(90) Knuffig
Nicht das Wissen ist die Gefahr, sondern die Person, die es besitzt.
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Manche Momente waren so mächtig, dass alles andere an Bedeutung verlor.
Damian und ich in diesem Auto... Mächtig war dafür gar kein Ausdruck mehr.
Umso härter war der Zusammenprall mit der Realität.
Selbst, als wir uns mit den Taschentüchern aus meinem Rucksack sauber gemacht hatten, selbst, als wir uns angezogen hatten, selbst, als Damian mir aus dem Auto geholfen hatte und selbst, als wir zu Spences Hütte gelaufen waren, hatten wir uns an unserem besonderen Moment festgeklammert. An der Überzeugung, dass unsere Gefühle füreinander alles waren, was eine Bedeutung hatte.
Sobald Markus uns die Tür öffnete, wurde mir klar: Wir hatten uns etwas vorgemacht.
Die Welt hatte sich in der Zeit, in der Damian und ich uns unserer Lust gewidmet hatten, weitergedreht. Alles andere war nicht verblasst. Und wir waren bei weitem nicht die einzigen auf diesem Planeten, die zählten. Es gab Milliarden andere Menschen, mit eigenen Leben, eigenen Freuden und eigenen Lasten.
Ein Blick in Markus Augen und ich begriff, wie glücklich ich mich schätzen konnte, dass es mir gerade so leicht gefallen war, jeden negativen Gedanken zu vergessen und jedes negative Gefühl abzustellen, um einfach nur Damians Nähe zu genießen.
In der Liebe seines Lebens eine Zuflucht zu finden, war ein seltenes Privileg.
Heute Morgen noch hatte Damian mir nicht einmal in die Augen gesehen. Wieder mit ihm zu reden, seine Hand zu halten, sein Lächeln zu sehen... das alles kam mir so natürlich vor, dass ich selbst nicht glauben konnte, dass ich noch vor kurzer Zeit nicht gewusst hatte, ob wir jemals wieder zusammenfinden würden.
„Ich hoffe, du bekommst genug Taschengeld, meinem Auto eine professionelle Grundreinigung zu finanzieren", sagte Markus zerknirscht, während er zur Seite trat und uns in die Hütte ließ.
Mit gesenktem Haupt tapste ich an ihm vorbei. „Es ist nichts auf deinen Sitzen gelandet."
„Mindestens euer Sexschweiß klebt klebt jetzt daran... Wisst ihr was? Ich gehe die Türen aufmachen, damit sich wenigstens der Geruch nicht festsetzt."
„Dein Bruder hatte gerade extrem guten Sex. Freu dich mal für ihn." Damians Grinsen war frei von seiner üblichen Provokation. Es war purer Stolz, mit dem er Markus ansah.
Dafür erntete er, verdientermaßen, ein Schnauben. „Das könnte ich vielleicht, wenn es nicht in meinem Auto stattgefunden hätte."
„Kommt nicht nochmal vor", versicherte ich Markus.
Es wäre wohl angemessen, mich zu entschuldigen. Das Problem war bloß: Ich bereute nichts.
Mit einem Seufzen deutete Markus zur Treppe. „Spence ist im Keller. Er meinte, ich soll euch runterschicken, wenn ihr fertig seid. Also."
Er selbst griff zu seiner Jacke, die er neben der Tür an ein Regal gehängt hatte und schlüpfte hinein.
Als er die Tür erneut öffnete, gab er einen Blick auf die Veranda frei – den Ort, auf dem ich zusammengebrochen war, nachdem Damian im Wald verschwunden war und meine gesamte Kraft mich verlassen hatte. Markus hatte mich in einer dicken Decke eingehüllt und versucht, mir gut zuzureden. Schließlich hatte er beschlossen, Damian zu suchen, um mich davon zu überzeugen, ins Warme zu gehen.
Keiner von uns hatte es ausgesprochen, doch irgendwie schien er gewusst zu haben, dass es mir lieber gewesen wäre, auf dieser Treppe zu erfrieren, als mir oder meinem Körper auch nur ansatzweise etwas Gutes zu tun, solange Damian da draußen war und ich keine Chance hatte, ihn zu erreichen. Zwar hatte Markus Damian nicht gefunden, aber zu wissen, dass er es versuchte, hatte mir ein kleines Bisschen Frieden gegeben.
Was mich dazu veranlasste, ihn nicht einfach aus der Tür laufen zu lassen, waren nicht seine Versuche, so zu tun als könnte er von heute auf morgen meinen Bruder spielen. Es war das Gespräch, das ich zwischen ihm und Carla belauscht hatte. Sein Appellieren für die Wahrheit. Und vor allem, dass er darauf Taten folgen lassen hatte.
Was Markus vorhin im Auto erzählt hatte, nein, DASS er es erzählt hatte, bewies, dass er kein Interesse daran hatte, sich in die Tradition der Geheimnisse und Lügen um mich herum einzureihen.
Und, wie aufgewühlt er seitdem war, bewies, dass es nie seine Absicht gewesen war, sich in mein Leben zu schleichen und an diesem Schauspiel teilzunehmen. Selbst, wenn dieses nur zu meinem Schutz gewesen war.
Er war derjenige, der mir klargemacht hatte, dass Unwissenheit sowohl Schutzlosigkeit als auch Sicherheit bedeuten konnte. Derjenige, der mir die Entscheidung überlassen wollte, welchen Weg ich bereit war zu gehen.
Dabei ging es allerdings nicht nur um mich. Es ging auch um ihn. Darum, was es mit ihm machte, sich mit den Antworten auf meine Fragen an ihn auseinanderzusetzen.
Selbst mit der Erkenntnis, dass seine Geheimhaltung auch dazu da war, sich selbst vor seinen eigenen Erlebnissen zu schützen, war Markus ein einziges Mysterium. Ich hatte keine Ahnung, was für ein Mensch er war. Ich kannte keinen seiner Beweggründe. Mir fiel nichts ein, das es zweifellos rechtfertigen würde, ihm zu vertrauen. Und doch glaube ich, ich traf die richtige Entscheidung, als ich seinen Namen sagte und er sich trotz der Trägheit in seinen Schultern sofort zu mir umdrehte und mich fragend ansah.
„Können wir uns demnächst mal treffen und reden?"
„Natürlich." Er sah aus wie ein Roboter, als er mechanisch zu nicken begann, weder Freude noch Angst in seinem Blick. Einfach blanke Neutralität. Dabei klang, was er sagte und wie es sagte alles andere als neutral. „Du sagst mir einfach, wann du Zeit hast. Oder du meldest dich spontan. Mir alles Recht."
Seine seltsame Mischung aus Desinteresse und Nervosität schien ihn selbst genauso zu überfordern wie mich. Also starrten wir einander wortlos an, obwohl es doch genug zu sagen oder zu tun gab.
Das seltsam aussehende Lächeln, das sich langsam auf seinem Gesicht ausbreitete, entblößte ein Grübchen, mit dem er dem kleinen Jungen auf dem Familienfoto, das er mir bei unserer ersten Begegnung gezeigt hatte, viel ähnlicher sah als mit stoischer Miene.
„Ich weiß, ihr habt gerade einen süßen Moment, aber ich habe keine Lust, das Ganze hier länger herauszuzögern als nötig." Damian trat an mich heran und legte seine Hand an meinen Rücken, um mich in Richtung Keller zu schieben.
Zu Markus sagte er: „Geh dein Auto lüften, mach einen Freudentanz und komm nach unten, wenn du nicht mehr aussiehst wie ein verstrahlter Clown aus Hiroshima."
Markus öffnete den Mund, besonn sich aber eines Besseren und verließ das Haus, ohne auf Damians Kommentar einzugehen.
„Du bist unmöglich", machte ich Damian klar. Dabei war ich ganz froh, dass er eingesprungen war, bevor es zu seltsam geworden war.
„Sagst du nur, weil du nicht gerochen hast, was gerade in ihm anging", gab mein Freund zurück.
„Er hat seine Chance verdient, aber wir sind nicht hier, um Dates auszumachen."
Auch ihn schien die Realität eingeholt zu haben - und mit ihr seine Sorgen.
Als wir an den Treppen nach oben vorbeiliefen, fragte Damian mich: „Magst du noch schnell ins Bad oder können wir gleich runtergehen?"
Mein Gesicht wurde ganz heiß, als ich mich daran erinnerte, wie Damian mir vorhin auf meine Frage, warum er auf meinen Bauch gekommen war, erklärt hatte, dass er vermeiden wollte, dass ich die halbe Nacht mit vertrockneter Wichse in meinen Boxern verbringen musste.
Ein wahrer Romantiker.
„Ich glaube, wir sind sauber genug", beschloss ich und lief die Treppen runter, darauf bedacht, nur dort hinzutreten, wo keine Papiere oder Ordner lagen.
„Das Genie beherrscht das Chaos", brummte Damian vor sich hin.
„Von wegen Chaos!", rief Spence aus dem Keller. „Alles ist genau da, wo es hingehört!"
„Das glaubt er doch nicht selbst", sagte Damian zu mir.
Es war erstaunlich mitzuerleben, wie schnell er von süß und fürsorglich zu abgefucktem Miesepeter schalten konnte. Wobei... er konnte auch als abgefuckter Miesepeter süß und fürsorglich sein. Das bewies er, indem er Spence, sobald wir in sein Labor traten, mit finsteren Blicken bedachte, während er seine Finger zwischen meine schob.
„War Markus zu euch auch so bitchig?" Spence stand an einem hohen Tisch und schaute durch ein Mikroskop, bevor er auf den Tasten des daneben herumtippte.
„Wir sind nicht hier für Smalltalk."
Spence ließ sich von Damians forderndem Ton nicht aus der Ruhe bringen, ja er schaute nicht einmal in unsere Richtung.
Dabei hatte ich das Gefühl, es sollte ihn stören, dass wir mitten in seinem Labor standen. Ich fühlte mich jedenfalls total fehl am Platz. Wie ein Fleck auf dem Boden, der darauf wartete, weggewischt zu werden.
Damian versuchte noch einmal, Spencers Aufmerksamkeit zu bekommen. Als dieser nicht reagierte, stieß mein Freund genervt die Luft aus, wandte ihm seinen Rücken zu und widmete sich mir.
Damian kam Nichteinmal auf die Idee, die Gelegenheit zu nutzen, sich Spences Labor genauer anzusehen. Die ganzen Geräte und Unterlagen waren für intellektuelle Nieten wie Damian und mich wahrscheinlich ohnehin bedeutungslos.
Damian und ich standen eine Weile da und umarmten uns. Wir hatten Wochen an körperlicher Nähe nachzuholen.
Erst, als Spence mit einem tiefen Atemzug von seinem Tisch zurücktrat, hob Damian den Kopf von meiner Schulter und schaute zurück zu ihm.
„Hallo, ihr Süßen." Spence grinste uns an, als wüsste er nicht genau, dass er uns gerade passiv-aggressiv klargemacht hatte, wie scheiße es war, warten zu müssen.
„Hi Spence." Ich erwiderte sein Lächeln, obwohl die Intensität seiner Blicke immer mehr Unbehagen in mir herauf beschwor.
„Wie war dein Date?", fragte ich, im Versuch, die Situation etwas aufzulockern. Er wirkte nicht unbedingt feindselig. Eher ein wenig verloren. „Konntest du den Kopf freikriegen?"
Damian und Spence schauten mich gleichermaßen schockiert an.
„Also doch Smalltalk? Ihr beiden sendet mir ziemlich widersprüchliche Signale."
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich frage nicht, weil ich Smalltalk machen will, sondern weil es mich interessiert. Falls du darüber reden willst."
Spence lachte, doch er wirkte dermaßen überfordert, dass es klang als würde ich ihm eine Waffe ins Gesicht halten.
Damian musste etwas Ähnliches wahrnehmen, als Spence ihn anschaute. Und statt ein paar nette Worte an ihn zu richten, verhielt Damian sich seiner Persönlichkeit entsprechend.
„Mich juckt es einen Scheiß, was du machst", giftete Damian Spencer zu. „Aber, wenn Marlon sowas fragt, weil er es wissen will. Aus welchem sinnlosen Grund auch immer."
Ich zog seine Hand etwas zurück, ein Signal im Sinne von: „Ruhig, Tiger."
Damian schaute aus verengten Augen zu mir hoch. Es lag Trotz darin und etwas ernsteres, das weit über die Angst davor, was mit mir los war, hinausging.
„Was ist los?", fragte ich Damian leise.
Der schüttelte nur den Kopf und wandte sich an Spence. „Wirst du Marlons Frage beantworten, damit wir uns noch in diesem Jahrhundert den wichtigen Dingen widmen können?"
Ich riss meinen Blick rechtzeitig von Damian los, um mir gerade noch so mit ansehen zu können, wie Spence ein Lächeln aufsetzte.
„Aww, ihr müsst meinetwegen nicht streiten. Ich habe sowieso nicht viel zu erzählen: Das Treffen hat genau das gebracht, wozu es da war."
Unspezifischer konnte eine Antwort wohl kaum sein. Nachdem Damian behauptet hatte, wie egal Spence ihm war, wunderte es mich allerdings nicht, dass er nicht preisgeben wollte, wie es ihm ging.
Er wirkte nur so einsam. Wir kamen hierher, wenn wir etwas von Spence brauchten, nahmen seine Zeit und Nerven in Anspruch, gingen wieder, und ließen ihn im Chaos seines Selbst zurück, ohne ihm die Möglichkeit anzubieten, auch mal uns um Hilfe oder Rat zu bitten.
Ich verstand ja, dass wir nicht mit Spence befreundet waren. Zwischen ihm und Damian war zu viel vorgefallen, um das überhaupt in Betracht zu ziehen. Aber ich fragte mich, was dagegen sprach, ihm zumindest auch auf menschlicher Ebene etwas zurückzugeben, wenn er sich schon mit den grundsätzlichsten Fragen unserer Existenz auseinandersetze.
Selbst, wenn es seine Leidenschaft für Wissenschaft war, die ihn veranlasste, uns zu helfen – nur forschen, mehr forschen und noch mehr forschen konnte das Grundbedürfnis nach Verbundenheit nicht stillen. Dass er überhaupt auf einem Date gewesen war, bewies für mich, dass ein Teil von ihm sich nach Nähe sehnte. Dass er dadurch den Kopf hatte freikriegen wollen, bedeutete, was die meiste Zeit seine Zuflucht war, wurde in manchen Momenten eben doch zu viel.
Es kostete mich nichts, freundlich zu ihm zu sein. Im Gegenteil. Ich fühlte mich viel sicherer beim Gedanken, in seinem Labor zu stehen, wenn ich ihm klargemacht hatte, dass ich mehr in ihm sah als den Experten für alles. Idealerweise sah er dann auch mehr in uns als Forschungsobjekte.
„Du bist knuffig, wenn du böse schaust." Spencer schlenderte sorglos an Damian vorbei und warf ihm auch noch ein flirtendes Zwinkern zu.
Mein Freund musste seine Lippen zusammenpressen, um keinen bissigen Kommentar zurückzugeben. Dennoch entfloh ihm ein Knurren, das jedoch mehr frustriert klang als bedrohlich.
Als ich darüber lachte, wurde auch ich Opfer seines Todesblicks.
„Was? Spence hat Recht. Du bist knuffig, Schmusekatze." Um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, stupste ich ihm mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze.
„Kommt ihr?" Spences Stimme aus dem Flur machte uns darauf aufmerksam, dass er den Raum verlassen hatte.
Ich wollte Damian einen Kuss auf die Stirn drücken, aber er wich aus und schaute mich weiter böse an. „Überleg dir, auf welcher Seite du stehst, Marlon."
„Im Zweifel immer auf deiner", antwortete ich versöhnlich. „Aber das heißt nicht, dass ich mir die Chance entgehen lassen muss, dich ein bisschen zu ärgern."
Mit einer Hand in seinem Nacken hielt ich seinen Kopf fest, damit mein Kuss diesmal nicht ins Leere ging. Damian versuchte zwar, sich zu wehren, erinnerte sich aber schnell an unser Rangeln im Auto und begriff, dass es leichter war, sich seinem Schicksal zu ergeben und meinen Kuss zu akzeptieren. Auch, wenn ich dabei so breit grinste, dass ich ihn kaum richtig küssen konnte.
„Komm", flüsterte ich an seinen Kopf, ehe ich uns in Richtung Flur manövrierte. „Ich will endlich wissen, was Spence für Vermutungen hat."
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