Kapitel 4

Sonntag- 25.07. Wahltag

Der Samstag war mir noch vibrierend in Erinnerung, als ich am Sonntagabend Chips in eine Schüssel füllte und leise summend durch den Flur lief.

Wir hatten viel gelacht. Sabse war uns johlend davon getöltet und ich hatte mich gefühlt, als wäre ich wieder sechzehn. Katja war bis Abends geblieben und ich hätte sie gerne hierbehalten. Nicht nur, damit sie nicht noch mehr blaue Flecken bekam, sondern auch, weil ich noch gerne sehr viel länger mit ihr gesprochen hätte.

Der Gong der Tagesschau erklang und sofort wurde alles im Wohnzimmer still. Wie gebannt sahen alle auf den Fernseher, als ich eintrat und dabei darauf achtete, nicht auf die knarrende Diele zu treten. Jetzt galt es. Wir würden endlich wissen, ob alle noch bei Trost waren oder ob es zum Eklat kommen würde. Mein Herz schlug mir bis zum Hals.

„Schönen guten Abend und willkommen zur Tagesschau vom 25.07.", begrüßte der Sprecher im feinen Anzug und perfekt ausgeleuchtet alle Zuschauer. Hinter ihm tauchte schon ein erstes Bild auf, das Hinweis auf den Ausgang der heutigen Wahl gab. Die Fratze des Parteichefs und Kanzlerkandidaten Bernd Höfer der neuen Rechten lächelte falsch in die Kamera. Oh nein! Ich schnappte nach Luft und sah zu David, der noch entspannt neben Pola auf dem Sofa vor dem Karmin saß.

„Fangen wir mit den aktuellen Hochrechnungen an diesem Abend an." Eine Grafik wurde eingeblendet. Aufwendig animiert schossen die Graphen hoch, bekamen einen Prozentsatz zu geschrieben. „Die Wahlbeteiligung dieses Jahr war Experten zufolge ungewöhnlich hoch. Aktuell liegt die Partei der amtierenden Kanzlerin Wilma von Greven weit abgeschlagen auf dem vorletzten Platz, noch vor der Umweltpartei von Finanzminister Sören Lange. Im Ranking sehen wir, dass die Traditionsparteien der christlichen Konservativen und der freien Demokraten hinter dem Bündnis Claudia Drewes und der Partei von Bernd Höfer, der neuen Rechten liegen. Die neue Rechte liegt aktuell in den Hochrechnungen vorn, liefert sich jedoch ein Kopf an Kopf rennen mit dem Bündnis CD. Die Linke, so abgeschlagen wie schon seit fünf Jahren nicht mehr, kommt gerade so auf sieben Prozent. Noch sind nicht alle Stimmen ausgezählt, aber in der Zentrale der neuen Rechten am Potsdamer Platz in Berlin ist schon Feststimmung angesagt." Das Bild wurde zu einer Partyszene aus einem Saal. Höfer stand ausgelassen singend auf dem Podium und winkte huldvoll in die Menge seiner Anhänger.

Mir fiel die Schüssel aus der Hand. Chips und Scherben verteilten sich über all auf dem Boden, aber niemand reagierte. Wir starrten alle auf den Mann, der dort ausgelassen seinen baldig besiegelten Wahlsieg feierte.

„Verdammte Scheiße!", brachte David schließlich gepresst hervor, als zum Bündnis CD geschaltet wurde.

Hassan war ganz bleich geworden. „Das ... Das sind doch die Ausländer raus Menschen, oder?"

Oleg legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Keine Sorge! Deutsche Demokratie ist zäh! Die bekommen sie nicht kaputt." Wie um eine Bestätigung zu hören, stieß er über Pola hinweg David an, aber er reagierte nicht.

„Sie brauchen doch Koalitionspartner, oder? Und ... Und wenn sie die Verfassung ändern wollen eine ⅔ Mehrheit, habe ich recht?", stammelte Nila stattdessen und schlug sich die Hände vors Gesicht. „Ich will nicht in die Türkei! Ich spreche nicht einmal die Sprache, richtig! Was soll ich denn da?"

Mir wurde schwindelig. Das war ein Fiebertraum! Es musste ein Fiebertraum sein! Niemand wäre so dumm, ein Kreuz bei einer Partei zu machen, deren einziges Ziel der Untergang der Demokratie und die Herrschaft der alten weißen Männer war, oder? Wir hatten doch alle über die NS-Zeit in der Schule gehört. Niemand konnte wollen, dass sich sowas potenziell wiederholte.

Oleg seufzte. „Alles nicht so schlimm! Ganz bestimmt, wird das werden. Gerade sieht es nur ... schwierig aus."

Ein Ruck ging durch David. Er sah mich an. Sein Blick brannte auf meiner Haut. Eine intensive Ruhe ging von ihm aus, wie die vor einem Gewitter, das schon längst in seinen Augen tobte.

Ich kniete mich zittrig auf den Boden und fing an, die Scherben einzusammeln. Alles drehte sich. Das Gerede aus dem Fernseher schrappte an mir vorbei. Es waren nur Worte, keine Versicherungen, dass doch alles gut werden würde. Ich merkte erst, dass ich mich an einer Scherbe geschnitten hatte, als Blut über meinen Handrücken lief. Verstört betrachtete ich, wie der Tropfen eine immer längere Spur zog und schließlich auf die ausgetretenen Dielen fiel.

„Mädchen!", rief Pola wie durch Watte, riss meine Hand zu sich und scheuchte Oleg los einen Handfeger zu holen. Als ich den Blick hob, sah ich nur David an. „Wird alles gut?" Drei Worte. Drei Worte, bei deren Beantwortung ich nur ihm und meinem Vater trauen würde.

Er zuckte mit den Schultern und ging vorsichtig, nicht in die Scherben zugeraten, vor mir in die Knie. „Das weiß man erst in ein paar Tagen, Hanni. Mach dir keine Sorgen."

Seine Betonung sagte mir allerdings, dass ich mir durchaus Sorgen machen sollte. Keuchend holte ich Luft. Mein Brustkorb fühlte sich an, als wenn er durch eine Schraubzwinge gedreht worden wäre. Panisch wollte ich Pola meine Hand wegreißen und nach meinem Handy tasten, aber die behielt meine immer noch blutende Hand fest im Griff.

Ich reagierte über. Ganz bestimmt! In meinem Kopf sah ich schon Rauch über dem Dorf aufsteigen und alle sagen, sie wüssten von nichts. Kinder, die von ihren Familien getrennt wurden. Menschen, die mehr Gerippe waren, als alles andere und einen mit Augen ganz haarscharf zwischen Leben und Tod anstarrten. Tränen stiegen mir in die Augen. „Es wird alles gut!", wisperte ich.

Ein Muskel unter Davids linkem Auge zuckte und er nickte langsam, bedacht. „Es wird alles gut!" Vorsichtig, als wäre ich aus Glas, fasste er mich am Ellenbogen und half mir hoch. Pola hatte ein Taschentuch hervorgezaubert und wischte mir damit das Blut vom Arm. „Komm, wir versorgen erst einmal deine Hand."

Ich saugte den beruhigenden Klang seiner Stimme förmlich in mir auf. Sie hüllte mich ein, ließ ein Herz wieder ruhiger schlagen und meine Lider schwerer werden.

Er zog mich in die Küche. Mit einem Ohr hörte ich, wie Oleg mit Hassan diskutierte, ob sie nun Tatort gucken würden, oder die Komödie auf RTL. Nila murmelte nur, dass sie ins Bett gehen würde, und verabschiedete sich nicht einmal, als die Tür hinter ihr zu schlug.

Wie in Trance saß ich auf dem Küchenstuhl. Die alten schwarz-weißen Fliesen fühlten sich kalt unter den Socken an und verdeutlichen mir, dass ich leider nicht träumte.

Die kleine Tasche, in der wir Pflaster und Desinfektionsmittel aufbewahrten, schrappte über die Tischplatte des kleinen Holztisches, der an der langen Wand schräg gegenüber vom Fester stand. Ich verfolgte matt, wie David das Desinfektionsmittel auf den Tisch stellte und Pflaster, aus dem Fach mit den Fingerpflastern zog.

„Reagiere ich über?", fragte ich rau und sah aus dem Fenster in die langsam dunkler werdende Nacht.

Er löste den Verschluss vom Desinfektionsspray. „Nein. Es ist schockierend. Ich kann verstehen, dass du Angst hast." Die Worte, dass auch er Angst hatte, hingen unausgesprochen zwischen uns. Kaltes Spray traf auf meine Wunde und vermischte sich mit dem alten Blut.

„Was passiert jetzt?"

„Das, was immer passiert. Aktuell stehen sie bei 37 %. Sie müssen einen Koalitionspartner finden. Und Hanni, das werden sie nicht schaffen!"

Die Finger meiner anderen Hand schlossen sich um die Tischkante, bis die Knöchel weiß hervortraten. Ich kaute auf meiner Unterlippe. Ich wollte es glauben, aber etwas in mir bäumte sich auf.

„Was machen wir, wenn sie es schaffen?"

„Beten." Vorsichtig wickelte er das Pflaster um meinen Finger und strich mir danach sanft über die Handfläche. So trocken und ernst hatte ich David noch nie erlebt. Selbst bei der Verteidigung seiner Masterthese hatte er noch etwas Witz gehabt.

Unsicher suchte ich seinen Blick. „Können sie die Demokratie abschaffen?"

Er atmete scharf aus und ließ sich gegen die Rückenlehne des Stuhls mir gegenüber sinken. Sein Blick glitt über die Wand. Angespannt presste er die Lippen zusammen.

„David. Können sie das?"

Zögerlich nickte er. „Es gibt Wege."

„Und was machen wir dann?" Mir wurde heiß-kalt bei dem Gedanken. Was würde dann mit meinen Eltern passieren? Mit Davids Eltern? Seine Mutter war immer sehr aktiv in der Umweltpartei gewesen. Was würde dann langfristig hier passieren? Gott, die Wirtschaft würde sterben. Einen ganz bitteren hundselenden tot!

Er blinzelte. „Willst du die ehrliche Antwort?" Schwer schluckend, wandte er mir wieder den Kopf zu. „Ich weiß es nicht!" 

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