Der Masterplan 2


Sie fühlte sich nicht wirklich bereit dazu, aber sie musste.
Sie musste wieder zurück ins Schlafzimmer, musste sich David stellen und sich den Rest seines Plans anhören.
Vielleicht würde sie doch noch irgendetwas erfahren, was ihr dabei half, hier raus zu kommen.
Sie verließ das Bad und setzte sich zurück auf den Schreibtischstuhl.
David hatte es sich in der Zwischenzeit auf dem Bett bequem gemacht, lehnte mit dem Rücken gegen das Kopfteil und hatte die Beine ausgestreckt.
„Na erleichtert?"

Innerlich die Augen verdrehend nickte Nora.
Was für eine dumme Frage.
„Wo waren wir?", fragte er mehr sich selbst als Nora. „Ach ja. Ich hab dich in die Gruppe geholt. Es war klar, dass du nicht damit leben konntest nicht zu helfen. Du mit deinem Mutter Teresa Gen. Du hast schon immer jedem geholfen, immer zuerst an andere gedacht, dann erst an dich."
Einen Augenblick funkelten seine Augen wütend.
„Wie damals, als du unbedingt in dieser Suppenküche aushelfen musstest, obwohl es dir nicht gut ging."

Er spuckte die Worte fast aus und Nora rechnete damit, dass er gleich aufsprang und sich auf sie stürzte.
Aber er räusperte sich nur.
„Tut mir leid. Ich sagte wir lassen das alles hinter uns, es fällt mir nur ein wenig schwer."
Vorsichtige lächelte sie, wollte nichts sagen, aus Angst ihn zu reizen.
Und er erwiderte ihr Lächeln.

„Also", fuhr er fort. „Du warst an Board. Und ich musste dich dazu bringen, dass es so blieb. Also bekamst du den ersten Drohanruf. Ich wusste dadurch würdest du dich nicht abhalten lassen, schon gar nicht wenn ich dir danach sage, dass der Entführer wohl Angst vor dir hat. Als du dich dann von selbst an mich gewandt hast wusste ich, du fängst an mir zu vertrauen. Das hast du früher auch immer ganz schnell gemacht. Und damit du auch dran bleibst ist am selben Tag noch die Leiche aufgetaucht."
„Wer war sie?", wollte Nora leise wissen.
„Keine Ahnung. Ich hab sie für fünfzehntausend von dem Bestatter gekauft. Er hat dann später bei der Polizei ausgesagt, es wäre eingebrochen worden."
Nur schwer konnte Nora verhindern, dass es ihr hochkam.
Das war einfach nur abartig und pervers.

„Naja, das war nur eine Sache meiner sorgsamen Vorbereitungen. Erinnerst du dich an Alfie? Ich war nie mit Hannah ihm Wald, er hat nie gesehen, wie sie vom Mann ohne Gesicht in den Wald gebracht wurde, aber er war oft im Wald und ich habe ihm immer wieder davon erzählt, dass Hannah dorthin gebracht wurde. Eigentlich sollte Lilly dadurch auf die Spur der Legende kommen. Aber Cleo hat es dann ja auch getan."

„Aber wenn Hannah nicht im Wald war, warum hast du dann immer versucht alle vom Wald fern zu halten?"
Er lachte. „Ach komm schon, das weißt du doch selbst."
„Als Ablenkung", flüsterte sie.
Sein Klatschen ließ sie zusammen zucken.

„Der Kandidat hat hundert Punkte." Er grinste. „Der Wald hat euch alle angezogen, je gefährlicher er eigentlich wurde. Selbst dich, da bin ich mir sicher. Und so sollte es sein. Ich wollte, dass du dort sein willst, dass du die Suche selbst in die Hand nimmst. Zwar hast du etwas tun können in dem du die Dateien aus der Cloud gezogen hast und durchgegangen bist, aber das war dir nicht genug. Ich kenn dich doch. Dabei hab ich mir solche Mühe damit gegeben. Die Notizen erstellt, die Bilder ausgewählt. Und du hast dich immer mehr mit Hannah identifizieren können, es wurde dir immer wichtiger sie zu finden und zwar lebend. Dass Dan sich als Entschuldigung mit Jessy treffen wollte, hat mir in die Karten gespielt. Es war leicht seinen Wagen zu manipulieren. Ein paar Tropfen Öl auf den Bremsscheiben, dazu sein vermindertes Reaktionsvermögen. Das einzige Problem daran war, das niemandem das Zeichen des Raben aufgefallen war. An Richys Garagentor habe ich es dann ein wenig größer anbringen lassen. Dann kam mir Lilly in die Quere, mit ihrer Abstimmung und dem blöden Video. Für mich war es kein Problem. Die Informationen die sie glaubte über mich zu haben waren alle erfunden, selbst die ID war falsch. Aber dann haben diese kranken Leute es auf dich abgesehen. Ich bin fast durchgedreht, als ich den Bericht über dein brennendes Haus gesehen habe. Erst als ich die Nachricht bekam, dass Anne Wilkins Kreditkarte benutzt wurde, wurde auch ich wieder ruhiger und konnte um planen."

Nora senkte den Blick aus Angst David könnte ihr ansehen, was sie dachte.
Wie nur konnte er jemanden krank nennen? Gerade er.
Aber er machte unbeirrt weiter.

„Ich musste Lilly dazu bekommen, das Video zu löschen und gab mich als Halbbruder aus. Und ich musste es irgendwie schaffen, dass du trotzdem nach Duskwood kommst. Dann hatte ich die Idee mit den Rätseln. So musstet ihr zusammen arbeiten. Aber zuerst musste ich dir noch einen Grund liefern, warum ich untertauchen musste. Also die Sache mit den Verfolgern. Dann noch der Angriff auf Jessy und einen kleinen Schubser in die richtige Richtung. Aber du willst doch nicht nach Duskwood, das ist viel zu gefährlich. Der Gedanke war in deinen Kopf gepflanzt und ich tauchte ab. Mehr hat es nicht gebraucht. Ich weiß du hattest sogar Mitleid mit mir, weil nun auch ich auf der Flucht war. Hab ich recht?"

Sie nickte. Der Kloß in ihrem Hals war schon zu groß, um zu antworten, die Tränen brannten in ihren Augen.
Sie war auf ihn hereingefallen, hatte jede Falle mitgenommen, die er ihr gestellt hatte und sich von ihm manipulieren lassen.

„Du hast Hector gekündigt, niemand wusste wohin du gehst, niemand wusste wie du dich nennst. Besser hätte es echt nicht laufen können. Ich habe eure Chats natürlich weiterhin verfolgt, auch als ich abgetaucht war. Auch das lief. Du und Lilly ihr habt euch zusammen gerissen, wegen dir hat sie mir vertraut und ihr habt es sogar geschafft, dass die ganze Gruppe bei dieser I am Jake Sache mitgemacht hat. Zugegeben eine tolle Aktion, auch wenn sie unnötig war. Und dann warst du in Duskwood. Eigentlich hätte es ein wenig anders laufen sollen. Das versteckte Symbol der Karte in dem Katzenbild hätte dich eigentlich zu Hannah führen sollen. Ich hätte dort auf dich gewartet. Jetzt musste ich es aber nutzen für die Rätsel. Also musste ein neuer Plan her. Tatsächlich hat mir dann der Chat zwischen Cleo, Thomas und Richy weiter geholfen. Ihre Idee, dass es eine Taktik der Polizei wäre Phil laufen zu lassen und dann würde er Hannah los werden wollen. Klang doch irgendwie echt gut. Also habe ich diesen Gedanken aufgegriffen. Anhand deines Handys konnte ich nachverfolgen, wo du warst. Natürlich in der Aurora. Ich dachte ja es lag am Namen, dass du dich diesem Langhaardackel gleich an den Hals geworfen hast hab ich erst später mitbekommen. Ich hoffe nur du erwartest nicht, dass ich die Haare wachsen lass."

Die ersten Tränen liefen ihr über die Wangen und sie schüttelte stumm den Kopf.
„Gut. Den Rest kennst du ja. Ich habe auf dich gewartet, jetzt bist du hier."
„Und Hannah?" Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauchen.
„Sie hat die Nacht in einer Gartenlaube verbracht, morgens habe ich dann Thomas geschrieben, er hat sie gefunden. Es geht ihr gut. Sie durfte heute nach Hause."
Er stand auf und kam auf sie zu.
„Ich überwache sie noch immer alle. Willst du wissen, was sie über dich schreiben? Natürlich willst du das wissen."

Gehässig grinsend sah er sie an, legte ihr eine Hand unters Kinn und zwang sie dazu, zu ihm aufzusehen.
„Sie sind froh dass du weg bist, sind sich sicher, dass du etwas mit der Sache zutun hattest. Sogar Jessy hat zugegeben, dass sie sich komplett in dir getäuscht hat. Dass du so ne Psychotante wärst, die sich daran aufgegeilt hat zuzusehen, wie sie alle unter Hannahs Verschwinden litten. Sie hat sich nicht mal getraut, den anderen davon zu erzählen, dass du in Duskwood warst und ihr euch getroffen habt. Und auch Phil hat nur ihr gestanden, dass ihr euch geküsst habt. Auch wenn er wohl angepisst war, dass er jetzt wieder alleine hinterm Tresen steht ist er froh, dich los zu sein."

Er wischte ihr die Tränen von der Wange.

„Du darfst denen nicht eine Träne nachweinen. Das waren keine richtigen Freunde. Sie alle kennen dich nicht wirklich, wenn sie dir so etwas wirklich zutrauen. Aber du brauchst sie auch nicht mehr. Du hast mich. Das ist alles was zählt."

Er beugte sich zu ihr hinunter und gab ihr einen kurzen Kuss auf die Lippen.
Und sie ließ es geschehen.
Konnte nicht reagieren, nicht wegzucken, ihn nicht zurück stoßen, nichts sagen.
Er war krank, ein Psychopath, aber er hatte gewonnen.
Sie hatte niemanden mehr.
Außer ihn.



„Ich bin mal kurz im Büro", sagte Phil zu Jessy und deutete mit dem Kopf auf das Handy in seiner Hand.
Sie nickte ihm zu und zapfte weiter Bier.
„So, jetzt", sagte er, als er im Büro war und die Türe hinter sich geschlossen hatte.
„Eigentlich wollte ich nur kurz Bescheid geben, dass ich gelandet bin", meinte Hector. „Hast du mit Jessy und Lilly geredet?"
„Hab ich", bestätigte Phil. „Und von Lilly hab ich dabei etwas neues erfahren. Dieser Jake hat behauptet, er wäre ihr Halbbruder. Deshalb hat sie das Video wieder gelöscht."
„Das wusste ich bereits durch Noras Handy", antwortete Hector.

„Aber sie hat mir das Bild geschickt. Von ihrem Vater und seiner Mutter. Kannst du damit vielleicht irgendetwas herausfinden? Also wenn er da die Wahrheit gesagt hat, dann kann man doch rausfinden, wer er ist, oder?"
„Es kommt auf einen Versuch an. Allerdings glaube ich kaum, dass er die Wahrheit gesagt hat. Schick es mir trotzdem. Warte, sie hat es dir aber nicht übers Handy geschickt?"
„Nein. Ich hab gesagt sie soll es auf den PC ziehen und mir als Email schicken", erklärte Phil.
„Sehr gut. Dann schick es am besten direkt an Nadi. Er ist mein IT Fachmann und jagt es durch die Gesichtserkennung. Ich schreib dir die Adresse gleich als SMS. Sonst noch etwas?"

„Hannah durfte heute nach Hause, morgen Abend treffen sich die Freunde in der Aurora und feiern ein wenig."
„Okay", meinte Hector. „Ein normales Verhalten, wenn man eine vermisste Person wieder in seinen Reihen hat. Das ist gut."
„Ja vielleicht", brummte Phil.

„Ist es", versicherte Hector. „Ich bin mir sicher, dass David weiterhin ein Auge auf die Clique hat. Aber Nadi kann das nutzen. Wenn Jake online ist, um die Chats der Clique nachzulesen, kann er versuchen dessen Firewall zu umgehen. Gelingt ihm das, kann er die GPS Daten des Handys auslesen und wir finden ihn. Zumindest wenn die ID stimmt, mit der er mit Nora in Kontakt stand. Die ID, die unter Lillys Video veröffentlicht wurde, war nicht seine."
„Er hat sich abgesichert, war ja logisch", meinte Phil.

„Stimmt. Dennoch macht auch er Fehler. Oder besser gesagt berechnet nicht mit ein, dass doch jemand nach Nora sucht", sagte Hector. „Und nicht irgendjemand, sondern ich. Ich kenne David, ich weiß was er von Nora will und ich werde sie finden."
„Okay, dann meldest du dich, wenn es etwas Neues gibt?"
„Werde ich. Ach eins noch. Du musst nochmal mit Lilly reden. Ich glaube Nora hat das Zimmer im Motel noch bis Ende der Woche bezahlt. Davor darf sie nicht als Vermisst gemeldet werden. Sollte die Besitzerin davor nach ihr schauen wollen, muss sich Lilly etwas einfallen lassen. Irgendeine Ausrede."

„Ich sag es ihr", versprach Phil.
„Na dann. Ich melde mich", verabschiedete sich Hector.
„Bis dann", gab Phil zurück und legte auf.
Sekunden später bekam er die SMS mit Nadis Emailadresse.
Er checkte am Computer seine Mails und leitete Lillys Email direkt an ihn weiter, dann erst ging er zurück hinter den Tresen.



Sie stand am Fenster, besser gesagt an dem aufgemalten Fenster, und ihr Blick ging ins Leere.
Was David ihr offenbart hatte war heftig gewesen.
Doch am schlimmsten hatte es sie getroffen, was er über Jessy und Phil gesagt hatte.
Zuerst hatte sie das gar nicht glauben wollen, war sich sicher, dass niemand in ihr eine Psychotante sah.
Aber David war überzeugend und seine Worte hatten sich in ihre Seele gefressen.

Seit er sie wieder alleine gelassen hatte, hatte sie irgendwie versucht sich abzulenken, nicht denken zu müssen.
In der Glotze lief nichts, beim Lesen musste sie jeden Satz viermal wiederholen und hatte den Sinn erst nicht verstanden.
Sie hatte es mit zählen versucht, mit singen, mit alten Gedichten, die sie irgendwann auswendig lernen musste.
Nichts half.

Zu tief saß der Schmerz, der selbst die Angst und die Panik übertraf.
Sie hatte sich so gut mit Jessy verstanden und ihr vertraut. Hatte sogar überlegt ihr von ihrer Vergangenheit zu erzählen in einer ruhigen Minute.
Und Phil?
Ihm hatte sie bereits einen Bruchteil ihrer Vergangenheit erzählt, weil sie nicht wollte, dass er sie für eine Betrügerin hielt.
Er ließ sie definitiv nicht kalt, sie hatte ihn an sich heran gelassen, hatte den Kuss zugelassen und sogar gewollt. Hätte sich durchaus auch mehr mit ihm vorstellen können.
Zumindest wenn sie noch etwas mehr Zeit mit ihm verbracht hätte.

Es war ihr wichtig gewesen, dass die beiden sich besser verstanden, denn die Familie war das wichtigste, das hatte sie schon früh gelernt.
Und irgendwie hatte sie sich bei den beiden gesehen.
Als Freunde, sogar Vertraute.

Jessy hatte sie tatsächlich an Rory erinnert.
Ihre beste Freundin auf dem Internat und auf dem College.
Bevor David ihr irgendwelche Lügen erzählt hatte und sie sich von ihr abgewandt hatte.
Als hätte sie wirklich mit Rorys Verlobten geschlafen.
Aber die „Beweisfotos" hatten Rory überzeugt.
Keine Ahnung wen David für die Bearbeitung der Fotos bezahlt hat, aber derjenige hatte gute Arbeit geleistet.
Rory hat die Hochzeit abgesagt, sich von Matt getrennt und die Freundschaft zu Nora gekündigt.
Und mit ihr hatten sich auch ihre anderen Freundinnen von ihr abgewandt.
Wer wollte schon eine Freundin, die mit den Partnern der Freundinnen schlief?

Durch die Chats mit der Clique hatte sie gemerkt, dass sie das vermisst hatte.
Jemanden zum reden, der ihre Geschichte kannte, jemanden der einem zur Seite stand an den schlechten Tagen, jemanden mit dem man lachen, weinen, sich freuen und auch mal streiten konnte, denn man vertrug sich danach wieder.

Sie hatte Hector gehabt, ihr Fels in der Brandung, als es ihr wirklich schlecht ging, aber mit ihm war es etwas anderes.
Auch wenn sie die letzten Monate immer mehr das Gefühl hatte, dass sie etwas wie eine Freundschaft verband, zahlte sie doch für seine Dienste.
Er ließ es sie nicht spüren, aber es war eben so.
In Duskwood hatte sie wieder Freunde gefunden, hatte sie zumindest gedacht.

Langsam wandte sie sich vom „Fenster" ab und ging ins Badezimmer.
Sie hatte keine Taschentücher, aber Toilettenpapier tat es auch.
Als sie sich im Spiegel betrachtete waren ihre Augen so gerötet, dass sie noch blasser wirkte, die Ränder unter den Augen noch dunkler.
Vor David würde sie nicht verbergen können, dass sie geweint hatte.
Aber auch das war ihr gerade egal.
Sie hoffte nur, dass sie noch eine Weile ihre Ruhe vor ihm hatte, auch wenn sie alleine mit ihren Gedanken noch durchdrehen würde.


„Ich bin müde, sollen wir nicht schlafen gehen?", schlug David vor.
Er war zum Abendessen wieder zu Nora ins Schlafzimmer gekommen, hatte sich danach zu ihr aufs Bett gesetzt und vorgeschlagen noch einen Film zu sehen.
Nora hatte nicht widersprochen. Es war ihr egal gewesen. Sie hatte es ertragen direkt neben ihm zu sitzen, den ganzen Film über.
Knappe 200 Minuten.
Es war einer ihrer Lieblingsfilme gewesen. Der Herr der Ringe – die Gefährten in der extended edition.
Sie wusste nicht mehr wie oft sie die Trilogie schon angesehen hatte. Teilweise alle Teile am Stück.
Hatte die meisten Dialoge sogar auswendig mitsprechen können.
Doch diesmal hatte sie nicht mitgesprochen, hatte nicht geschmunzelt, hatte nicht mit gefiebert.
Sie hatte nicht mal geweint, als Gandalf in die Tiefe fiel.
Es gab keine Tränen mehr, die sie hätte vergießen können.
Sie war leer.

Aber als David nun sein Shirt auszog, sich offensichtlich fürs Schlafengehen fertig machen wollte, kam die Angst zurück.
Wollte er tatsächlich hier schlafen, bei ihr?
„Ähm, du schläfst hier?", fragte sie leise.
„Natürlich mein Engel", antwortete er.
„Aber... naja...", stammelte sie und musste sich schnell etwas einfallen lassen. „Wir sollten uns mit der Familiengründung Zeit lassen. Zumindest bist wir in Neuseeland sind. Weißt du noch wie schlecht es mir ging, die ersten zwei, drei Monate? Ich musste mich so oft übergeben. So kann ich doch nicht nach Neuseeland fliegen."
„Ich weiß, aber üben können wir schon mal." In seinen Augen blitzte es gefährlich auf.
Sie wusste, er würde nicht so einfach von ihr ablassen, sich zur Not nehmen, was er wollte.
So wie er es schon mal gemacht hatte. Mehrmals.
Als sie in seiner Wohnung festsaß.
„Hast du das auch mit Hannah gemacht? Geübt?" Etwas anderes war ihr nicht eingefallen und als sie sah, wie sich sein Blick veränderte, bereute sie es sofort.

„Willst du etwa behaupten, ich hätte dich betrogen?", fuhr er sie an. Seine Hand umgriff ihr Handgelenk und hielt sie wie in einem Schraubstock. So würde sie nicht wegkommen.
„Ich dich?" Er lachte auf, jedoch nicht belustigt.
„Ich bin nicht derjenige von uns der sich gleich anderen an den Hals schmeißt. Kaum war ich weg hast du dich doch ganz gut mit Hector amüsiert, wahrscheinlich auch mit Radish, so oft wie ihr euch getroffen habt. Und hier hast du ja auch nichts anbrennen lassen und dir gleich Phil geschnappt. Geküsst? Von wegen. Sicher hast du gleich für ihn die Beine breit gemacht. Noch in der Bar. Du Schlampe."
Er hatte sich in Rage geredet, seinen Griff dabei immer weiter verstärkt.
Sie rechnete bereits mit der nächsten Ohrfeige, versuchte etwas Abstand zwischen sich und ihn zu bekommen, aber das ließ er nicht zu.
Mit einem Ruck zog er sie noch näher zu sich, führte ihre Hand an seine nackte Brust.
„Ich hab trainiert, spürst du das? Für dich. Und ich habe mich aufgespart. Auch für dich."
Er erhöhte den Druck auf ihre Hand und sie nickt leicht.

Noch einen Moment hielt er sie fest, dann ließ er ihre Hand los, sprang vom Bett und zog sich sein Shirt wieder an.
„Sorry, aber ich kann das gerade nicht. Ich dachte ich kann darüber hinweg sehen, dass ich seit drei Jahren alles dafür tue, dass wir doch noch eine Familie werden, während du deinen Spaß hattest. Aber es geht nicht."
Ohne ein weiteres Wort stapfte er aus dem Zimmer.

Nora sah ihm verwirrt nach.
Er hatte sie entführt, aber sie war jetzt die böse?
Dabei entsprang alles was er ihr vorgeworfen hatte, nur seiner Fantasie.
Und warum hatte sie jetzt überhaupt ein schlechtes Gewissen? Wenn auch nur leicht.
Oder war es eher Angst?
Wenn ihm klar wurde, er könnte doch keine Familie mit ihr gründen, was würde er dann mit ihr tun?
Hatte sie gerade ihr Todesurteil heraufbeschworen?
Würde er das wirklich machen?

Die erste Erleichterung darüber, dass er die Nacht wohl nicht in ihrem Bett verbrachte, war verschwunden.
Zurück blieben die Angst, die Zweifel und die Hilflosigkeit.



Nachdem er mit Phil telefoniert hatte, hatte er im Hotel eingecheckt und sich sofort an die Observierung von David gemacht.
In Duskwood war es kurz nach vier gewesen, in New York schon nach sieben und er war David in ein Restaurant gefolgt.
Besser gesagt David und seiner Begleitung.
Eine gutaussehende Blondine, mit ordentlich Holz vor der Hütte.
Aber nicht das war es, was ihn gestört hatte.
Es war etwas anderes, worauf er aber absolut nicht kam.
Und doch raubte es ihm den Schlaf.
Wie ein Lied auf dessen Titel man nicht kam, einem aber ständig durch den Kopf ging.

Wieder und wieder war er die Akte über David durchgegangen, hatte nachgeprüft was er die letzten drei Jahre getrieben hatte.
Keine Verbindung zu Duskwood, keine Verbindung zu Nora.
Was übersah er nur?
Es konnte doch nicht sein, dass Nora tatsächlich einem anderen Irren zum Opfer gefallen war.
Er musste einfach weitersuchen.

Oder hatte er sich zu sehr auf David versteift?
Hatte er falsch gehandelt?
Hätte er doch gleich die Polizei einschalten sollen?
Er gab sich selbst noch einen Tag, sollte er dann keine Anhaltspunkte haben, würde er mit Radish sprechen.

Genervt stand er auf.
Er musste etwas tun, damit er einen freien Kopf bekam.
Seinen Mietwagen ließ er stehen und ging zu Fuß die drei Blocks.
Es war fast fünf Uhr morgens, aber in der Boxhalle brannte Licht.

Die Tür jedoch war abgeschlossen.
Als auf sein Klopfen nicht reagiert wurde, ging er zum Hintereingang und versuchte es dort, dann rief er Cedric an.
„Hm", brummte dieser verschlafen.
„He, ich steh vor der Türe, lässt du mich rein?"
„Hector? Was machst du denn hier?"
„Lass mich rein, dann erfährst du es."

Er legte auf und klopfte noch einmal an die Hintertür.
Sekunden später wurde ihm diese geöffnet.
„Hector, ich glaubs nicht. Was führt dich nach New York?"
„He Cedric", grüßte er. „Ein Auftrag und es sieht leider nicht gut aus."
„Komm erst mal rein, ein Bier?", wollte Cedric wissen und ließ ihn vorbei ins Innere der kleinen Boxhalle.
Hector nickte.
Sie gingen an den kleinen Tresen, Hector setzte sich davor, Cedric stand dahinter.
Schnell hatte er zwei kalte Bier geöffnet und eines davon vor seinem ehemaligen Schüler hingestellt.

„Jetzt erzähl. Was ist das für ein Auftrag und warum sieht es schlecht aus? Wie kann ich dir helfen?"
Langsam schüttelte Hector den Kopf. „Ich kann dir nichts davon erzählen. Ich muss nur den Kopf ein wenig frei bekommen. Da ist irgendwas, was ich übersehe, aber ich komm nicht drauf."
„Du weißt ich schweige. Und manchmal hilft es darüber zu reden."

Da musste Hector ihm zustimmen.
„Okay, also diese Frau, sie wurde von ihrem Ex gestalkt und schließlich entführt, trotz Polizeischutz. Nach zwei Monaten war er wieder aus dem Knast, Verfahrensfehler. Sie hat mich angestellt und natürlich hab ich ihn im Auge behalten. Vor ein paar Tagen hat sie mir gekündigt, vorgestern habe ich erfahren, dass sie verschwunden ist. Ich bin mir sicher, er steckt dahinter."
„Und er ist hier in New York", stellte Cedric fest.
Hector nahm einen Schluck von seinem Bier und nickte.
„Du hast ihn besucht?"

„Nein", meinte Hector. „Also nicht so, dass er es gemerkt hätte. Ich hab ihn beobachtet. Er war Essen mit einer anderen. Danach sind sie direkt zu ihm gefahren. Ich bin dann zurück ins Hotel, bin die Unterlagen durch, aber irgendetwas stört mich daran. Irgendetwas ist falsch."
„An den Unterlagen oder an ihm?"
„An ihm, an dem Essen. Es ist nur so ein Gefühl..."
Hector nahm noch einen Schluck Bier.

„Du weißt noch, was ich immer gesagt habe, oder? Beobachte deinen Gegner ganz genau, sehe seinen nächsten Zug voraus, den nächsten Schlag. Was ist sein nächster Zug?"
„Er hat wahrscheinlich nur eins im Kopf gehabt, seine Begleitung ordentlich durch zu knattern." Hector lachte kurz auf. „Dabei war es so von meiner Kundin besessen. Ich hätte schwören können, für ihn gäbe es keine andere."
„Also hat dich das gestört? Dass er eine andere hat?", hakte Cedric nach.
„Nein. Auch wenn es Zweifel an meiner Arbeit lässt", murmelte Hector.

„Dann erzähl was du gesehen hast. Alles. Was hatten die beiden an, was haben sie gegessen und getrunken. Welche Farbe hatte das Tischtuch... Geh alles nochmal durch."
Plötzlich machte es klick in Hectors Kopf.

„Cedric, du bist ein Genie."
„Ähm, ich weiß. Aber du darfst gern erklären, warum." Cedric grinste.
„Das erklär ich dir ein anderes Mal, ich muss los."
Hastig leerte er sein Bier, stieg vom Stuhl und lief aus der Boxhalle.
Er musste da etwas recherchieren.


Gegen Mittag wusste er, was er wissen musste, jetzt brauchte er nur noch die Fingerabdrücke.
Aber auch die würde er irgendwie bekommen.
Und dann würde er die Verbindung sehen, würde Nora finden. Nora, die ihn so sehr an Paula erinnerte. Seine Paula.
Alleine deshalb hatte er nicht wie vereinbart gehandelt, hatte ihren Code red ignoriert und war jetzt auf der Suche nach ihr.
Er hatte sie nicht retten können, hatte bei der wichtigsten Person in seinem Leben versagt.
Paula hatte er verloren, mit Nora würde ihm das nicht passieren.

Doch bevor er nun die Fingerabdrücke beschaffte telefonierte er mit Phil.
Er könnte dann Lilly heute gleich noch erzählen, was Nadi herausgefunden hatte.
„Guten Morgen," grüßte er, als Phil abnahm. „Ich hoffe ich habe dich nicht schon wieder geweckt."
„Nein", meinte Phil schnell. „Alles gut. Gibt's was Neues?"
„Schon. Nadi hatte einen Treffer mit dem Foto. Die Frau neben Lillys Vater ist Larissa Ancima. Seine Nachforschungen haben ergeben, dass sie und Mister Donfort einige Zeit zusammen in der gleichen Firma arbeiteten. Aber Miss Ancima hat keine Kinder. Ganz sicher", meinte Hector bestimmt. „Das Foto ist also nicht gefälscht, aber die Frau ist definitiv nicht Jakes Mutter. Es ist also davon auszugehen, dass auch Mister Donfort nicht sein Vater ist."

„Das wird Lilly nicht gefallen", überlegte Phil laut. „Sie konnte es schon kaum glauben, dass Jake mit der Sache etwas zu tun haben soll. Sie ist überzeugt davon, dass er die Wahrheit gesagt hat."
„Soll ich dir Nadis Nummer geben, dann kann er ihr das alles nochmal erklären", bot Hector an.
„Schon gut. Ich werde es ihr sagen. Wenn sie mir nicht glaubt, glaubt sie auch dir oder Nadi nicht", sagte Phil. „Sonst noch was?"
„Nein. Noch nicht", antwortete Hector.
„Aber du bist an etwas dran?", hakte Phil nach.
„Ja", antwortete Hector knapp.

Er hatte nicht gemerkt, dass er vor Anspannung aufgehört hatte zu atmen, aber jetzt atmete Phil erleichtert auf.
„Danke", sagte er, wusste nicht mal für was genau. Aber irgendwie hatte er das Gefühl, er musste sich dafür bedanken, dass Hector etwas gefunden hatte. Was auch immer es war, es war mehr, als er selbst tun konnte.
Denn obwohl er versuchte seine Gefühle für Nora zu verdrängen, sich einzureden, dass er sie gar nicht kannte und diese Gefühle gar nicht haben dürfte, war er erleichtert.

„Ich meld mich dann wieder, wenn ich mehr in Erfahrung gebracht habe", meinte Hector, bevor er auflegte.
Schnell packte Hector das Handy weg und startete den Wagen.

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