5. Park Seonghwa

Hongjoongs Sicht verschwamm im ersten Moment, als sein Kopf desorientiert versuchte sich einen Reim auf die aktuellen Geschehnisse zu machen. Dann schaffte er es immerhin das Seil mit beiden Händen zu greifen und atmete tief durch.

Der Nachtwandler - und Hongjoong wollte doch schwer hoffen, dass es sich hierbei um einen Nachtwandler und keinen besonders unheimlichen Menschen handelte - begann schwer zu schlucken. Er war gierig, übereilig wie ein verhungernder Mann und einzelne Rinnsale an Blut entkamen seinem schmerzhaften Griff, kitzelten in ihrer Flucht vor ihm Hongjoongs Haut.

Hongjoong drehte sich für einen Moment noch der Magen zusammen mit seinen Gedanken im Kreis, dann nahm er sämtlichen Mut zusammen. Mit einem kaum hörbaren Wimmern presste er die Lippen aufeinander, hatte für einen flüchtigen Moment tatsächlich die Sorge, dass der Andere ganze Teile seines Halses herausbeißen könnte. Dann würde ihn auch kein Stoff mehr retten.

Das Seil stramm in seinen Händen richtete Hongjoong sich etwas auf, nahm dabei die klammernde Gestalt des Nachtwandlern mit sich.

Irgendwo flüsterte Aurora besorgt seinen Namen, dann trat Hongjoong in Aktion.

Er stieß die Arme vorwärts, brachte das Seil somit dazu sich um den Hals des Nachtwandlers zu spannen, ihn mitten im Schluck zu unterbrechen. Er würgte warmes Blut auf Hongjoongs Schulter, dann stemmte Hongjoong sich mit seinem Gewicht gegen ihn, riss ihn unvermittelt von seinem Hals.

Der aufflammende Schmerz war mörderisch, eine offene Wunde, wo die Zähne des anderen aus seinem Fleisch gefetzt waren, aber es hatte zu warten.

Vorerst galt es den überraschten Nachtwandler zu zähmen.

Er hatte nicht genug Blut getrunken, um zurechnungsfähig zu sein, aber seine Bewegungen waren schon etwas gezielter, eigenwilliger, als er erneut nach Hongjoongs Hals griff.

Hongjoong stand abrupt auf, warf das viel zu leichte Gewicht des Mannes ab, nur um dann sofort seinen Vorteil zu nutzen. Er kniete sich hinter den Nachtwandler, der nur konfus den Kopf hin und her drehte, die Nase stets suchend in der Luft und begann ihn mit dem Seil zu umwickeln, ihn absolut immobil zu machen.

"Schnell, Aurora. Ich brauche die Flasche aus meiner Tasche."

Der Mann stemmte sich schwach in seinen Griff, mehr aus Verwirrung als tatsächlicher Absicht, aber Hongjoong war bereits fertig, zerrte den Mann durch den Raum und an das kleine polierte Geländer, das die Empore mit den Treppen umschmiegte. Es war in der perfekten Höhe um den Nachtwandler daran festzubinden.

Nach getaner Arbeit versorgte Hongjoong hastig seine Wunde, beeilte sich in ein frisches Hemd zu kommen und bat Aurora das alte irgendwo im Schiff zu verstecken. Sie trug es hysterisch davon, während Hongjoong noch mit stolz in die Hüften gestützten Armen vor dem Nachtwandler stand, die Gefahr erfolgreich gebannt hatte.

Aurora durfte ein Auge auf den wie betrunkenen Mann haben, der nur still in seiner Ecke hing. Er wirkte gesünder als zuvor, aber noch weit davon entfernt als lebendig definiert zu werden.

Hongjoong bekam den Verteiler nun schnell fertig.

Er rannte viel umher, suchte mehr Möglichkeiten den Fremdling festzubinden und brachte tatsächlich auch am gleichen Tag noch die Technik wieder in Gang, sobald er einige Kabel noch verstärkt hatte. Nach getaner Arbeit floppte er neben der Kugel im Energieraum auf dne Boden, wartete angespannt.

Sekunden vertickten.

Hongjoong wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Das Schiff erwachte mit einem Summen unter ihm zum Leben und tauchte ihn von einem Moment in den nächsten in ein schonendes Licht, geschaffen aus den Strahlen der Sonne.

Perfekt.

Hongjoong war innerlich dabei Luftsprünge zu vollführen, aber die Außenseite blieb ruhig und kalkulierend, als er zur Brücke zurückkehrte. Der Nachtwandler wandte sich sichtlich unter dem Sonnenlicht, war zwar davon nicht geschädigt, aber durchaus angenervt.

"Das hier ist der Bedienungsassistent der Sunrise. Bitte sprechen Sie mich einfach mit Sunrise an.", stellte sich das Schiff in einer angenehmen, geschlechtslosen Stimme vor, als Hongjoong sich wieder auf einen der Stühle fallen ließ, siegreich eine Runde drehte.

"Sunrise, wie ist dein Zustand derzeit?"

"Meine Systemkerne sind repariert und voll einsatzklar. Ich leide jedoch unter einem Leck an meiner rechten Seite. Mit Leck wird nicht zum Flug geraten."

Aurora kam staunend neben Hongjoong zum Liegen, sah sich fasziniert in dem nun erhellten und wesentlich freundlicheren Luftschiff um. Der Nachtwandler hinter ihnen schwieg eisern.

"Kannst du es reparieren?" Hongjoong konnte sich das siegreiche Grinsen auf seinem Gesicht nicht verkneifen, als er sich zurücklehnte, einen knappen Blick auf den Nachtwandler warf, der seine Augen tatsächlich auch traf. Seine Miene war unlesbar, vermutlich auch noch nicht gewollt genug, um überhaupt eine Emotion zu verbergen. Hongjoong der Gott wandte sich wieder nach vorne.

"Kann ich. Reparatur wird ausgeführt. Reparatur beendet. Reservematerial knapp."

Hongjoong biss sich in den Finger, um nicht laut aufzulachen, zu überwältigt von der Freude. Der Nachtwandler war fast vergessen in seinem Kopf.

"Können wir fliegen?"

"Kann ich. Aktiviere Flugassistenten. Bitte Koordinaten eingeben."

Es gab keine Koordinaten. Es gab nur den endlosen Himmel und sie. Hongjoongs Sieg, Auroras aufgeregt vibrierende Ohren und den durchdringenden Blick des Mannes in schwarz.

Und dennoch wusste Hongjoong ganz genau, wohin er wollte.

"Setze Kurs auf die Universitätsstadt. Und such mir in der Datenbank Nachtwandler heraus."

Das Glas vor ihnen erhellte sich mit der Information über die Nachtwandler, aber was noch viel wichtiger war, war das lautere, aktive Summen, als die Maschinerie ihren Betrieb aufnahm, nun doch ein erleichtertes Lachen aus Hongjoong lockten.

Er fuhr mit einem breiten Grinsen zu Aurora herum, fasste sie sich, um sie eng an seine Brust zu pressen.

"Wir haben es geschafft! Wir haben es reapriert, sie fliegt!"

Eine Bewegung war an Bord tatsächlich kaum zu spüren, aber sie mussten sich bewegt haben, denn die durchdringende Schwärze vor ihnen wich schon bald einem dunstigen Grau. Es musste noch Nacht sein, viel heller würde es nicht werden, aber sie näherten sich dem Ausgang.

Hongjoong legte seine Stiefel auf das Pult vor ihm, strich abwesend einer glücklich schnurrenden Aurora durch das Fell, während er nach Informationen am Glas suchte.

"Können Nachtwandler an Unterernährung sterben?"

Die Sunrise antwortete ihm.

"Können sie nicht, aber die Gehirnfunktion leidet unter zu langem Nahrungsmangel."

Hongjoong warf einen beinahe mitleidigen Blick auf den Nachtwandler hinter ihm. Er hatte den Kopf wieder gesenkt.

"Wie viel Blut braucht ein unterernährter Nachtwandler, um wieder auf die Beine zu kommen?" Er fragte aus Neugier, noch hatte er keine Entscheidung getroffen. Vielleicht täte er gut daran den Nachtwandler draußen zwischen den Klippen auszusetzen und zu warten, bis ein Clan ihn fand.

Andererseits schien ihm das auch als schlechte Idee. Es musste seine Gründe haben, warum er hier allein war.

"Das kommt darauf an, wie lange er bereits keine Nahrung hatte."

Unschlüssig schürzte Hongjoong die Lippen, sah aus den Augwinkeln, wie sich die Nacht um das Schiff ausbreitete, endlose Sterne sie umfassten.

Er hatte es geschafft. Es blieb nur noch keine Zeit zum feiern. Er hatte auch noch viel zu wenige Freunde dazu!

"Wann hatte das Schiff seine letzte Aktivität, bevor die Turbinen ausgefallen sind?"

"Vor acht Monaten. Captain Park Seonghwa steuerte das Schiff in die Höhle. Dort gab es einen Ausfall."

"Captain Park Seonghwa, huh?"

Hongjoong wandte sich auf seinem Stuhl um, beobachtete den Nachtwandler absolut ratlos.

"Wie viel Blut braucht ein Nachtwandler, der acht Monate lange kein Blut hatte?" Hongjoong griff in seine Tasche mit Vorräten und begann zu essen. Dass er jetzt nicht mehr auf ein Schiff sparen musste, hieß endlich genug Essen für ihn. Er war im siebten Himmel.

"Er bräuchte ungefähr zwei Liter Blut. Dies allerdings in kleinen Dosen und über die Wochen hinweg, um weiteren Schaden vorzubeugen."

"Wann wäre er wieder zurechnungsfähig?"

"Nach einer Woche würde sich sein Kopf wieder klären. Hierfür braucht er drei Dosierungen a 250 ml. Nach zwei Wochen beginnen seine Kräfte zu ihm zurück zu kommen. Ab dann gliedert er sich wieder in einen normalen Nahrungsrhythmus ein."

"In Ordnung. Sunrise, mach einen Kalender für mich."

"Möchten Sie ein eigenes Profil einrichten?"

"Nein, nein. Speicher das bei Park Seonghwa ab."

Hongjoong wandte sich um, beobachtete wie auf dem Bildschirm die Daten für Park Seonghwa auftauchten. Darunter war unter anderem ein Bild, auf dem ein gesunder, junger Nachtwandler abgebildet war. Seine Augen waren aufgeweckt und lebhaft, die Haare eine kürzere Version von dem, zu dem sie inzwischen geworden waren.

Er war nur als Captain eingespeichert, aber weiterhin wies nichts auf einen Beruf oder eine Beschäftigung hin. Er musste privat unterwegs gewesen sein, darum auch war das Schiff nicht gesichert.

"Speicher es ab unter Blutspende und mach mir einen Zeitplan, wie ich von heute aus - der erste Termin war schon - ein Pflegeprogramm starten kann."

Aurora sah Hongjoong aus großen Augen an, aber er grinste ihr bloß zutraulich zu.

"Warum?"

"Das hier ist sein Schiff. Wie könnte ich ihn besser davon überzeugen es mir zu überlassen, wie wenn ich ihn in meine Schuld stelle?" Der Plan hatte in seinem Kopf bereits Form angenommen. Er pflegte diesen Nachtwandler gesund, lernte ihn besser kennen und einzuschätzen. Acht Monate ohne Blut war eine lange Zeit, die für einen eisernen Willen sprach. Er hatte lange noch die Möglichkeit gehabt sich seine Opfer mit Gewalt zu suchen, bevor seine Kräfte nachgelassen hatten.

Hongjoong zweifelte daran, dass es sich bei diesem Nachtwandler um einen Feind handelte und war zugestandenermaßen neugierig. Was tat er hier allein auf diesem Schiff? Und warum hatte er es nicht verlassen?

Um das in Erfahrung zu bringen, musste er ihn allerdings zuerst gesund bekommen.

Und genau das würde Hongjoong auch tun.

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