gönnte es den beiden und sah einen Moment gedankenverloren zu Phil.
Könnte sie das auch haben?
Es war spät und nur noch die Clique war in der Aurora.
Es war ein emotionales erstes Aufeinandertreffen und nicht nur Nora hatte ein paar Tränchen vergossen.
Die anderen waren entsetzt darüber, was David getan hatte, aber niemand gab ihr die Schuld daran.
Nur sie selbst hatte noch immer ein schlechtes Gewissen, weil sie glaubte zumindest zu einem gewissen Grad dafür verantwortlich zu sein.
Nachdem sie natürlich eine ganze Weile über die Entführungssache geredet hatten, sprachen sie über alles Mögliche.
Vor allem Dan hatte ein paar lustige Geschichten auf Lager und Nora hielt sich bald den Bauch vor Lachen.
Nicht das Beste, was ihr hätte passieren können, denn obwohl ihre Laune sich wirklich besserte, nahmen die Schmerzen zu.
Die besorgten Blicke von Phil hatte sie bemerkt, hatte ihm jedoch gesagt, dass alles okay sei.
Als sie nun aber aufstehen wollte, um auf die Toilette zu gehen und beim Aufstehen schmerzhaft aufstöhnte, sich sofort an den Bauch griff, fand er, es war an der Zeit Feierabend zu machen.
Es war ohnehin schon nach Mitternacht und die Aurora offiziell geschlossen.
Ein paar Minuten später machten sich alle auf den Heimweg.
Nur Nora wurde von Phil zurückgehalten.
„So lass ich dich nicht alleine", sagte er ernst und nahm sie in den Arm. „Also entweder du kommst mit zu mir nach Hause oder ich fahre dich ins Krankenhaus."
„Das ist doch übertrieben", antwortete sie. „Ich leg mich hin, nehm noch eine Tablette und dann ist gut."
Trotzdem lehnte sie sich gegen ihn, fand die Vorstellung bei ihm zu bleiben gar nicht mal übel.
Er schüttelte den Kopf. „Hector sagte ich soll auf dich aufpassen. Also, zu mir oder ins Krankenhaus?"
„Zu dir", entschied sie und spürte, wie ihr schon fast die Augen zufielen.
Jetzt wo es ruhig geworden war kam die Müdigkeit.
Phil hatte ihr ein T-Shirt und eine Trainingshose gegeben, sie hatte sich umgezogen und ins Bett gelegt.
Er hatte ihr eine gute Nacht gewünscht und wollte sich aufs Sofa legen, aber jetzt hielt Nora ihn zurück und bat ihn darum bei ihr zu bleiben.
Lächelnd stimmte er zu, gab ihr einen Kuss und sie kuschelte sich an ihn.
Fast augenblicklich schlief sie ein.
Am nächsten Morgen riss sie ihr Handy aus dem Schlaf.
Es dauerte einen Moment, bis sie wusste wo sie war, sie lächelnd feststellte, dass Phil noch immer neben ihr lag und einen Arm um sie geschlungen hatte.
„Ja?", meldete sie sich und ließ dabei den Blick auf Phil gerichtete.
Er hatte seine Augen noch geschlossen, ein paar Haarsträhnen verdeckten sein Gesicht.
„Hi Nora. Hier ist Lilly. Bist du im Motel?"
„Ähm, nein", gab sie zu. „Warum?"
„Das Fernsehen ist hier und ein paar Leute von der Zeitung. Auf dem Parkplatz stehen mindestens drei Übertragungswagen und mehrere Autos, die nicht unseren Gästen gehören. Ich wollte dich nur vorwarnen."
„Scheiße." Nora atmete tief durch. „Danke für die Warnung. Ich überleg mir was."
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