*(87) Gewinnen*

Wenn du nicht reden kannst, brauchst du jemanden, der versteht, was deine Tränen sagen.

~~~

Markus war gut darin, Dinge zu erklären. Ich war mir sicher, das ganze System war sehr viel komplizierter als er es zusammenfasste, aber er machte es für mich verständlich.

Mir war klar, dass er dafür einiges auslassen musste und, dass er manche Dinge bewusst umging, aber mit der Menge an Informationen, die ich auf der Autofahrt aus ihm rausbekam, konnte ich mich eine Weile zufriedengeben.

Um genau zu sein, brummte mir dermaßen der Schädel, dass Markus bei einer Raststätte anhielt, damit ich frische Luft tankten konnte. Das nannte er als Grund.

Sobald Damian und ich unsere Türen zuknallten, sperrte Markus das Auto zu, ohne zu uns zu sehen und lief über den Parkplatz.

„Er ist aufgewühlt." Damian kam um das Auto herum und folgte meinem Blick zu Markus.

„Verständlich."

Mir ging es genauso und das, obwohl ich nur theoretische Informationen bekommen hatte. Markus verband damit Erfahrungen. Schmerzhafte Erfahrungen, wie es schien.

Nach dem, was er erzählt hatte, wunderte mich das nicht.

Aus seinem Mund hatte alles sehr nüchtern geklungen, aber es hatte sich mit Sicherheit ganz anders angefühlt.

Von Fremden aufgezogen werden; Sich ständig beweisen zu müssen; Gesagt zu bekommen, wer man war und was man sein durfte... Nur, um ein System aufrechtzuerhalten, in dem niemand wirklich glücklich zu sein schien...

Warum wurden Leute dazu gezwungen, sich dafür zu verpflichten? War es das wirklich wert? Konnten Menschen und Gestaltwandler nicht ohne diese Art von Kontrolle zusammenleben?

Damian streichelte über meinen Rücken und schob mich sanft zu der Bank, vor der Markus Auto stand.

Er setzte sich hin und ich ließ mich direkt fallen, sodass mein Kopf in seinem Schoß landete und ich auf der Bank lag. Meine Füße standen auf dem Boden, aber das war nebensächlich. Damian hielt meinen Kopf fest und strich durch meine Haare.

Ich ließ meine Augen zufallen und genoss seine Berührung. Es fühlte sich schön an. Vertraut. Sicher.

Ich kam zur Ruhe. Sehnte mich nicht nach der Vergangenheit oder nach einem anderen Ort. Hier und jetzt zu sein, war gut so wie es war.

Etwas tropfte auf meine Wange.

„Fuck", murmelte Damian, gefolgt von einem Schniefen.

Ich öffnete die Augen und sah gerade noch so, wie Damian mit seinem Ärmel seine Augen trocknete.

Als er sah, dass ich ihn beobachtete, schaute er zur Seite und presste seine Lippen zusammen. Es sah beschämt aus, aber ich wusste, dass es das nicht war. Es war Reue.

„Hey." Ich hob eine Hand zu seinem Gesicht und strich mit dem Daumen über sein Auge. Damit trocknete ich die Reste der Tränen, die sich in seinen Wimpern verfangen hatten.

Damian drückte seine Nase an meine Hand und zog tief die Luft ein.

„Warum muss alles so scheiße sein?", fragte er mich mit schwacher Stimme und verzweifeltem Blick.

„Ist es das?"

Er schaute mir in die Augen und ich konnte dabei zusehen, wie etwas von der Dunkelheit aus seiner Iris verschwand. „Nicht alles."

Ich lächelte. „Ich liebe dich."

Innerhalb einer Sekunde waren seine Augen wieder voller Tränen und mit einem Blinzeln rannten sie ihm haltlos über die Wangen.

„Shit", lachte er und strich sie sich panisch weg.

Ich lachte ebenfalls. Nicht über ihn, sondern darüber, wie süß er sein konnte. Süß und dumm.

Er machte sich immer wieder die Mühe zu versuchen, seine Gefühle zu unterdrücken. Kalt zu sein. Niemanden an sich ranzulassen. Er verpasste sich selbst eine Gehirnwäsche, um sich einzureden, dass das Sinn ergab. Dass es richtig war.

Ich konnte mir nicht sicher sein, warum er weinte, doch die Tatsache, dass ich nach wie vor eine untrennbare Verbindung zu ihm spürte, war sicher Teil der Gründe.

Solange es uns gab, konnte gar nicht alles scheiße sein.

Selbst, wenn er nichts fühlte, wenn er nur wahrnahm, was in mir vor sich ging, dann wäre das genug, um an uns festhalten zu wollen. Weil, wenn ich ihm in die Augen sah, alles andere an Bedeutung verlor. Die ganze Welt und alles, was auf ihr passierte, wurde so egal. Nur er und ich zählten. Wir hatten etwas Gutes. Etwas Wertvolles.

Das war es, was er spüren musste, als er mich auf dieser Bank in seinen Armen liegen hatte und sich in meinen Augen verlor. Etwas so Schönes und Einzigartiges, das er beinahe aufgegeben hatte.

„Bleib bei mir, okay?", flüsterte ich. Flehte ich.

Er blinzelte weitere Tränen weg. „Solange du mich willst."

Ich schnaubte, schlug seine Hände von mir, setzte mich auf und legte meine Arme rechts und links neben ihm auf die Lehne der Bank. Dadurch hatte ich ihn eingekesselt, ohne ihn tatsächlich zu berühren und wir sahen uns aus geringster Distanz in die Augen.

„Ich will dich, Damian. Ich wollte dich vom ersten Moment an, als ich wusste, dass es dich gibt. Und ich werde dich wollen, solange es mich gibt. Du entkommst mir nicht und ich will dir nicht entkommen. Klammer dich an mich. Halt mich fest. Fessel mich. Kämpf um mich. Nur so hast du eine Chance gegen mich."

Er sah gerührt aus, überzeugt, ja richtig entschlossen, bis mein letzter Satz ihn dazu brachte, die Augenbrauen zusammenzuziehen. „Eine Chance gegen dich?"

„Du hast mindestens hundertmal behauptet, du liebst mich mehr als ich dich. Glaubst du, das lasse ich auf mir sitzen?"

„Hast du nicht gesagt: Liebe ist kein Wettbewerb, Damian?" Er verstellte seine Stimme, um total besserwisserisch und zickig zu klingen.

Ich war froh darüber, wieder an einem Punkt zu sein, an dem wir einander anzanken konnten.

Ich mochte unsere ruhigen, emotionalen Momente. Aber ich mochte es genauso sehr, ihn herauszufordern und mich von ihm herausfordern zu lassen.

Das waren wir. Ohne Schuld und Zweifel und Angst und Reue.

„Vielleicht war das nur meine Taktik?", schlug ich vor und bewegte meinen Kopf so zu seinem, dass ich mit meiner Nase an seine stupsen konnte.

Er lächelte und ich konnte dabei zusehen, wie seine Augen immer heller wurden. Wie die Dunkelheit aus ihnen und aus ihm verschwand.

„Wie entscheiden wir, wer gewinnt?", fragte er, so nah an meinem Gesicht, dass er die Worte beinahe an meinen Mund murmelte.

„Mhhhmmm", machte ich nachdenklich und stupste weiter mit meiner Nase an seiner herum.

Es war total kitschig und verspielt, aber obwohl ich ihn damit anfangs bloß nerven wollte, fand ich schnell Gefallen daran.

„Ich schätze, der einzige Weg zu gewinnen ist, wenn der andere zugibt, dass er verloren hat."

Das war der Moment, in dem er seinen Kopf zurückzog und mich kritisch ansah. „Das heißt, ich kann nur gewinnen, indem du zugibst, dass ich dich mehr liebe als du mich?"

Ich zuckte mit den Schultern. „Fällt dir was Besseres ein?"

„Nein, aber das gefällt mir trotzdem nicht." Er zog einen niedlichen Schmollmund und ich musste den Drang unterdrücken, seine Unterlippe zu küssen.

Ich legte eine Hand in seinen Nacken und zog seinen Kopf daran zurück zu mir. Kurz bevor unsere Lippen sich berührten hauchte ich: „Gibst du etwa auf?"

„Vergiss es", schnaubte er leise, klang dabei sehr viel weniger nachdrücklich als sicherlich beabsichtigt.

„Dann hast du keine andere Wahl als die Herausforderung anzunehmen und dein Bestes zu geben. Genauso wie ich. Auch, wenn keiner von uns gewinnt."

„Mh." Sein Blick löste sich aus meinen Augen, sprang zu meinen Lippen und zurück in meine Augen. „Das klingt so als könnten wir nur zusammen gewinnen."

„Klingt so", lächelte ich, obwohl ich sehr viel lieber vor Freude schreien wollte.

Endlich hatte er es begriffen.


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