(92) Unterschiede


Zwischen Reue und Zorn hast du dich selbst verloren.

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Ich sah dabei zu, wie die Dunkelheit an uns vorbeizog. Es war stockfinster, am Himmel weder Sterne noch Mond zu sehen.

Die Sitzheizung in Markus Auto lud nur so dazu ein zu entspannen, meine Augen zu schließen und die Heimfahrt durch ein Schlummerchen zu verkürzen.

Mein Kopf lehnte die Einladung ab.

Ich konnte nicht aufhören, den heutigen Tag Revue passieren zu lassen. Es stellten sich schon lange keine neuen Erkenntnisse mehr ein und doch konnte ich nicht aufhören, nach welchen zu suchen.

Ich war kein Mensch.

Das war simpel und zugleich unfassbar kompliziert.

Damian hatte mich angesehen, als hätte ich den Verstand verloren, als ich darüber gelacht hatte.
Auch meine Erklärung „Kategorien sind einfach nicht mein Ding" hatte nicht geholfen, ihm verständlich zu machen, dass ich nicht besonders an meiner Menschlichkeit hing.

Markus konstanter Beobachtung zufolge erwartete er jeden Moment einen Zusammenbruch von mir.

Wenn jedem anderen seine Menschlichkeit abgesprochen worden wäre, ginge es mir vermutlich genauso. So eine Nachricht sollte jemanden in eine existenzielle Identitätskrise stürzen.
Ich erwischte mich dabei, eine vollkommen irrationale Erleichterung zu spüren.

Irrational deshalb, weil es doch Sinn ergab, in Definitionen Halt zu suchen. Ich hatte jahrelang nichts anderes getan, als ich versucht hatte, ein normales Leben führen, wie ein normaler Jugendlicher. Ich hatte in diesem Normalsein Orientierung gesucht. Bedeutung. Zugehörigkeit. Vielleicht sogar eine akzeptable Version von mir selbst.

Erleichterung deshalb, weil es für mich physiologisch nicht mehr möglich war, all das in der Anpassung an andere anzustreben - egal, wie viel Mühe ich mir gab, und egal, was ich mir einredete. Und ich hatte endlich mehr als mein Gefühl, um das zu rechtfertigen.

Solange Damian sich davon überzeugte, ich stünde unter Schock, hatte ich keine Chance, ihm begreiflich zu machen, dass ich mich gerade so authentisch fühlte wie nie zuvor.

Er sah nicht, dass meine Situation nicht mit seiner vergleichbar war. Als er damit konfrontiert worden war, dass er kein Mensch war, hatte er eine traumatische Erfahrung nach der anderen gemacht. Angefangen damit, die Misshandlung seiner Pflegemutter zu bezeugen, am Unfall seines Pflegevaters beteiligt zu sein, seine Pflegefamilie zu verlieren und nach stundenlangen Blackouts neben zerfetzten Tierleichen aufzuwachen.

Er war daran zerbrochen, immer und immer wieder, und seine Scherben hatten sich immer mehr, immer tiefer in seine Seele gebohrt und jede Sekunde seines Leben unbegreiflich schmerzhaft gemacht und diesen Schmerz endlos scheinen lassen.

Ja, meine Verwandlung war ebenso plötzlich gekommen wie seine. Aber da endeten die Gemeinsamkeiten auch schon.

Ich wusste schon seit Monaten vom Übernatürlichen. Ich hatte Zeit gehabt, mir ein Bild davon zu machen, selbst, wenn ich weit davon entfernt war, es auch nur annähernd zu verstehen.
Damian und ich machten andauernd neue Erfahrungen mit dieser verdeckten Welt. Wir setzten uns gemeinsam mit unseren Fragen dazu auseinander. Zwar hatten wir bisher auf die wenigsten davon Antworten gefunden, aber in meinen Augen hatten wir selbst aus dieser miserablen Erfolgsquote extrem viel gelernt. Einander zu lieben, zum Beispiel. Uns aufeinander zu verlassen. Uns überhaupt erst anzuvertrauen.

Wir lebten in einem Meer aus Geheimnissen, Unwahrheiten und Gefahren, aber wir konnten einander über Wasser halten und es gab Augenblicke, in denen wir eine Sandbank fanden oder eine kleine Insel.

Selbst, wenn die Flut es schaffte, uns einzuholen, lieferte die bloße Hoffnung auf einen weiteren solchen Augenblick mir den Mut zu sehen, dass die Wellen auch mal schwächer wurden und der Wasserspiegel sank.

Was wirklich entscheidend war, war, dass ich etwas hatte, für das sich jeder Kampf lohnte, egal ob in Meer, Wüste oder irgendetwas dazwischen.

Damian war damals ganz allein gewesen und er selbst war sich nichts wert. Ich hatte immer öfter das Gefühl, dass die Momente, in denen es ihm richtig dreckig ging, die zu sein schienen, in denen er am meisten mit sich im Reinen war.

Er hasste sich. Alles an sich. Gerade so sehr wie noch nie zuvor.

Die Art, wie er sich bisher seine Existenz erklärt hatte, hatte sich als Manifestation seiner Hilflosigkeit herausgestellt. Zu glauben, er trug ein Monster in sich, hatte ihm ein letztes bisschen Hoffnung gegeben, dagegen ankämpfen zu können. Es loswerden zu können. Irgendwann, irgendwie doch „normal" sein zu können.

Selbst, als er Seb kennengelernt und begonnen hatte, von sich als Gestaltwandler zu reden, hatte es so geklungen, als wäre das bloß ein Teil von ihm. Eine Unannehmlichkeit, die er hinter sich bringen musste, um sich danach dem richtigen Leben zu widmen. Mit mir.

Ich hatte diesen Kampfgeist in ihm geweckt. Alles, was ich getan hatte, wie ich mit ihm geredet hatte, meine Arten, ihm zu „helfen"... all das hatte seiner Verzweiflung etwas entgegensetzt. Ihm Hoffnung gemacht. Aber es hatte ihm auch suggeriert, seine Probleme wären Symptome und es gäbe eine Behandlung.

Ich wusste nicht, was er sich als Heilung vorstellte, doch ich befürchtete, genau darauf hatte er hingearbeitet. So als wäre er krank und als wäre es diese Krankheit, gegen die er ankämpfte, nicht er selbst.

Ich hatte ihn dabei unterstützt, ja es sogar befeuert. Er litt so sehr und allein, mir vorzustellen, nicht alles zu tun, das in meiner Macht stand, um ihm zu helfen, brach mir das Herz.
Gestaltwandler zu sein war nicht das einzige, das ihn belastete. Er war depressiv, er war traumatisiert, er war impulsiv... All das waren Dinge, für die es Therapien gab. Aber, welches Signal hatte ich damit gesendet, diese Therapien bei ihm anzuwenden? Hatte ich das jemals in einem Moment getan, der nicht mit seinem Gestaltwandler-Sein in Verbindung gestanden war? Noch viel wichtiger: Wie hatte das sein Bild von sich beeinflusst?

Je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass unsere Erfahrungen sich gravierender voneinander unterschieden als im ersten Moment angenommen. Das lag aber nicht daran, was wir waren – oder eben nicht –, sondern daran, wie wir waren. Wie wir dachten. Wie wir fühlten. Wie wir uns unsere Gefühle erklärten.

Für mich spielten Kategorien keine Rolle, weil mein Fokus auf Erfahrungen lag, die ich greifen konnte. Klar konnten Kategorisierungen diese Erfahrungen erklären, aber sie bestimmten sie nicht. Und vor allem: Ich wollte nicht, dass sie diese bestimmten. Ich wollte mein Verhalten nicht an vorgedachten Mustern orientieren, sondern daran, was ich in jedem einzelnen Moment für richtig hielt. Und je älter ich geworden war, desto weniger Bedeutung hatte es für mich gehabt, ob auch andere das für richtig hielten.

Deshalb hatte ich gedacht, Damian im Alltag durch meine Therapieerfahrungen helfen zu können. Ich hatte nicht berücksichtigt, dass in diesem Momenten für ihn nicht nur sein akutes Problem eine Rolle spielte, sondern auch, worauf er dieses Problem zurückführte. Auf welche Kategorie. Und wie er diese Kategorie bewertete – und im Zuge dessen auch sich selbst.

Unter diesen Umständen konnte er nicht verstehen, wie bedeutungslos es für mich war, ob ich nun als Mensch oder Gestaltwandler oder irgendwas dazwischen eingeordnet wurde. Genauso wenig wie ich verstehen konnte, dass er einerseits alles auf sein Gestaltwandler-Sein zurückführte und andererseits so tat als wäre das nur ein Teil von ihm, den er loswerden musste, bevor alles in seinem Leben besser wurde.

So richtig paradox war erst, dass ich als Reaktion darauf einerseits der Meinung war, er wäre viel mehr als nur Gestaltwandler und andererseits davon überzeugt war, Gestaltwandler zu sein steckte in jedem Teil von ihm, genauso wie sein Blut auf körperlicher Ebene und genauso wie seine Persönlichkeit auf psychischer.

Der wohl größte Unterschied zwischen Damian und mir war, dass ich eine Wahl hatte. Ich hatte die Ressourcen, herauszufinden, was mit mir los war, und aus diesen ergaben sich verschiedene Möglichkeiten, mit meiner Situation umzugehen. Ich konnte abwägen und eine Entscheidung treffen – Etwas, das Damian nie möglich gewesen war.

Vielleicht fühlte ich mich auch deshalb verpflichtet, bei meiner Entscheidung darauf Rücksicht zu nehmen, was er sich wünschte. Das Problem war nur, dass unsere Vorstellungen sich extrem voneinander unterschieden.

Option 1: Weitermachen wie bisher und hoffen, dass mein Körper mit meinen Kräften klarkam und sie mich im schlimmsten Fall nicht unbemerkt umbrachten.

Option 2: Entweder präventiv, oder, falls Option 1 nicht funktionierte: Meinen Körper und die Kraft in mir aneinander anpassen. Dazu musste ich Spencer intensivere Forschungen erlauben.

Beide Optionen trugen Gefahren für mein Leib und Leben in sich, letztere würde uns allerdings noch stärker an Spence binden als ohnehin schon. Außerdem wurden Experimente damit unweigerlich erforderlich. Aber wenigstens gäbe es die Möglichkeit zu minimalisieren, was 

Damians Biss in mir verändert hatte. Das war es, was er wollte. Keine Auswirkungen darauf haben, was mit mir passierte.

Dementsprechend verstört hatte er ausgesehen, als ich Spence nach einer weiteren Möglichkeit gefragt hatte:

Option 3: Die Blockade rückgängig machen und meine Verwandlung zum Gestaltwandler vollenden.

Für Damian war das keine berechtigte Alternative, sondern ein Horror-Szenario.

Was mich bei unserer Diskussion darüber schockiert hatte, war, dass Markus sich nach kurzer Zeit eingemischt hatte.

Er hatte damit argumentiert, dass ich keine Ahnung hatte, was es bedeutete, Gestaltwandler zu sein - ein Argument, das auch Damian vorgebracht hatte. Markus hatte sich aber nicht auf die Verwandlung bezogen oder die erforderliche Selbstkontrolle und alle Schwierigkeiten, die damit einherkamen. Was er gemeint hatte, waren die lebensweltlichen Konsequenzen dieser Entscheidung.

Ich spielte mit dem Gedanken, mich in eine Welt zu katapultieren, die keine Scheu hatte, einen Anspruch darauf zu erheben, dass ich ihren Regeln folgte und mich Hierarchien unterordnete, von denen ich nichts verstand.

Gestaltwandler zu werden würde bedeuten, ein Leben in einer mir bisher unbekannten Welt zu führen. Für andere Gestaltwandler hätten Damian und ich eine Bedeutung, an welche soziale Positionen, Privilegien und Verpflichtungen geknüpft wären, die unser Verhalten und das Verhalten anderer uns gegenüber bestimmen würde.

Es war Spence gewesen, der die Diskussionen beendet hatte, bevor mir der Kopf geplatzt war. Er hatte uns alle daran erinnert, dass ich nicht sofort eine Entscheidung fällen musste, uns nachhause geschickt und gesagt, er wollte nicht von uns hören, bis wir ausgiebig geschlafen hatten.

Also saßen Markus, Damian und ich im Auto und brüteten die geladene Stille aus, die auf unsere hitzigen Diskussionen gefolgt war.

Das bedeutete allerdings nicht, dass ich Abstand zu Damian wollte. Ich hielt die gesamte Autofahrt über seine Hand und er hielt meine, während wir in entgegengesetzten Richtungen aus den Scheiben starrten.

Es gab so vieles, über das wir dringend reden mussten, so vieles, bei dem wir unterschiedlicher Meinung waren, so vieles, das wir klären sollten... Ich konnte hier still neben ihm sitzen, ohne das geringste bisschen Unruhe zu spüren, weil ich mir selbst keine andere Wahl gab als auf meine Verbindung zu ihm zu vertrauen.

Wir würden uns schon irgendwie zusammenraufen, schlichtweg, weil ich mir kein Leben ohne ihn vorstellen konnte.

Dass ich mitten in meinen Gedanken in einen komatösen Schlaf abgedriftet war, merkte ich erst, als Damians Lippen auf meinem Mundwinkel mich zurück ins Reich der Wachen holte.

Damian saß direkt neben mir und strich mit einer Hand durch meine Haare, während er einen weiteren Kuss auf meine Wange drückte und einen weiteren in meine Haare.

„Mhh", hörte ich mich verschlafen Brummen.

„Sorry fürs Aufwecken", murmelte Damian, „Ich hätte dich gerne weiterschlafen lassen, aber ich dachte, es ist besser, dir etwas Zeit zu geben, richtig wach zu werden, bevor wir deiner Tante begegnen. Sie klang richtig angepisst."

„Meine Tante?"

Schlafforscher behaupteten zwar, das Hirn wäre im Schlaf weiterhin aktiv, aber ich lieferte den Gegenbeweis. Mein Kopf hatte vollkommen abgeschaltet.

„Das Tor war geschlossen, deshalb mussten wir klingeln", erklärte Damian weiter.

Ich schaute mich um und erkannte uns in Markus' Auto sitzen. Seine Augen sahen mich durch den Rückspiegel an und erinnerten mich an alles, was die letzten Stunden über passiert war. Im Augenwinkel erkannte ich, dass wir die Auffahrt zum Haus meiner Tante hinauffuhren.

„Fuck, war heute ein langer Tag", seufzte ich.

Damian brummte zustimmend, während er seinen Kopf an meine Schulter lehnte. „Lass uns Samstag und Sonntag im Bett verbringen. Nur du, ich, und eine Tube Gleitgel."

„Ernsthaft?" Als Markus Augen diesmal aus dem Spiegel zu mir sahen, lag Ekel darin. „Könnt ihr mir sowas nicht ersparen?"

„Hör einfach nicht hin", gab Damian zurück, schon bevor ich mich entschuldigen konnte. Danach wandte sich Damian leiser an mich. „Was glaubst du, wie lange würde Finn brauchen, um Markus in einen sexpositiven Hippie zu verwandeln?"

Mein verschlafenes Hirn sprang an, um mir ein entsprechendes Bild zu zeigen, das dermaßen absurd war, dass ich nur antworten konnte: „Ich wäre ein scheiß Freund, wenn ich nicht an Finn glauben würde, aber sagen wir mal, es besteht die Wahrscheinlichkeit, dass Markus Finn zuerst in einen Playmobilmenschen verwandelt."

„Ist euch klar, dass ich euch hören kann?" Markus schüttelte missbilligend den Kopf. „Fangt ihr nicht auch noch mit Playmo an."

Ich war kurz davor, ihn zu necken, ob nur Spence ihn so nennen durfte, als er mit einem leisen „Uh-oh" zum Haus schaute und sagte: „Konzentriert euch aufs Wesentliche."

Er hielt auf dem Hof vor der Garage. Die Haustür war einen schmalen gepflasterten Weg durch den Vorgarten entfernt, doch durch die nächtliche Dunkelheit hatten wir keine Probleme zu sehen, dass meine Tante, bekleidet mit Pantoffeln und flauschigem Bademantel über ihren legeren Klamotten in der offenen Haustür stand.

Der verhärtete Ausdruck auf ihrem Gesicht war kein gutes Zeichen.

Ohne noch etwas zu sagen, stieg Markus aus und lief auf meine Tante zu. Damian und ich schnappten uns unsere Rucksäcke und folgten ein paar Meter hinter ihm.

Ich war nicht nur den halben Tag verschwunden gewesen, sondern ich war mitten in der Nacht mit jemandem zuhause aufgetaucht, den meine Tante von mir fernhalten wollte. Keiner Wunder also, dass sie sauer war.

Und doch konnte ich mich nicht dazu überwinden, Reue zu zeigen.

Ich hatte mich nicht bei ihr gemeldet, weil ich sauer auf sie war. Wenn sie irgendwann in den letzten 15 Jahren ehrlich zu mir gewesen wäre, wäre sie es gewesen, die ich angerufen hätte und mit der ich jetzt den Weg zum Haus bestreiten würde.

Dass ich jetzt mit Markus hier ankam, war die Konsequenz ihrer Taten.

„Hast du eine Ahnung, wie spät es ist?" Da sie den Weg ins Haus versperrte, blieben Damian und ich neben Markus vor der Treppe zur Haustür stehen.

Obwohl die Stufe den 1,70 meiner Tante etwa 10 Zentimeter hinzufügte, war sie damit gerade erst auf gleicher Höhe mit Markus und Damian. Ich war nach wie vor größer als sie. Vielleicht schüchterte ihre ungewöhnlich kalte Stimme mich deshalb nicht ein.

„Irgendwas zwischen 6 Uhr abends und 6 Uhr morgens", gab ich nonchalant zurück.

Sie ließ empört den Atem aus. „Versuch es mal mit 2 Uhr morgens."

„Und?" Ich spielte meine Rolle des Ahnungslosen perfekt. Dieses Talent lag wohl in der Familie. 

„Normalerweise interessiert es dich nicht, wann ich nachhause komme."

„Normalerweise gehst du verantwortungsbewusst mit meinem Vertrauen um."

Das machte mich sprachlos.

Sie hatte ihr Vertrauen in mich verloren, weil ich zu spät nachhause gekommen war, ohne bescheid zu geben.

Mein Vertrauen in sie war erschüttert, weil sie mir selbst jetzt etwas vormachte, wo ich von Gestaltwandlern und der Verwicklung meiner eigenen Familie mit ihnen wusste.

Sie sah meine Beziehung zu Damian als Gefahr für ihr Lügenkonstrukt und hatte es dennoch gewagt, mir Mitgefühl vorzuheucheln, als ich darunter gelitten hatte, dass er mich ignoriert hatte. Ihr war es lieber gewesen, ich würde nicht wieder mit ihm zusammenkommen als, ehrlich sein zu müssen.

Der Punkt, an dem ihre Heimlichtuerei irgendetwas Positives für mich bedeutet haben könnte, war lange vorbei.

Alles, was sie jetzt noch damit erreichte, war, mich ich zu verletzen. Und sie erwartete von mir, so zu tun als wäre alles in bester Ordnung.

Dass ich die Wahrheit wissen wollte, war nicht das Problem, verdammt! Das Problem war, dass sie auf ihre Verschwiegenheit bestand.

Wenn sie wollte, dass ich verantwortungsbewusst mit ihrem Vertrauen umging, sollte sie mit gutem Beispiel vorangehen und mir zeigen, dass sie mein Vertrauen wert war und, dass sie Verantwortung übernahm.

„Rein mit dir", forderte meine Tante, als sie merkte, dass sie selbst mit ihrem autoritärsten Blick keine Reaktion von mir bekommen würde.

Sie machte einen Schritt zur Seite und deutete auffordernd in den Flur.

Ich bewegte mich nicht.

Ihrer Aufforderung zu folgen, würde einer Kapitulation gleichen.

Ich wollte nicht ins Haus trotten, eine Erklärung für mein Verhalten abliefern, zurechtgewiesen und auf mein Zimmer geschickt werden. Was ich getan hatte, war keine Jugendsünde, der sie mit Erziehungsmaßnahmen begegnen musste. Ich war kein Kind mehr und ich hatte auch kein Verbrechen begangen.

Mit meiner Volljährigkeit hatte meine Tante ihren Status als meine Erziehungsberechtigte verloren. Ich hatte Anspruch auf ihre weitere Unterstützung, doch ich hatte auch das Recht, sie abzulehnen und mein eigenes Ding durchzuziehen.

Dadurch fand ich meine Sprache wieder. 

„Wenn du bereit bist zu reden, kommen wir rein. Wenn du weiter Marlon-Verarsche spielen willst, hole ich meine Schulsachen für morgen und gehe zu Damian. Oder zu Finn. Vielleicht sogar zu Markus. Mir egal. Hauptsache ich bin nicht hier."

„Marlon." Sie strich sich erschöpft durchs Haar. „Es ist mitten in der Nacht. Komm rein, geh ins Bett und morgen nach der Schule können wir reden."

Das war ein sinnvoller Plan. Ich war viel zu aufgewühlt und angespannt und ich hatte keine Ahnung, ob ich die Kapazitäten für ein Gespräch hatte. Aber ich wusste, dass ich definitiv nicht die Kapazitäten hatte, jetzt in diesen Flur zu gehen, mich dann ins Bett zu legen und friedlich einzuschlafen.

Davon abgesehen konnte ich nicht darauf vertrauen, dass sie morgen nicht ahnungslos spielte.

„Ich habe es satt, vertröstet zu werden. Du findest ständig neue Wege, meinen Fragen auszuweichen oder so zu tun als wüsstest du von nichts. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir noch irgendwas glauben kann."

Zu sehen, wie der Schock über meine Worte ihre autoritäre Maske zersprengte, und die Angst darunter freilegte, veranlasste mich beinahe dazu, mich vor Schmerz zu krümmen.
Ihr wehzutun, tat mir selbst weh. Doch es war nötig, denn, immer so weiter zu machen wie bisher machte mich kaputt.

Was daran am meisten schmerzte, war, dass es keine Worte gab, um ihr begreiflich zu machen wie sehr. Dazu müsste sie in der Lage sein zu fühlen, wie sehr ich sie liebte und, dass es eben diese Liebe war, die mich von innen heraus in Stücke riss, wenn ich realisierte, dass ich es mir selbst schuldig war, das beste für mich zu tun. Selbst, wenn das bedeutete, jemandem den Rücken zuzukehren, der mir gleichzeitig den größten Komfort bieten konnte und mir stattdessen den größten Schmerz zufügte.

Nein, das, wovor ich mich schützen musste, war, dass sie sich weigerte, meinen Schmerz anzuerkennen.

„Mein Leben ist eine Wahnvorstellung, Carla. Ein Wahn, den du geschaffen hast."

Sie schüttelte den Kopf, presste dabei aber so fest die Lippen zusammen, dass sie gar nichts sagen konnte.

„Ich bin bereit für die Realität. Ob mit dir oder ohne dich."

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