Kapitel 10

Samstag- 09.08 Die Misere nimmt ihren Lauf ...

David neben mir verspannte sich merklich. Sein Blick zuckte durch die vorderen Reihen, als wenn er jeden Moment erwarten würde, dass ein Tumult losbrechen würde.

Auch ich hielt die Luft an. Ärger ... inwieweit sollte da bitte Ärger anfangen? Ich hatte diese Leute, wann immer ich sie getroffen hatte als nett und respektvoll kennengelernt. Aber na ja, vielleicht täuschte ich mich auch.

Bodo räusperte sich. Er senkte den Kopf und fischte Karteikarten aus seiner Hosentasche. Na, das sah ja super aus!

„Äh ... ja ... wie fängt man sowas an? Ich bin nicht rechts. Das will ich betonen. Aber ..." Oh oh! Das fing ja gut an! „Ich muss auch sagen, ich finde es gerade unangenehm!"

In den vorderen Reihen hustete jemand. Ansonsten herrschte toten stille. Wir starrten alle auf die Bühne und warteten einfach nur ab.

„Wir haben Beschwerden über gestohlene Gegenstände, aufgebrochene Türen und Belästigung." Er biss sich auf die Unterlippe und sah angespannt die Reihen entlang. „Innerhalb unseres Vorstandes haben wir deshalb entschieden, allen von Ihnen anzuraten, ihre ähm ... Gast- nein! Saisonarbeiter zu entlassen und sich vom Arbeitsamt deutsche Arbeiter zuteilen zu lassen."

Das war nicht sein Ernst! Mir klappte der Unterkiefer herunter und es dauerte einen Augenblick, bis ich wirklich verstanden hatte, was er da gesagt hatte.

Ich war nicht die Einzige, bei der es einen Augenblick gedauert hatte. Sabses Vater sprang auf. „Super Vorschlag! Richtig gut durchdacht!" Seine Stimme triefte nur so vor Sarkasmus. „Ich brauche meine Polen, Rumänen und Bulgaren! Sie machen eine super Arbeit, sind herzliche Menschen und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie auch nur eine der Sachen gemacht haben, die ihr ihnen da vorwerft!"

Ein weiterer Bauer sprang auf. „Ich habe die doch neulich an meinem Traktor gesehen! Ganz neuer John Deer! Denen traue ich nicht über den Weg!"

„Mein Gott, sie interessieren sich genauso wie die Dorfjugend! Ist doch nichts dran! Oder haben sie versucht, dir den Schlüssel abzunehmen?" Sabses Vater ließ langsam rot an und eine Ader pochte sichtlich an seiner Schläfe.

Ein weiterer Bauer aus den vorderen Reihen stand auf. „Mensch Ulli, sei doch nicht so starrköpfig! Wenn die NR hier bald durchgreift, müssen sie eh weg. Ist sowieso besser so!"

Und das war anscheinend der fehlende Nagel im Sarg, dass David heftig aufsprang. Wut glomm in seinen Augen auf und seine Hand zitterte, als er meine losließ.

„Ihr seid doch alle nicht mehr ganz gescheit!"

Hinter ihm hörte man ein leises „endlich sagt es mal jemand!", ansonsten war Stille.

„Diese neue Rechte macht alles nur schlimmer! Habt ihr eine Ahnung, was das für Menschen sind? Habt ihr eine Ahnung, was sie eigentlich für ein Land wollen?"

„David, setzt dich hin Junge!", versuchte Bodo dazwischen zugehen, aber er hatte keine Chance. Dafür war David schon zu sehr in seinem Element.

„Wir werden alle ausbluten! Woher sollen die neuen Arbeitskräfte für unsere Höfe kommen? Hmh? Woher kommen die finanziellen Mittel, damit ihr eure Felder bestellen könnt, wenn ihr euer Getreide nicht mehr exportieren könnt, weil es Handelsembargo gibt?"

„Also jetzt mal halblang hier!" Schimpfte einer der Bauern von vorne. „Das ist alles das Gerede deiner Eltern!"

Zustimmendes Gemurmel.

„Das ist ne Nummer zu groß für dich Junge. Ein paar Jahre mehr Erfahrung ..."

David lehnte sich vor. Nur noch ein Wort und er würde sich auf diesen Bauern stürzen. Ich griff nach seinem Handgelenk. Sicher war sicher.

„Nein. Mit Erfahrung hat das nichts zu tun! Das, was ihr hier anbringt, ist faschistisches Gelaber!"

Das Gemurmel wurde empörter.

„Nennst du mich hier gerade einen Nazi?", zischte da schon der zweite Bauer. Oh scheiße! Der Typ stand inzwischen ziemlich gerade und verengte angriffslustig die Augen. „Dir hat man als Kind eindeutig keine Manieren beigebracht, aber was erwartet man, wenn die eigene Mutter lieber die Welt retten will und man von einer Polakin aufgezogen wird. Sowas kommt dann dabei raus, liebe Leute! Wollt ihr, dass eure Kinder auch so profillos werden, wie unser lieber David?"

David machte Anstalten zur Seite abzuhauen, um aus der Reihe rauszukommen, aber ich hielt ihn fest. „Setz dich hin!"

„Hör auf dein Blondchen. Ist besser, Junge!", hörte ich da Mimi sagen. Blondchen! Pfh! Danke auch!

David verengte die Augen und atmete heftig ein. Da war sie wieder die Zeitbombe, die jeden Moment detonieren würde. „Willst du mir sagen, dass du ein Problem mit Pola hast?" Er klang gefährlich ruhig, aber seine Hand bebte. Scheiße! Mimis Kommentar überging er galant.

Die Stille wurde erdrückend. Alle harrten aus und warteten auf die Antwort des Bauern. Aber der sagte nichts. Er starrte David einfach nur an, wie ein wütender Gartenzwerg.

„Sie hat niemandem von euch etwas getan! Wie oft hat sie euch Kaffee angeboten? Kuchen gebracht? Euch zu essen eingeladen, wenn ihr unsere Wiesen gemäht oder Heu gebracht habt? Wie oft seid ihr bei Problemen mit euren Pferden zu Oleg gekommen, weil ihr sein Wissen wolltet? Auch Nila und Hassan haben euch nichts getan! Sie sind immer freundlich gewesen! Berti, wer hat eure Lilly letztens nachhause gebracht, weil sie mit dem Fahrrad hingefallen ist? Nila! Die meisten von euch sind vorbeigefahren! Eure Doppelmoral ..."

Nein! Auf gar keinen Fall durfte er das jetzt aussprechen! Kurzentschlossen stand ich auf und fasste ihn so fest am Arm, dass es wehtun musste.

„Entschuldigung. Wir gehen." Ich lächelte bemüht freundlich und schliff David dann hinter mir her aus dem Raum.

Mir ging diese Doppelmoral auch auf die Nerven, aber das hier, wenn ich mich so umsah, könnte uns ganz schnell in Teufels Küche bringen, oder zumindest auf das Radar von Menschen, auf deren Radar ich nicht sein wollte.

Kaum dass die Saaltür hinter uns zugefallen war, entriss David mir seinen Arm und stürzte nach einem kurzen Zögern aus der Gaststätte.

Der Wirt lugte mit erhobenen Augenbrauen hinter dem Tresen hervor. Man konnte ihm ansehen, dass er die Show genoss.

Ich beeilte mich, hinter zukommen.

„Jetzt bleib stehen!", schimpfte ich, als ich fast über einen der Pflastersteine stolperte.

„Was sollte das?" David sprühte förmlich immer noch Funken. Seine Stimme bebte und seine Wangen waren gerötet. Angespannt stand er vor mir im Schein der Straßenlaterne und ließ den Kiefer kreisen.

„David, du hättest uns umbringen können!" Es war doch nur eine Frage der Zeit, bis alles was links von der neuen Norm war, verfolgt wurde. „Beruhig dich!" Ich machte einen Schritt auf ihn zu, aber er ging sofort einen Schritt rückwärts.

„Ich hätte nie gedacht, dass du, ausgerechnet du, mir so in den Rücken fällst!"

In den Rücken fallen? Ich hatte uns gerade den Arsch gerettet! Aber ok, wenn er das glauben wollte. Gerne, dann war ich jetzt die Böse!

„Ich finde das genauso beschissen. Ich kann auch dieses Gelaber nicht mehr hören, aber ich fahre nicht so aus der Haut!" Ich versuchte, seinen Blick einzufangen. „David, ihnen sind die Argumente ausgegangen. Hast du das nicht gemerkt? Wenn man es ihnen erklärt, aber gesittet, dann gibt es vielleicht noch Hoffnung. Nur deswegen sind sie persönlich geworden."

David schnaubte auf. Immer noch bebte sein Körper vor Anspannung. „Ihnen kann man nichts mehr erklären. Seit dieser ganzen Sache mit der Streichung der Subventionen haben diese Spinner bei ihnen doch Tür und Tor eingerannt!"

Er hatte ja recht, verdammt, aber aufgeben war doch keine Option! Ich machte wieder einen Schritt auf ihn zu. Dieses Mal wich er nicht zurück. „Ich weiß doch auch nicht, was wir machen sollen, aber ..." Ich atmete zittrig ein. „Aber so bringen wir uns nur in Gefahr! Hast du gesehen, wer da saß? Wenn wir was ändern wollen, dann subtil, sonst stehen wir bald auf einer Abschussliste."

David biss sich auf die Unterlippe. Langsam zog er die Augenbrauen zusammen und dann sackten seine Schulter nach unten. Resigniert senkte er den Kopf und schlang die Arme um mich.

Sein Herz schlug immer noch viel zu schnell, als ich mein Ohr an seine Brust legte und die Augen schloss. Wir mussten eine Einheit sein, sonst machten wir uns nur noch angreifbarer. Dann wäre der Hof als geschützter Raum und Idylle hinüber.

Die Gaststättentür schlug hinter uns. Schnelle Schritte kamen näher. Ich verspannte mich. Wenn es einer dieser Idioten war und er auf die Fresse haben wollte, dann kratze ich ihm eigenhändig die Augen aus.

„Gute Punkte, David." Sabses Vater blieb neben uns stehen. „Das sind alles illusionierte Traumtänzer. Wirklich unfair!"

Weitere Schritte kamen näher. David ließ mich los, behielt allerdings eine Hand auf meiner Hüfte.

„Unglaublich, was da drin debattiert wird!" Der Dorfpfarrer stand plötzlich vor uns. „Mit Nächstenliebe hat das nichts zu tun! Eine Schande, dass solche Debatten geführt werden müssen. Sehr mutig von dir, David!" Er lächelte und neigte sichtlich beeindruckt das Haupt. „Ich werde das morgen im Gottesdienst ansprechen."

David blinzelte verwirrt, aber nickte. Wohl eher aus Überforderung als alles anderem.

Galant streckte der Pfarrer mir die Hand hin. „Petersen. Wir kennen uns noch nicht. Sie müssen Johanna sein. Spricht sich hier schnell rum."

Ich lachte nervös. Super Info! „Ich ... äh ... na ja, gehe auch nicht oft in die Kirche, aber schön, Sie mal kennengelernt zu haben." Öfter würde ich deswegen jetzt aber auch nicht in die Kirche gehen.

Petersen lachte. Tiefe Lachfältchen bildeten sich um seine kristallblauen Augen, die etwas Stechendes hatten, und er legte mir eine Hand auf den Unterarm. „Keine Sorge. Das nehme ich Ihnen nicht übel. David habe ich auch seit seiner Konfirmation nicht mehr gesehen. Solange man im Herzen an die liebenden Werte glaubt, ist alles in Ordnung."

Ok ... Was auch immer liebende Werte waren.

Immer mehr Leute kamen raus, nickten uns zu und verschwanden schweigend in der Dunkelheit.

Sabses Vater zog den Reißverschluss seiner Jacke zu. „Soll ich euch am Hof absetzen? Und Sie, Herr Pfarrer, am Pfarrhaus?"

Zögerlich nickten wir nach einem kurzen Blickwechsel. David sah ziemlich fertig aus und auch bei mir machte sich eine bleierne Müdigkeit breit. Der Tag war anstrengender gewesen als gedacht! Es konnte nur besser werden!

Auch wenn David ruhiger aussah, sagte mir etwas in seinem Blick, das etwas in ihm brodelte und langsam Form annahm.

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