*(77) Zurück*
Ein Messer weiß nicht, wie scharf es ist, bis Blut von seiner Klinge tropft.
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Ich verbrachte zwei weitere Tage bei Spence. Er war die gesamte Zeit über im Keller. Meine Tante vermutete, das wäre seine Art, uns klarzumachen, dass er genug von uns hatte. Er wollte seine Ruhe. Wir blieben trotzdem dort, weil meine Tante sichergehen wollte, dass ich stabil war, bevor wir den Experten verließen. Er wusste am besten, wie er mich behandelt hatte und was in meinem Körper vor sich ging.
Ich hatte jeden Test mitgemacht, um den er mich gebeten hatte, hatte Blut abgegeben und mich dazu bereit erklärt, ihm meine Nummer zu geben, falls er noch etwas von mir für seine Forschungen brauchte.
Er hatte sicherlich durchschaut, dass meine Dankbarkeit nicht der Hauptgrund dafür war. Ich tat es aus Trotz.
Der Gedanke, dass Damian mitbekommen könnte, dass ich Spence mit mir forschen ließ, und zu wissen, dass Damian das hassen würde, gab mir Genugtuung - die Vorstellung, dass er bereuen würde, nicht bei mir gewesen zu sein, um mich davon abzuhalten.
Es war kindisch. Kindischer, als einfach wegzurennen, sich tagelang nicht mehr blicken zu lassen und über Dritte mitteilen zu lassen, dass er nachhause gegangen war? Wohl kaum.
Es war der erste Morgen, nach dem ich die Nacht wieder in meinem eigenen Bett verbracht hatte. Okay, es Morgen zu nennen war etwas beschönigt. Es war Mittag, als ich wach wurde.
Ich lag eine Stunde im Bett und wartete, ob ich es schaffen würde, nochmal einzuschlafen, einfach, um mich nicht mit meinem Leben auseinandersetzen zu müssen. Es funktionierte nicht. Stattdessen hörte ich die Türklingel und meine Hoffnung, dass es Damian war, der unten stand, trieb mich aus dem Bett.
Dass sich das als falsch herausstellte, überraschte mich nicht. Es enttäuschte mich, aber überraschte mich nicht.
Damian kam nicht zu mir. So lief das bei uns nicht. Nach dem, was Markus mir erzählt hatte, erwartete ich das auch gar nicht.
Damian war wieder in alte Muster verfallen. Ging in die Schule, von dort aus nachhause und verbrachte den gesamten Tag in seinem Zimmer. In der Schule redete er mit niemandem und zuhause ging er ebenfalls allen aus dem Weg.
Ich konnte mir vorstellen, warum er das tat. Er hatte dieses Verhalten jahrelang als Lösung dafür gesehen, dass er anders war. Wenn er andere von sich fernhielt, musste er nicht nur keine Beziehungen beenden, wenn er vielleicht wieder umzog, er brachte sie auch unter keinen Umständen in Gefahr.
Das war Damians größte Angst: Wieder jemanden zu verletzten. Wieder jemanden zu töten. Wieder Leben zu zerstören.
Deshalb konnte ich verstehen, dass er sich zurückzog. Es machte mich traurig und ich wünschte mir, er hätte den Mut, zu versuchen anders damit umzugehen, aber ich konnte es verstehen.
Wenn überhaupt bestätigte dieses Verhalten nur, dass er jemand war, der versuchte, das richtige zu tun. Für jemanden, der seit Jahren mit Schuldgefühlen kämpfe und wochenlang Zeit hatte, sich einzureden, dass in ihm nur Schlechtes war, ergab es wahrscheinlich Sinn, andere zu schützen, indem er sich von ihnen fernhielt.
Ich wusste, dass ich seine Mauern durchdringen könnte. Ich brauchte nur eine Chance. Ich musste ihm klarmachen, dass es mir gut ging und, dass es mir auch gut gegangen wäre, wenn er rein gar nichts getan hätte, um etwas an meiner Situation zu verändern.
Dass er mich gebissen und dadurch verwandelt hatte, war unerwartet gewesen und natürlich wäre es schöner gewesen, entscheiden zu können, ob ich so leben wollte, aber für mich wäre die Welt nicht untergegangen, wenn ich als Gestaltwandler aufgewacht wäre.
Ich hätte damit Leben können. Da war ich mir sicher. Damian und ich hätten damit leben können. Ja, es hätte sogar viele unserer Probleme gelöst. Was die Verletzungsgefahr anging, zum Beispiel. Oder, dass ich nie zu hundert Prozent nachvollziehen konnte, wie es war, in seiner Lage zu sein. Empathie half, Grenzen zu überwinden, aber Gestaltwandler zu sein und all die Sorgen und Ängste, die damit kamen, waren mit kaum etwas, das ich kannte, vergleichbar.
Wenn ich auch einer war, könnte ich ganz anders für Damian da sein. Besser. Mein Trost wäre so viel mehr wert.
Natürlich hätte das auch bedeutet, selbst neue Probleme zu haben. Selbstkontrolle, zum Beispiel. Die Schmerzen einer Verwandlung. Die Umstellung meines Lebensstils, um den Bedürfnissen meines veränderten Körpers gerecht zu werden.
Aber all das hätte ich leisten können, solange Damian an meiner Seite war.
Weil das Gute, das er mir gab und das er in mir auslöste, alles Schlechte, das passieren konnte, überwiegen würde.
Wenn ich ihm das nicht sage, konnte er allerdings das nicht wissen. Sein Kopf erlaubte ihm nur die pessimistischsten Gedanken. Die hatten mit der Realität oft nur wenig zu tun.
Ich hatte also fest vor, mit Damian zu reden, auch, wenn er nicht von sich aus auf mich zukommen würde.
Die Person, die mich aus dem Bett geklingelt hatte und nun bei uns im Foyer stand, war Markus. Meine Tante stand vor ihm und fragte ihn leise, was er hier wollte. Sie klang aufgebracht, deshalb hörte ich es, obwohl ich oben an der Treppe stand.
Keiner von den beiden konnte mich sehen und irgendetwas hielt mich davon ab, mich erkenntlich zu machen.
„Mit dir reden. Und Marlon."
„Vergiss es", schnaubte meine Tante. „Du redest nicht mit ihm. Darüber waren wir uns einig, Markus."
Sie klang ganz anders, wenn sie mit ihm sprach. So kaltherzig. Nicht unbedingt unfreundlich, aber auch nicht einladend. Sie wollte nichts mit ihm zu tun haben. Und sie wollte nicht, dass ich etwas mit ihm zu tun hatte.
Markus war die letzten beiden Tage jeden Abend zu Spence gekommen, um mir zu erzählen, was Damian und meine Freunde trieben. Mir war aufgefallen, dass meine Tante mich keine Sekunde mit ihm alleine gelassen hatte. Sie war immer da gewesen, wenn er dagewesen war.
Dass meine Tante mehr wusste als sie bereit war zu zeigen, war mittlerweile kein Geheimnis mehr. Jedes Mal, wenn ich sie drauf ansprach, warf sie mir kleine Krümelchen hin, die mir für den Moment genug gaben, um mir den Kopf zu zerbrechen, aber nie wirklich einen ganzen Kuchen ergaben.
Meistens waren ihre Antworten allgemein gehalten, obwohl ich spezifische persönliche Fragen stellte.
Manchmal tauschten sie und Markus vielsagende Blicke aus, doch sie weihten mich nie ein, was sie damit meinten.
Ich machte meiner Tante bei jeder Gelegenheit deutlich, dass ich mich mit dem Wissen,d as sie mir anvertraute, nicht zufriedengab, und sie tat so als würde sie es nicht verstehen oder wieder vergessen. Sie war verdammt gut darin, Konfrontationen aus dem Weg zu gehen. Ein Talent, das mich so langsam in den Wahnsinn trieb.
Spence wäre eine Möglichkeit gewesen, unabhängig von meiner Tante etwas über Gestaltwandler zu erfahren. Allerdings hatte er sich meistens in sein Labor zurückgezogen, zu dem er keinem anderen Zugang gewährte.
Mir blieben also nur meine Tante und Markus. Vielleicht war es genau das, was meine Tante an Markus so störte. Er war ein Leck in ihrem perfekten Schiff aus Unwahrheiten. Sie konnte versuchen, es zuzuhalten, aber die Gefahr, dass es Wasser rein ließ und schließlich zum Untergang führte, war immer da.
„Ich habe nicht vor, ihm etwas über dich zu erzählen. Nur genug, damit er mich verstehen kann."
Meine Tante machte einen Schritt zu ihm und drohte: „Wage es nicht."
Von meiner Position aus konnte ich kaum etwas sehen. Alles, was ich erkannte, war die Reflektion des Spiegels an der Tür, vor der die beiden standen.
„Carla", sagte Markus ruhig. Viel zu ruhig dafür, dass eine Frau, von der ich geglaubt hatte, dass sie nur Liebe zu geben hatte, ihn dermaßen verhasst anstarrte. „Er ist Teil von dieser Welt, ob es dir gefällt oder nicht."
„Wir sind nicht Teil von dieser Welt", widersprach sie. „Das werden wir nie sein."
Markus schüttelte den Kopf. „Du bist naiv, wenn du glaubst, du kannst weiter so tun als wüsstest du von nichts. Seb weiß, dass Damian Marlon verwandelt hat. Und er weiß, was das bedeutet. Genauso wie du und ich. Die werden Damian nie in Ruhe lassen. Und solange Marlon ihn liebt, heißt das, er steckt mitten drin. Seine Unwissenheit macht ihn anfällig für alle möglichen Scheinwahrheiten. Willst du echt riskieren, dass jemand die Chance bekommt, ihn zu manipulieren?"
„Damian geht auf Abstand", gab meine Tante zurück.
Wenn sie mit mir über ihn redete, klang sie mitfühlend, ja richtig leidend. Sie meinte immer, er bräuchte bloß Zeit und es würde alles gut werden. Jetzt, bei Markus, hörte sich die Tatsache, dass Damian mich mied, an wie die Lösung aller Probleme.
Meine Tante war erleichtert darüber. Sie hoffte, dass es sich nicht ändern würde. Dass nicht alles gut werden würde. Zumindest nicht mein Gut.
„Ihm muss klargeworden sein, dass er Marlon nur in Gefahr bringt-"
„Carla!", unterbrach Markus sie, wurde dabei lauter. „Deine Angst, ihm die Wahrheit zu sagen, ist die Gefahr! Er wäre so viel sicherer, wenn wir ehrlich zu ihm wären und er wüsste, dass er sich auf uns verlassen kann. Aber nein, du schaust lieber dabei zu, wie er jemanden verliert, den er liebt, als zuzugeben, dass du Scheiße gebaut hast!"
„Pass auf, was du sagst", zischte sie.
Er warf die Hände in die Luft und drehte sich von ihr weg. Im Spiegel sah ich seinen aufgeschmissenen Ausdruck und ihre Wut.
„Ich bin alles, was er hat."
„Und wessen Schuld ist das?" Markus wandte sich zurück zu ihr. „Du kannst mich nicht länger von ihm fernhalten. Die Zeiten sind vorbei. Ich werde ehrlich zu ihm sein. Wir können das zusammen machen oder ich mache es ohne dich. Du kannst dich darauf verlassen, dass ich tue, was das Beste für ihn ist."
„Natürlich", lachte meine Tante. „Als würde es dir dabei um ihn gehen. Du willst doch bloß über ihn an Damian rankommen."
„Damian interessiert mich nicht. Nicht so. Ich will Marlon beschützen. Solange Damian ihm wichtig ist, ist er auch mir wichtig. Genauso wie du." Er sah sie für einen Moment still an, ehe er weiterredete. „Ich versuche wirklich sehr, dich nicht zu hassen. Tu dir selbst den Gefallen und mach es mir nicht noch schwerer."
Meine Tante schubste ihn an der Schulter zurück. „Glaubst du, es interessiert mich, ob du mich hasst? Glaubst du, ich bin so dumm davon auszugehen, jemand wie du könnte solche Gefühle überhaupt haben? Du kannst doch nicht mal selbstständig denken geschweigedenn fühlen!"
„Du hast keine Ahnung wovon du redest."
Carla schubste ihn erneut. Diesmal rechnete er damit und blieb standhaft. Er starrte sie regungslos an und sie atmete frustriert durch.
„Geh, Markus. Ich lasse dich nicht zu ihm."
Er bewegte sich nicht. „Ich will nicht mit dir streiten. Ich wollte dich nur wissen lassen, dass wir mit Marlon reden werde, damit du dich darauf einstellen kannst."
„Ist es so schwer für dich, dich an eine verdammte Abmachung zu halten?"
„Wenn ich merke, dass sie niemandem außer dir guttut, dann ja."
„Verschwinde", presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Er blieb stehen. Nur kurz. Aber lange genug, damit ich sehen konnte, wie er seine Hand zu ihrem Arm bewegte, als wolle er sie trösten. Schließlich entschied er sich dagegen, zog die Hand zurück, drehte sich um und ging aus der Tür.
Sobald sie hinter ihm ins Schloss fiel, krallte meine Tante sich ihre Finger in die Haare und atmete hörbar durch.
Ich musste mich davon abhalten die Treppen runterzustürmen und sie in den Arm zu nehmen. Ich wollte sie nicht trösten. Nicht für etwas, das sie allem Anschein nach selbst zu verantworten hatte.
Also zog ich mich zurück, ging in mein Zimmer, setzte mich auf mein Bett und schrieb Damian eine Nachricht.
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