Kapitel 8 - Im Beratungszelt
Xenias p.o.v.
Zusammen mit ein paar anderen Werwölfen, Mischlingen und Hexen stand ich in einem Graszelt - dem selbst ernannten Beratungszelt - an einem Grastisch stehen und hörte mir die hitzigen Diskussionen an.
Manche waren der Meinung, wir dürften den Hexen nicht viel Zeit lassen, sondern müssten den vernichtenden Schlag führen und sie töten. Sie wollten keinen Frieden, ganz wie Kilian, denn auch sie waren der Meinung, dass das nicht möglich war.
"Es heißt töten oder getötet werden", fauchte eine Blondine mit blitzenden Augen.
Das machte mich ganz krank. All dieser Hass und diese Mordlust...ich hätte es verachtet, wenn ich diese Leute nicht sogar verstehen würde. Denn hinter den wütend funkelnden Augen der Blondine stand Schmerz. So quälender Kummer, der nur vom Verlust einer geliebten Person kommen konnte. Dieser Kummer war die Triebfeder für all den Hass und die Mordlust. Er war das Benzin, der den Funken der immer schon existenten Feindseligkeit zu einem regelrechten Waldbrand entzündet hatte.
Und während ich so diesen langwierigen Diskussionen beiwohnte und all die Emotionen in den Gesichtern dieser Leute sah...als ich plötzlich mit den Konsequenzen der Handlungen meiner Art konfrontiert wurde, da schämte ich mich. Ich schämte mich, weil es meine Leute, sogar meine eigene Familie war, die Leid über diese Werwölfe und Mischlinge gebracht hatte.
Und ich hatte es zwar nicht gut geheißen, nein, aber ich hatte auch nichts dagegen getan. Dass ich noch diese Lügengeschichten über die Werwölfe geglaubt hatte, spielte keine Rolle. Denn kein Lebewesen hatte einfach so den Tod verdient, egal, was für schlimme Taten es vollbracht hatte. Das hatte ich immer schon geglaubt. Und doch hatte ich nur stumm dagesessen, wenn die Leute über ihre Jagd gesprochen hatten, über die getöteten Werwölfe, über ihre Kämpfe...nie hatte ich den Mund aufgemacht. Kein einziges Wort war mir über die Lippen gekommen. Wie viele Leben hatte ich selbst auf dem Gewissen, indem ich tatenlos geblieben war und alles hatte geschehen lassen?
"Nicht alle sind schuldig", sagte gerade eine Frau um die 30. Man hatte mir nicht erst sagen müssen, dass sie eine Vates war, denn ihre ruhige und ausgeglichene Ausstrahlung, sowie dieser weise und so alte Blick hatte mich an Derya erinnert. Außerdem wagte es niemand, sie zu unterbrechen, alle brachten ihr besonderen Respekt entgegen, wenn auch manche nun eher widerwillig schauten.
"Sie haben gemordet, ja, aber sie wurden fehlgeleitet. Wurden manipuliert. Es ist an der Zeit, die Quelle all dieses Übels, nämlich diesen Hexer Anton, zu eliminieren. Unsere Späher haben endlich ihren Standort ausfindig gemacht, trotz all ihrer Sicherheitsvorkehrungen. Sie unterschätzen offensichtlich die Macht von miteinander verbündeten Werwölfen und Hexern. Außerdem kennen sie nicht alle Geheimnisse von Werwölfen. Wir haben also einen gewissen Vorteil, den wir nutzen müssen."
Die Blondine hatte nun die Arme vor dem Oberkörper verschränkt und blickte die Vates mit hoch erhobenen Augenbrauen an.
"Und wie sollen wir das anstellen? Wir kommen nicht an Anton heran, weil all die Hexer um ihn sind und ihn ganz bestimmt nicht im Stich lassen werden."
"Wir müssen Vorarbeit leisten, müssen den Hexern zeigen, wie sehr Anton sie manipuliert", erwiderte die Vates ruhig, ließ sich trotz der herausfordernden Art der Blondine nicht provozieren.
Die schnaubte verächtlich.
"Wie bitteschön sollen wir das bewerkstelligen? Wir können sie ja wohl kaum auf einen Kennenlern-Trip einladen und dort beweisen, wie lieb wir ja eigentlich sind."
Trocken fügte sie noch hinzu:
"Zumindest nicht, wenn wir nicht noch am selben Tag von ihnen abgeschlachtet werden wollen."
Nickend stimmten ihr die anderen mit grimmigen Mienen zu.
Die brünette Vates stieß einen leisen Seufzer aus und setzte gerade an, etwas zu sagen, als eine ältere Stimme ihr zuvorkam:
"Dazu wird es nicht kommen."
Alle blickten synchron zum Graszelteingang, den nun Derya ausfüllte, einen entschlossenen Blick in den dunklen Augen. Sie war so leise hergekommen, dass selbst die Werwölfe sie nicht bemerkt hatten.
Wieder zog die Blondine eine Augenbraue herausfordernd nach oben. Ich fragte mich, was ihr passiert war, da sie so offensichtlich jede Hoffnung auf Frieden zwischen unseren beiden Völkern begraben hatte.
"Und hast du auch schon eine Lösung, wie wir ein solches Szenario verhindern sollen?", fragte sie regelrecht angriffslustig.
Derya trat nun ganz in das Zelt ein und stellte sich an das Kopfende des Tisches, nachdem die andere Vates zur Seite gerückt war.
"Ja", erwiderte Derya auf ihre ruhige Art und schenkte der Blondine ein schmales Lächeln.
"Denn wir haben ein Ass im Ärmel, wie mir kürzlich von der Mondgöttin selbst mitgeteilt wurde."
Nun schürzte die Blondine nachdenklich die Lippen, bevor sie schließlich noch nicht ganz überzeugt fragte:
"Und das wäre?"
Deryas Augen wurden plötzlich traurig und das schmale Lächeln hielt sich nur noch mit gequälter Mühe auf ihren Lippen.
Ihr Blick richtete sich auf mich, als sie die folgenden Worte sprach:
"Miranda, Kilians Mutter, wegen der Anton diesen Krieg ausgelöst hat, ist noch am Leben. Und in der Gewalt Antons."
Für einen Moment herrschte geschockte Stille und alle, mich eingeschlossen, konnten Derya nur reglos anstarren.
Dann ertönte plötzlich ein schmerzvolles Flüstern:
"Nein."
Automatisch suchten meine Augen die Quelle dieser so gequälten Stimme und erblickten eine blonde Frau, die mit schreckgeweiteten Augen ins Leere starrte und die Hand ihres schrankartigen Mannes neben ihr so fest umklammerte, dass ihre Knöchel ganz weiß wurden. Bestimmt tat sie ihm weh, aber er unterdrückte offensichtlich einen Schmerzensschrei und presste nur stumm die Lippen zusammen, während er seine andere Hand beruhigend auf ihre legte und sie traurig anblickte.
Derya seufzte schwer.
"Es tut mir leid, Sonja. Aber ich muss dich und dein Rudel bitten, diese Neuigkeit vorerst vor ihm geheim zu halten. Wie ihr ja bereits wisst, ist sein Zustand im Moment nicht gerade sehr...stabil. Eine solche Neuigkeit zu erfahren, wäre nur kontraproduktiv."
Sonja schluckte schwer und richtete ihren Blick dann auf Derya.
"Wir können es aber nicht lange vor ihm geheim halten. Es ist seine Mutter. Er muss es erfahren."
Deryas Miene und auch ihre Stimme nahmen plötzlich einen sanften Tonfall an.
"Das wird er auch. Aber vorerst ist es das Beste, noch nichts zu sagen."
Sonjas zusammengepresste Lippen machten deutlich, dass ihr das nicht gefiel. Doch sie protestierte nicht weiter, sondern nickte nur einmal knapp, noch immer mit diesem leidvollen Gesichtsausdruck. Sie fühlte offensichtlich sehr mit Kilian mit. Vermutlich gehörte sie zu seinem Rudel, war vielleicht so etwas wie ein Mutterersatz für ihn geworden. Hatte hautnah seinen Kummer miterlebt. Jetzt zu erfahren, dass seine Mutter noch lebte...
Ich konnte es immer noch nicht recht fassen. Andererseits...Anton hatte sie geliebt. Aber ...sie nicht ihn. Mit einem Mal erfüllte mich Grauen. Wenn sie nun bei Anton war, dann bestimmt nicht aus freiem Willen. Er hielt sie fest. Und wer wusste schon, was er alles mit ihr anstellte. Bei dem Gedanken wurde mir ganz schlecht. So grausam es klingt, vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie nicht mehr lebte.
Aber wenn wir sie retteten, bekam Kilian seine Mutter zurück. Nur... würde sie noch dieselbe sein? Die Diskussion ging weiter, nun sprachen sie darüber, wie sie Kilians Mutter aus Antons Fängen befreien konnten, aber ich hörte gar nicht mehr richtig hin. Viel zu sehr war ich mit meinem eigenen Gefühlschaos beschäftigt. Tiefes Mitgefühl für Kilian, Sorge um ihn, wie er diese Nachricht aufnehmen würde, aber auch verhaltene Hoffnung über die Chance, seine Mutter zurückzugewinnen...
Schließlich ging ich aus dem Zelt, da ich nach dieser Neuigkeit nicht mehr zuhören und noch weniger etwas beitragen konnte. Heute war ich zum ersten Mal bei einer Beratung dabei gewesen, hatte aber bereits genug.
Zwar war ich in der Prophezeiung erwähnt, weshalb es mir nur richtig erschienen war, Verantwortung zu übernehmen - außerdem war es eine gute Ablenkung - aber genug war genug. Und im Moment brauchte ich einfach frische Luft, um mit den ganzen Gefühlen in mir klar zu kommen. Denn da waren auch noch immer dieses schlechte Gewissen, die Schuld, die mir die Kehle zudrücken. Hätte ich den Tod von Kilians Familie verhindern können? Wie viele Tote hätte ich generell verhindern können?
Ich würde nie eine Antwort auf diese Frage erhalten. Dafür war es bereits zu spät. Und ganz allein ich war daran schuld. Erschöpft und niedergedrückt von all diesen Emotionen setzte ich mich an den Waldrand und lehnte mich wieder mit geschlossenen Augen an einen Baum. Mit tiefen Atemzügen versuchte ich, diese schweren Emotionen in mir ein wenig zu mildern und auch die Übelkeit, die in mir aufsteigen wollte, zurückzutreiben.
Der Wald hatte wie immer eine beruhigende Wirkung auf mich. Doch wo er diese Wirkung sonst in nur wenigen Minuten auf starke Weise entfaltete, schaffte er es diesmal nicht. Zwar nahm ich den Duft der Kiefern, Blätter und der Erde um mich herum auf, doch drang er nicht wirklich zu mir durch. Als würden all diese Gefühle in mir wie ein undurchlässiger Nebel wirken, der alles nur schwer hindurchgleiten ließ.
Ich stieß ein schweres Seufzen aus. Wieder überkam mich diese kindliche Sehnsucht danach, mich einfach in meinem Bett unter der Bettdecke zu vergraben und abzuwarten, bis alles wieder besser wurde. Aber das konnte ich nicht.
Und ob es besser werden würde, das wusste ich auch nicht.
Doch als wollte Mutter Natur selbst mich aufheitern und mir das Gegenteil beweisen, hörte ich plötzlich eine vertraute Stimme, die ich hier, in diesem Moment so gar nicht erwartet hätte:
"Xenia! Gott, geht es dir gut?"
Ich riss die Augen auf. Und blickte meinen Bruder an, der mit besorgter Miene die letzten Meter auf mich zu gejoggt kam.
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