Kapitel 5 - Neuigkeiten

Xenias p.o.v.

Erschöpft lehnte ich am Stamm einer Fichte. Erschöpft, weil ich den ganzen Tag bereits einen inneren Kampf gegen mich selbst ausfocht. Denn ein Teil von mir wollte unbedingt zu Kilian, sehen, wie es ihm ging. Der andere wollte nichts sehnlicher, als sich von Kilian fern zu halten. Was nicht so einfach war, besonders, da ich wusste, dass er noch immer verletzt war und mich brauchte.

Aber ich konnte einfach nicht zu ihm gehen. Er hatte mich und meine Art verraten. Er hatte sich von mir, von uns, abgewandt. Wenn es dieses uns überhaupt jemals gegeben hatte...ich wusste es nicht mehr.
Aber nach dieser Sache hatte ich mich nun auch von ihm abgewandt. Obwohl ich ihn noch immer liebte...
Aber wie konnte ich mit jemandem zusammen sein, der meine Familie, meine ganze Art, hatte töten wollen?
Dabei ging es nicht um Werwolf oder Hexe, es ging nicht darum, was wir waren. Es ging darum, wie wir handelten.

Plötzlich spürte ich einen Luftzug von hinten und da sprang auch schon ein großer Schatten an mir vorbei.
Unwillkürlich entfuhr mir ein kleiner Schreckensschrei. Der Schatten entpuppte sich als Wolf, der nun so heftig auf den Waldboden auftraf, dass kleine Erdbrocken davonflogen. Mit Schwung drehte er sich zu mir um und verwandelte sich.
Ryan stand verschmitzt grinsend vor mir.

Kopfschüttelnd fasste ich mir ans Herz.
"Musst du mich immer so erschrecken? Irgendwann kriege ich noch einen Herzinfarkt!", ging ich ihn an, ohne aber wirklich wütend zu sein.

Denn obwohl ich ihn noch nicht lange kannte, hatte ich Ryan bereits sehr ins Herz geschlossen. Der ging nun zu mir und setzte sich neben mich. Lässig streckte er die langen Beine von sich.

"Du bist jung, du kriegst schon keinen Herzinfarkt", meinte er mit wegwerfender Handbewegung.
"Außerdem macht es Spaß, dich zu erschrecken."

Grinsend zwinkerte er mir zu.
Ich schüttelte nur den Kopf, konnte aber ein Lächeln nicht unterdrücken.

"Na, wenn's dir Spaß macht", meinte ich augenverdrehend.

"Wusste ich doch, dass wir uns verstehen."

Im nächsten Moment jedoch erlosch sein Grinsen.
Er räusperte sich.

"Ich habe gerade deinen Bruder getroffen. Er sucht nach dir."

Ich blinzelte. Starrte ihn an. Und fragte:

"Was?"

"Ich sagte, ich habe gerade deinen Bruder..."

Ungeduldig unterbrach ich ihn:
"Das hab ich schon verstanden, aber…"
Ich runzelte die Stirn.
"Wie hast du ihn getroffen? Und wieso lebst du noch?"

Ryan zog langsam die Augenbrauen nach oben.
"Es ist ziemlich unhöflich, jemanden zu fragen, wieso er noch lebt."

Sofort schoss mir die Röte ins Gesicht und ich murmelte verlegen:
"Du weißt, wie ich das gemeint hab."

"Jap", antwortete er wieder grinsend, "aber genauso sehr, wie ich es liebe, dich zu erschrecken, liebe ich es auch, dich aufzuziehen."

Nun verdrehte ich wieder die Augen. "Freut mich zu hören, dass ich dich so gut unterhalten kann. Aber zurück zu meinem Bruder. Wie?"

"Wie was? Wie ich ihn finde? Oh, er ist ziemlich attraktiv. Ihr beide habt echt gute Gene. Diese braunen Augen und.."

"Ryan!", unterbrach ich ihn. Er grinste mich an. Ich seufzte. Manchmal war er echt anstrengend.

"Wie hast du ihn getroffen? Und wie…"

"Er stand da, ich lag da. Er sagt: Hey, ich suche meine Schwester Xenia. Ich sage nichts. Er sagt, er will nichts Böses, nur mit dir reden. Natürlich muss ich das sofort überprüfen, bin auf ihn zugegangen und…"

"Du hast was gemacht?", frage ich entsetzt. Ich konnte einfach nicht glauben, dass er einfach so auf ihn zugegangen ist.

"Hey, ich lebe noch!", meinte Ryan daraufhin und zeigte auf seinen gesunden, und ja, nunmal sehr lebendigen Körper. Dennoch, was er da getan hatte, war äußerst leichtsinnig.

"Du hättest verletzt oder sogar sterben können", flüstere ich besorgt.
Er zuckte nur mit den Schultern.

"Hätte ich. Bin ich aber nicht."
Wieder seufzte ich. Manchmal nahm Ryan das Leben viel zu leicht, das ist mir bereits aufgefallen.

"Und?"

"Was und?"
Verwirrt sah ich ihn an. Nun war es er, der die Augen verdrehte.

"Na, willst du ihn jetzt treffen oder nicht?"

Ich blinzelte. "Oh. Natürlich will ich ihn treffen. Er ist mein Bruder. Aber…"

Zweifel überschatteten wie schwere Wolken mein Herz. Ich hatte Aramis immer vertraut. Aber nachdem ich meine Art verraten hatte...ich könnte es ihm nicht verdenken, wenn er mich in eine Falle locken wollte. Könnte es ihm nicht verdenken, wenn er mich jetzt hasste. Bei dem Gedanken sank mein Herz traurig zu Boden.

"Wir können ihm trauen", meinte da Ryan plötzlich, sehr zu meiner Überraschung.
Verdutzt sah ich ihn an.
"Woher…?"

Er zuckte die Schultern.
"Ich weiß es einfach. Also, wenn er das nächste Mal in der Nähe ist, hol ich dich und führe dich zu ihm."

Ich nickte langsam. Und sparte es mir, zu fragen, woher er überhaupt wissen wollte, ob Aramis in der Nähe war. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein Bruder ohne Schutz in den Wald gehen würde.
Aber wahrscheinlich würde Ryan mir darauf sowieso keine zufriedenstellende Antwort geben, also schwieg ich. Für ein paar Augenblicke starrten wir beide nur geradeaus in den Wald.

Dann holte Ryan tief Luft, als müsse er sich für etwas wappnen. Misstrauisch blickte ich zu ihm rüber. Was würde denn jetzt noch kommen? Die Nachricht über meinen Bruder hatte mich bereits ziemlich auf den Kopf gestellt. Ich wusste nicht, ob ich nun gleich noch eine weitere Neuigkeit aufnehmen konnte.

Aber bevor ich ihn hätte stoppen können, sagte da Ryan schon auf seine direkte Art:
"Kilian ist wach."

Aufmerksam blickte Ryan mich an, bestimmt wollte er keine meiner Reaktionen missen. Und ich? Alles in mir erstarrte bei seinen Worten. Kilian war wach.
Ein Teil von mir war froh, denn ich hatte Zweifel gehegt, dass er überhaupt aufwachen würde. Aber der andere Teil…der fand das nicht so prickelnd, weil er feige war. Denn diese letzten Tage waren zwar nicht einfach gewesen, aber ich hatte Zeit gehabt.
Zeit, nachzudenken.
Zeit, über die misslungene Beziehung zwischen Kilian und mir zu trauern. Zeit, zu überlegen, wie es zwischen uns weitergehen sollte. Und trotz allem war ich immer noch nicht bereit, ihm gegenüber zu treten. Dabei musste ich das. Wir sollten beide über alles reden.

Aber etwas in mir scheute sich vor diesem Gespräch, dieser Konfrontation. Denn ich wusste, das würde alles andere als einfach werden. Es würde schmerzen. Seelisch und emotional. Und von Schmerz hatte ich genug.

"Xenia?", fragte Ryan besorgt nach, denn ich hatte noch immer nichts gesagt.

Schließlich seufzte ich schwer. Schloss kurz die Augen, bevor ich ihn wieder ansah. Wirklich ansah. Die letzten Tage hatte Ryan so viel Zeit wie möglich mit mir verbracht. Ich fühlte mich sicher bei ihm. Außerdem brachte er mich zum Lächeln. Seine unbekümmerte, sonnige Art tat mir gut. Ja, er war mir mehr als nur sympathisch. An diesem Ort hier war er mir ein unerwarteter Freund geworden. Und ich brauchte dringend einen Freund. Denn obwohl ich in den letzten Tagen viel allein nachgedacht hatte, musste ich mit jemandem über alles reden. Und Ryan war die beste Wahl.

Also sagte ich schließlich:
"Du hast erst vor Kurzem gefragt, warum ich Kilian daran gehindert habe, mich zu markieren."

Ryan nickte, ein ernster Ausdruck trat in seine grauen Augen.
"Du musst es mir nicht erzählen, wenn du nicht dazu bereit bist", meinte er sanft.

Doch ich schüttelte den Kopf.
"Danke, aber ich muss das alles loswerden. Die ganze Zeit habe ich es nur für mich behalten und jetzt muss es endlich raus, verstehst du?"

Verständnisvoll nickte er. Ich lächelte schwach.
"Gut. Dann hoffe ich, du hast Zeit, es ist nämlich eine lange Geschichte."

Ein Grinsen umspielte seine Lippen.
"Glaub mir, Rotkäppchen, ich habe alle Zeit der Welt. Immer, wenn du bereit dazu bist."

Und so begann ich zu erzählen. Zum ersten Mal erzählte ich jemandem die ganze Geschichte und zwar von meinem ersten Treffen mit Kilian an.
Wie ich in ihn reingelaufen bin und wohl unbewusst auch bereits unsere Bindung gespürt, sie aber als bloße Anziehung abgetan habe. Wie ich erfahren habe, dass er ein Werwolf ist und es meiner Familie erzählen wollte, aber einfach nicht konnte. Mein Verdacht, er hätte einen Bann auf mich gelegt. Wie er mich dann über die Seelenbindung aufgeklärt hat und ich nach langer Überlegung entschieden habe, ihm eine Chance zu geben.
Ich erzählte von unseren vielen wunderschönen Dates nicht im Detail, sondern sagte Ryan nur, dass ich mich mit der Zeit in ihn verliebt habe, aber noch nicht bereit für die Markierung war. Selbst als ich sah, wie schwierig es für Kilian war, konnte ich es einfach nicht über mich bringen. Diese intime Form war einfach zu viel für mich, ich wollte erst noch mehr Zeit mit Kilian verbringen und mich wirklich bereit fühlen für diesen Schritt.

Letztendlich kam ich schließlich zu unserem Streit. Dabei stockte meine Stimme, aber ich machte dennoch weiter, während ich einen Baum fixierte. So war es leichter, über alles zu sprechen. Fast so, als wäre ich allein und würde meine Gedanken nur verbalisieren.

"Ich habe nie etwas geahnt. Schließlich hat er sich genauso wie ich Mühe gegeben, eine Lösung zu finden. Zumindest hab ich das gedacht. Aber dann….na ja, zuerst hat er mir von seinen Eltern erzählt. Wie sie gestorben sind."

Ich stockte. Bei dem Gedanken daran, was Kilian hatte ertragen müssen, wurde mir das Herz ganz schwer vor Mitleid. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie das für ihn war. Seine Familie und sein ganzes Rudel an die Hexen zu verlieren. Schrecklich war dafür gar kein Ausdruck. Und dennoch…

"Natürlich ist das schlimm. Aber als er dann anfing, dass es keinen Frieden geben kann….dass die Hexen es nicht anders verdient haben, als zu sterben..."

Ich schluckte schwer. Das Entsetzen in mir noch immer so stark wie an jenem Tag.

"Plötzlich war das nicht mehr Kilian, der da vor mir stand. Es war, als wäre er eine andere Person. So hatte er sich noch nie verhalten. Und als ich ihn so gesehen habe...als ich seine Worte gehört habe….ich habe es nicht glauben können. Ich dachte, er wäre vielleicht einfach nur frustriert, dass wir keine Lösung fanden. Ich hatte Hoffnung. Habe ihm gesagt, dass wir einen Weg finden werden. Habe ihm endlich gesagt, was ich schon vorher wusste: dass ich ihn liebe. Dass allein das wichtig ist. Rache wird ihm nicht helfen. Indem er sich an den Hexen rächt, zerstört er nur sich selbst. Aber…"

Die folgenden Worte auszusprechen, war so schwer, so schwer. Aber ich musste es tun. Musste diese Last nach außen bringen. Ich wusste, dann würde ich mich besser fühlen. Also zwang ich sie an dem schweren Klumpen meiner Kehle vorbei:

"Er wollte mir nicht glauben. Hatte die Stirn, mich zu fragen, ob ich ihm helfe. Ihm dabei helfe, meine eigene Art zu töten."

Tränen rannen nun über meine Wangen. Ich wünschte sie nicht weg. Nein, ich hieß sie willkommen, hatte ich es mir die letzten Tage doch untersagt zu weinen. Nun waren sie wie reinigendes Wasser und es war mir egal, dass ich nun nur noch alles verschwommen sah, war mir egal, dass Ryan mich so sah. Mit tränenschwerer Stimme erzählte ich weiter:

"Ich liebe ihn, aber worum er mich gebeten hat….das hätte er nicht tun sollen. Es hat mir gezeigt, dass er keine Seelengefährtin an seiner Seite haben will. Sonst hätte er das nicht von mir verlangt. Nein, was er will, ist eine Puppe, die tut, was er sagt. Aber das kann ich nicht. So sollte keine Beziehung sein. Und als ich dann nein gesagt habe...da wurde sein Blick plötzlich so kalt. Als wäre das die falsche Antwort. Als kenne er mich überhaupt nicht mehr, als gäbe es keine Seelenverbindung mehr zwischen uns, keine Liebe, nicht einmal Zuneigung. Er hat mich eine Idealistin genannt. Er hat seine Entscheidung getroffen. Hat gesagt, er würde sich rächen, mit oder ohne mich. Und dann hat er mich stehen lassen."

Ich musste mich zusammenreißen, nicht in haltlose Schluchzer auszubrechen. Ich musste diese Geschichte noch zu Ende erzählen, obwohl es weh tat, obwohl es so sehr schmerzte, als wäre da ein Loch in meiner Brust. Ein Loch, wo die Liebe zu Kilian in mir wohnte.

"Beim ersten Mal, als ich nicht getan habe, was er wollte, hat er mich fallen lassen. Und es sind solche Momente, in denen man den wahren Charakter einer Person erkennt. Mir wurde klar, dass ich Kilian zuvor nicht gekannt habe. Wenn überhaupt, dann nur einen kleinen, unbedeutenden Teil von ihm. Doch der wahre Kilian….der hat sich mir in diesem Moment offenbart. Und..."

Es war so schwer, das jetzt zu sagen. Denn es war die Wahrheit. Eine Wahrheit, die so bitter schmeckte, dass ich sie kaum über die Lippen bekam. Aber irgendwann mussten Wahrheiten ausgesprochen werden. Ans Licht kamen sie sowieso früher oder später. Und es änderte sich auch nichts an ihnen, wenn man sie verschwieg. Egal, ob man sie hören wollte oder nicht, sie existierten. Hingen wie drohende Geister im Raum, um einen herum. Und wenn man nicht acht gab, konnten sie an einem zehren. Das wollte ich nicht. Es gab bereits genug, das an mir zehrte. Also sprach ich die Worte aus, obwohl sich dabei mein Herz kummervoll zusammenzog:

"Und ich habe erkannt, dass ich mit dem wahren Kilian nicht zusammen sein kann."

So. Die Worte waren draußen. Bedeutungsschwanger schwebten sie in der Luft, schienen die Atmosphäre zu verpesten. Genau in dem Moment schob sich eine Wolke vor die Sonne und es wurde dunkler, kälter. Die leichte Brise fühlte sich plötzlich schneidend an. Ich fröstelte leicht und rieb meine Oberarme.
Da endlich sprach Ryan:

"Ich hab echt übel Lust, diesem kleinen Arschloch eine zu verpassen."

Ein abgehackter, schniefender Laut entwich mir, der eigentlich ein Lachen hätte sein können. Und als wäre nun, da alles ausgesprochen war, ein Damm gebrochen, brach ich in mich zusammen. Schluchzer schüttelten meinen Leib wie kleine Erdbeben. Ich war machtlos dagegen. Genauso wie gegen die Sturzbäche, die aus meinen Augen flossen. Da schlangen sich plötzlich zwei warme starke Arme um mich und zogen mich an eine feste Brust.

"Hey, alles gut, Wein dich aus, ich bin ja da", murmelte Ryan in beruhigendem Ton in mein Haar, während seine großen Hände mich sanft hielten und besänftigend streichelten.

Ich weiß nicht, wie lange wir so da saßen. In dem Moment gab es nichts außer meine Schluchzer, die mich erschütterten, die salzigen Tränen, die traurige Pfade auf meinen Wangen hinterließen und in Ryans Shirt sickerten und Ryans murmelnde Worte sowie seine warme Präsenz. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit verebbten die Schluchzer schließlich und auch die Tränen versiegten langsam. Dennoch ließ ich noch den Kopf in Ryans Shirt vergraben, genoss noch für einen Moment seine Umarmung, den Trost, den er mir spendete und den ich so bitter nötig hatte.

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