Kapitel 3

Samstag

Ich wurde weit vor David wach. Die Dämmerung tauchte das Schlafzimmer in ein zart rosanes Licht. Durch das offene Fenster drang leises Schnauben zu uns hoch. Die Vögel fingen schon leise an, ihre Lieder zu singen, die vom Rauschen der Bäume untermalt wurden. Ein Windstoß blähte die weißen Vorhänge.

Es sah wieder einmal nach einem wunderschönen Tag aus. Ich wurde allein bei dem Gedanken an den Ausritt mit Katja und vielleicht auch Sabse ganz kribbelig. Mir kam es vor, als wäre das wieder eine halbe Ewigkeit her, dass wir zusammen als Trio unterwegs waren. Mit zwei Kleinkindern und einem Stall voller Sportpferde war das eben nicht mehr so leicht wie noch vor ein paar Jahren. Ich wollte mich aus der Bettdecke kämpfen, um vielleicht einen Blick auf die Weiden erhaschen zu können, wie der Nebel über sie waberte, Rehe über die Wiesen sprangen und die Silhouetten der Pferde daraus auftauchten, als wären sie verwunschen worden.

Bevor ich jedoch die Beine über die Bettkante schwingen konnte, zog David mich schon zurück. Fest schlang er einen Arm um mich und nuschelte in meine Haare. „Hassan fährt allein aufs Turnier. Es ist Samstag und bestimmt noch keine acht Uhr."

Ich wollte seinen Arm von mir schieben, aber er zog mich stattdessen nur noch fester an sich. Seine nackten Bauchmuskeln drückten gegen meinen Rücken und der Bund seiner Calvin Klein drückte gegen meinen spärlich bedeckten Hintern.

Ok, vielleicht liebte ich nicht nur diesen Hof und all seine Bewohner auf die Art, wie ein kleines Mädchen ihr Mädchenbuch liebte. Noch sehr viel tiefer liebte ich diesen Mann, der da hinter mir lag und mich an sich drückte, als wäre ich alles, was in diesem Moment zählte.

Ein tiefes Seufzen entfloh meinen Lippen.

„Ist das Leben so hart zu dir?", neckte mich David prompt mit rauer Stimme, die etwas in meinem Inneren prompt zu klingen brachte.

Ich drehte mich in seinen Armen und legte ein Bein über seine Hüfte. Frech drückte ich ihm einen Kuss auf die Nasenspitze. Blinzelnd öffnete er die Augen. „Das Leben ist alles andere als hart zu mir im Augenblick! Ich komme mir vor, als würde ich in meinem Kindheitstraum leben!" Und als wenn alles mit einem goldenen Filter überzogen worden wäre.

„Hattest du simple Träume als Kind." Er gähnte und zog seinen Arm unter mir weg. Müde fuhr er sich über die Augen. „Jetzt hast du es erreicht. Ich bin wach!"

Zufrieden kicherte ich und rutschte näher an ihn. „Ziel erreicht! Nicht, dass mir hier auch nur ein ganz kleines bisschen langweilig wird!"

Pola hatte schon den Tisch gedeckt, als wir herunterkamen. Wie immer hatte sie für sich und Oleg nicht eingedeckt und warf David einen missbilligenden Blick zu, als er noch zwei Teller aus dem Schrank holte und demonstrativ an die noch freien Plätze stellte.

Kopfschüttelnd baute sie sich vor ihm auf. „Was, wenn wir schon gegessen haben!"

„Habt ihr nicht." David bedachte sie mit einem lieben Lächeln, das nur zeigte, wie sehr er die kleine alte Dame liebte. „Pola, wie oft noch? Ihr seid Familie und esst mit uns!"

Tief holte sie Luft. Ihr Blick wurde milder und sie griff nach seinem Hemdkragen. „Bist ein guter Junge. Das warst du schon immer." Liebevoll, wie es nur eine Großmutter tat, richtete sie ihm den Kragen und wischte ihm jedes noch so kleine Staubkorn von den breiten Schultern. Sanft lächelnd legte sie den Kopf schief und atmete tief ein. „Es kommt mir vor, als wäre es gestern gewesen, da warst du noch ein ganz kleiner ungezogener Schuljunge, der mir die Zuckerdose umgestoßen hat."

David warf mir einen genervten Blick zu, dann wandte er sich wieder an Pola. „Lass die Geschichten doch einmal ruhen!"

„Wieso? Das Mädchen muss doch wissen, worauf sie sich da eingelassen hat!"

Das Mädchen, also ich, musste herzlich lachen und ließ sich einfach an den Tisch plumpsen. „Das weiß ich doch schon. Wir haben ein Jahr im Studium zusammengewohnt und es war chaotisch!"

Trotzdem dachte ich noch gern an die kleine Wohnung in der gepflasterten Seitenstraße kurz vor der Marburger Oberstadt. Die morgendlichen Autofahrten zum Stall und das schnell umziehen vor den Vorlesungen würde ich nie vergessen. Wir hätten früher kommen können. Früher die Zügel in die Hand nehmen, aber da waren David und mein Vater gewesen, die darauf bestanden hatten, dass ich mein Studium beendete. Ich konnte jetzt vielleicht Rechnungswesen und Marketingpläne schreiben, aber es nutze mir nichts. David war schneller im Büro, als ich es je sein würde. Nur beim Verkaufen war ich etwas gewitzter.

„Natürlich war das chaotisch!" Pola goss mir, ohne zu zögern, Orangensaft ein. „Als Junge hat er immer nur Chaos gemacht! Egal, wo er hinkam. Chaos überall!"

„Hallo? So schlimm war es auch wieder nicht! Und jetzt hör auf, uns zu bedienen, und setz dich hin!" David rückte ihr demonstrativ den Stuhl zurecht.

Sie zögerte. Wie immer, wenn David entschied, dass sie nicht mehr die Haushälterin war, die seine Mutter einst eingestellt hatte. Sie war so viel mehr als das! Seufzend setzte sie sich und ließ zu, dass David ihr den Stuhl heranschob und sich zur Tür wandte. „Ich hole noch Oleg."

Nur Sekunden später war er aus der Tür und Pola fing schon wieder an, mich zu bemuttern. „Du siehst zu dünn aus, Mädchen! An dich muss was dran, besonders wenn du mal Kinder bekommen solltest."

Ich verschluckte mich an meinem O-Saft. Sie meinte das augenscheinlich ernst, so wie sie mich ansah. Gut, das erwarteten wohl alle als Nächstes, genauso wie Hochzeitsglocken, aber konnte nicht alles erst einmal noch so bleiben, wie es war?

„Oh!", machte sie mitfühlend und klopfte mir kräftig auf den Rücken. Die Frau hatte echt eine erstaunliche Kraft. „Keine Sorge! Ich habe extra Croissants im Ofen und die gute Haselnusscreme gemacht." Sie zwinkerte mir zu.

Seit wir letztes Jahr hergezogen waren, hatte ich bestimmt schon fünf Kilo zugenommen. Zumindest trug ich meine Reithosen jetzt fast zwei Nummern größer. Aber man konnte bei ihrem Essen auch einfach nicht nein sagen!

„Lieb von dir Pola", krächzte ich.

Sie strahlte über das ganze Gesicht und ihre blauen Augen funkelten. „Heute Mittag gibt es auch Dessert." Verschwörerisch lehnte sie sich vor. „Ich habe Szarlotka gemacht."

Ah! Dafür brauchte sie die Äpfel, die ich kaum, dass Katja gesagt hatte, dass sie käme, im Dorfladen besorgen musste. Ich seufzte leise bei dem Gedanken an den Apfelkuchen. „Du verwöhnst uns alle viel zu sehr! David hat recht, du kannst auch mal einen Gang herunterschalten. Oleg und du seid Familie."

Schwere Schritte auf dem Flur und gedämpfte Stimmen kündigten die Männer an.

Oleg tat als Erster ein. Wie immer trug er eine dunkelblaue Arbeitshose und eine staubige dunkelblaue Jacke, die mehr an einen Kittel erinnerte. Beim Anblick des Tisches hob er die Hände, als wollte er Gott dafür danken. „Was ein Anblick! Schönes Essen und noch viel schönere Frauen!"

Pola schnalzte und schmunzelte. „Er ist so ein Spinner!"

„Eine davon gehört mir!" Grinsend schob David sich an ihm vorbei.

„In deinen Träumen!" Ich streckte ihm die Zunge raus. „I'm my own woman!"

„Wie anmaßend von mir!" Theatralisch legte er eine Hand auf seine Brust und setzte einen Blick zum Steinerweichen auf.

„Du bist immer anmaßend!" Katja schob sich durch die Tür. „Komme ich noch rechtzeitig zum opulenten Frühstück? Ach, und es ist so 1990, die Haustür aufzulassen!"

„Katti, du bist so nett zu mir!" Suchend sah David sich um. „Ist Jonas gar nicht mit?"

Sie kniff ihm in die Wange. „Nein. Angeln mit seinem Vater."

Kaum hatte sie seine Wange losgelassen, presste David auch schon seine Hand dagegen und warf ihr einen vernichtenden Blick zu.

„Poli, Poli, Poli", jubelte Katja als Nächstes und schlag die Arme fest um Pola, die sofort genießerisch die Augen schloss. „Es riecht schon wieder fantastisch!"

Sofort wirbelte Kaja weiter zu Oleg. „Oh Oli, ich habe dich vermisst! Aber zu Weihnachten lässt du mich dir doch endlich mal einen neuen Kittel schenken, oder eine dieser schicken Wachsjacken, oder?"

Oleg winkte ab. Wie immer. „Ist noch gut! Ich brauche nicht mehr! Siehst du?" Er griff in die Taschen des Kittels. „Hat auch tiefe Taschen für alle die Dinge, die ich brauche."

Sie seufzte und strich sich ihre dunklen Locken hinter das Ohr, bevor sie sich auf mich stürzte. „Da ist ja meine Lieblings-hoffentlich-bald-Schwägerin! Ich habe dich noch viel mehr vermisst, als alle anderen hier Hanni!" Fest drückte sie mich an sich. Sie roch nach ihrem Lieblingsparfüm und der Stoff ihrer Bluse fühlte sich herrlich weich unter meinen Fingern an. „David, du musst ihr echt langsam mal einen Ring anstecken. Du kannst sie nicht ewig hinhalten und eine wie Hanni, bekommst du nie wieder! Hat Mama nicht ihren Ring hiergelassen?"

Ich wollte gerade etwas sagen, da war David schneller.

„Ich halte sie nicht hin! Und was weiß ich, ob Mama ihren Ring hier gelassen hat?"

„Ja klar. Du hast bestimmt, sobald das Wort fiel, weggehört, du alter Bindungsphobiker." Katja ließ mich los.

„Äh, wenn ich bindungsphobisch wäre, dann würde Hanni da gerade nicht sitzen!"

Sie kicherte und legte den Kopf in den Nacken. „Ich mache doch nur Witze, kleiner Bruder! Einer muss dich hier ja ärgern. Sie hier ..." Sie kniff mich sanft in die Schulter „Ist viel zu lieb dafür!"

Beim Frühstück herrschte ausgelassene Stimmung, wie immer, wenn Katja da war. Sie war wie ein Hurrikan. Brachte alle zum Lachen und kein Tag mit ihr war je grau gewesen.

Wir bleiben nach dem Frühstück noch sitzen. David ging mit Oleg in den Stall und Pola wirbelte wie ein Derwisch durch die Küche, sodass sich kein Normalsterblicher herein trauen würde.

Katja rührte in ihrem Kaffee herum und betrachtete mich. „Ist das Leben hier immer noch schön, Hanni-bun? Oder haben die Dorftrottel dir schon das Hirn zerfressen?"

Ich schmunzelte. „Es ist immer noch schön und das Dorf nur halb so schlimm, wie du es immer dargestellt hast. Vermisst du es nicht?"

Sie wiegelte den Kopf hin und her. „Mal so, mal so. Die Pferde, die vermisse ich!" Als sie die Tasse an die Lippen setzt, strich sie sich ihre Haare aus dem Gesicht und ein blauer Fleck auf ihrem Hals wurde sichtbar. Er hatte fast die Form eines Daumens. So als hätte sie jemand grob am Hals gepackt.

„Was hast du da?"

„Hmh?" Sie sah wieder von der Tischplatte auf. „Ach das, ich bin beim Putzen gegen einen Tisch gefallen. Ich hatte vergessen, wie glatt frisch gewischte Fliesen sein können. Du kennst das doch."

Ein ungutes Gefühl machte sich in meinem Magen bereit. Das war nicht das erste Mal. „Katja ..."

Sie unterbrach mich unwirsch. „Kein Wort zu David! Ist das klar?" Mahnend hob sie einen Zeigefinger und sah aus, als würde sie jeden Moment gehen wollen.

„Hast du Angst, dass er sich sonst mit Hassan und Oleg deinen Mann schnappt und ihn so lange im Bach waterborded bis er sich von dir scheiden lässt?"

Katja machte eine fahrige Handbewegung, die feinen Goldarmbänder an ihrem Handgelenk klimperten leise. „Wer will sich denn scheiden lassen? Nils ist kein schlechter Mann, nur etwas ... impulsiv." Sie stellte ihre Tasse wieder auf den Tisch und lächelte wie auf Knopfdruck. „Wann kommt Sabse?"

„Keine Ahnung. Ich denke, in einer Stunde. Vielleicht auch zwei. Sie haben wieder Erntehelfer und sie muss einweisen, helfen und dann muss sie Odni noch satteln und erst einmal herreiten."

Sie sah aus dem Fenster. „Wenn wir schon über Pferde reden. Kann ich heute Stella nehmen? Das letzte Mal ist sie so schön gelaufen!"

Ich nickte.

Sofort klatschte Katja vergnügt in die Hände. „Das wird so schön! Wir drei, die Pferde und verdammt gutes Wetter!"

Das erste Mal waren wir vor zwei Jahren als Trio unterwegs. Katja hatte sich in den Kopf gesetzt, dass Sabse und ich die besten Freundinnen werden würden und hatte kurzerhand einen Ausritt organisiert. Ich hatte nicht schlecht geguckt, als plötzlich die Tochter des Obstbauern Probst, auf ihrem weißen Islandwallach Odni auf den Hof geritten kam und stürmisch von einer viel zu gut gelaunten Katja begrüßt worden war. Aber sie recht gehabt. Sabse war wirklich sowas wie meine beste Freundin. Spätestens seit wir hier wohnten, sah ich sie fast täglich und wir ritten viel zu oft schon mal spontan kleine Stücke zusammen, bei denen sie mich auf den neusten Stand brachte und mir die ganzen Gerüchte über mich und David, die schon wieder im Dorfkrug herumgeisterten, berichtete. Von Swingerparty auf dem Heuboden, bis hin zu Davids Eltern eingemauert im Keller, war schon alles dabei gewesen. Das musste man den Klatschmäulern lassen, sie waren in ihren Verschwörungen wirklich sehr kreativ!

„Hat sie schon gesagt, ob Nicos Papa wieder bei ihnen arbeitet?"

Ich schüttelte den Kopf. „Er wird nicht kommen. Ihr Vater will nicht, dass er noch mal einen Fuß auf den Hof setzt."

„Wie bei Romeo und Julia." Mit einem sehr passiven Romeo, der sich einfach damit abtat, dass er seinen Sohn nicht sehen würde. Wahrscheinlich war er schon wieder in Polen oder gar in Weißrussland und dachte gar nicht mehr an Sabse und den kleinen drei-jährigen Jungen.

Ich glaube, deshalb sind Sabse und ich auch so gute Freundinnen. Wir sind beide ausgestoßen aus der Dorfgemeinschaft. Ich weil ich von außerhalb kam. Sie, weil ihr Sohn unehelich geboren war und dann auch noch Zeugnis einer kurzen Affäre mit einem rumänischen Saisonarbeiter, der einfach nicht sesshaft werden wollte und lieber irgendwo zwischen Polen, Rumänien und Weißrussland seine Kreise zog. Selbst David, den die meisten hier hatten, aufwachsen sehen, meiden sie. Er eckte zu sehr mit seiner liberalen Meinung an und trank zu wenig Bier, um auch nur einmal im Dorfkrug zu versacken.

Ich seufzte und kippte noch etwas Zucker in meinen Cappuccino, für den könnte ich Pola immer noch küssen. Sie hatte sogar ein kleines Herz mit Kakao auf den Milchschaum gemacht und war darüber so stolz gewesen, wie ein Schulmädchen auf ihre erste eins. Das war das Dankeschön für die Ingwerstäbchen von Anfang der Woche.

„Hast du schon gewählt, oder geht ihr Morgen?"

„Ihr seid so ein Spießerhaushalt!" Katja schürzte die Lippen. „Natürlich! Ganz brav habe ich mein Kreuzchen gemacht und alles in den Umschlag gestopft, bevor ich ihn zur Post gebracht habe." Sie klang genervt. „Aber jetzt will ich nichts von Politik hören! Ihr seid beide so elendig, was das Thema angeht! Ich hätte David damals nie bitten dürfen, mein Pferd für mich zu reiten!" 

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