*(21) Farben*

Du kennst den Namen deiner Lieblingsfarbe nicht. Du weißt nur, dass er sie auf den Lippen trägt.

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Reaktionen zu Finns morgendlichen Turteleien mit Nick ließen nicht lange auf sich warten. Schon in den ersten Stunden, hörte ich aus allen Ecken Getuschel über den geheimnisvollen attraktiven Typen, der Damian zur Schule gefahren und dann Finn abgeknutscht hatte.

Von den Mädchen kamen hauptsächlich Beschwerden darüber, dass alle gutaussehenden Typen schwul seien und die Welt so unfair war.

Die Jungs, gerade Ricos Gruppe, störten sich eher daran, dass Finn es tatsächlich wagte, „öffentlich zur Schau zu stellen, wie nötig er es hat gefickt zu werden".

Zugegeben, ein Satz wie der hätte auch von Alisha, mir oder Finn selbst kommen können. Aber es war anders, wenn wir sowas sagten. Bei uns war kein Hass dabei. Keine Abscheu. Kein Ekel. Keine Gefahr.

Alisha und ich achteten also umso mehr darauf, Finn nirgendwo allein hinzulassen.

In der Pause standen er und ich wie ein paar Creeps vor der Mädchentoilette, während wir auf Alisha warteten. Ich hatte dabei mein Handy in der Hand und beschloss, meinem Chat mit Damian Leben einzuhauchen.

Er war das erste, was ich sah, als ich meinen Blick von meinem Bildschirm riss und hochschaute. Das einzige.

Er lehnte an der gegenüberliegenden Wand, hatte eine Hand in der Hosentasche und hielt mit der anderen sein Handy. Ein Grinsen lag auf seinen Lippen. Ich war mir sicher, er hörte, wie mein Herz für einen Moment stillstand, bevor es umso schneller weiterpochte.

Wir verbrachten die Mittagspause zusammen und Damian setzte sich nachmittags zu uns in die Reihe.

Nach Schulschluss liefen wir zusammen durch die Flure. Ich war mir nicht sicher, ob die Blicke Finn und den Gesprächen über ihn galten oder Damian und der Tatsache, dass er sich ausgerechnet mit uns sehen ließ.

Als wir das Gebäude verließen, wurden Finns Schritte schneller. Er hing uns ab und rannte direkt in Nicks Umarmung.

„Ich habe vergessen, dass ich mit dem Auto da bin", jammerte er an Nicks Schulter.

Ich verstand nicht, warum das ein Problem wäre. Dazu war ich zu naiv.

„Oh nein. Das heißt, wenn ich dich jetzt entführe, musst du heute bei mir schlafen, damit ich dich morgen wieder zur Schule bringen kann."

„Wie schrecklich", seufzte Finn bedauernd.

Damian brummte ein genervtes „Na toll".

Ich musterte ihn. „Das klingt nach einem tollen Nachmittag für dich."

„Das klingt nach lauter Musik und Unterdrücken von Mordlust."

Die Vorstellung von einem mies gelaunten Damian, der sich das Trommelfell wegdröhnte, um sich nicht anhören zu müssen, was im Nebenzimmer abging, gefiel dem Sadisten in mir. Nur, um Damian ein wenig Bescheidenheit beizubringen.

Viel mehr sah ich darin aber eine Chance.

„Wenn du willst, kannst du mit zu mir. Ich zeige dir meinen Pool."

„Also willst du mich nackt sehen?"

„Ich habe nicht gesagt, dass du auch reindarfst. Nur anschauen."

Er zog seine Augenbrauen nach oben, wirkte aber nicht halb so ablehnend, wie er versuchte zu tun. Seine karamelfarbenen Augen bewiesen das.

„Okay, ich komme mit zu dir."

Der Weg nachhause verlief still. Es gab genug, über das ich mit Damian reden wollte. Genug, das ich ihn fragen wollte. Nichts davon war für Alishas Ohren bestimmt.

Bevor Finn seinen Führerschein gehabt hatte, war ich jeden Tag nach der Schule einen kleinen Umweg gelaufen, um Alisha zuhause abzuliefern. Ich wusste nicht genau, warum. Dass wir uns dabei unterhielten, war mehr die Ausnahme als der Regelfall. Nicht, weil wir uns nichts zu sagen hätten, sondern weil wir nichts sagen mussten. Wir verstanden uns.

Mit Alisha fühlte sich Stille nicht leer an. Das mochte ich. Es gab jedem gesprochenen Wort eine umso größere Bedeutung.

Sie umarmte mich zur Verabschiedung, winkte Damian zu, obwohl sie direkt vor ihm stand, und ging dann ins Haus.

Wir liefen ein paar Straßen weiter, da fragte Damian mich aus dem Nichts: „Was hat es mit Alisha auf sich?"

„Was meinst du?"

„Keine Ahnung. Normalerweise kann ich Leute an ihrem Geruch ganz gut einschätzen, aber bei ihr ist es irgendwie... verwirrend."

„Wie machst du das? Leute an ihrem Geruch einschätzen."

Sich in Raubkatzen verwandeln, Herzschläge hören, Menschen an ihrem Geruch einschätzen... Was konnte er noch alles?

Für eine Weile sagte er nichts. Ich glaubte bereits, die Frage ging zu weit, als er plötzlich sagte: „Das menschliche Auge nimmt nur einen extrem kleinen Teil von Lichtwellen wahr. Diesen kleinen Teil sehen wir als Farben."

Ich nickte zustimmend und unterdrückte meine Flashbacks an den Physikunterricht in der siebten Klasse.

„Der Vergleich hinkt in vielen Punkten, aber stell dir einfach mal vor, Gerüche sind wie Farben. Es gibt sehr viel mehr davon, als man sich vorstellen kann. Und jeder Mensch hat einen eigenen Geruch. Je nach Stimmung nimmt der andere Nuancen an. Er kann, sowie Farben, besser zu den einen passen als zu den anderen. Manche Gerüche gehören sozusagen einer ähnlichen Wellenlänge an. Sowie warme Farben oder kalte Farben. Nur, dass es mehr als nur kalte und warme Gerüche gibt. Wie gesagt, es gibt sehr viel mehr als man sich vorstellen oder ich erklären kann..."

„Ich mag deine Erklärung."

Auch, wenn ich nicht behaupten konnte, dass ich sie zu 100 Prozent verstand. Ich mochte das Bild, das er mit deinen Worten malte. Ich mochte, dass er sich überhaupt die Mühe machte, mir zu erklären, was er wahrnahm.

„Das Problem ist, dass ich ja auch meinen eigenen Geruch habe. Das ist wie ein Filter, der auf allen anderen Gerüchen liegt, die ich wahrnehme. Ich weiß nie, ob ich wirklich die Person einschätze oder meine Komptabilität mit ihr. Wie bei Farben, weißt du? Finde ich die Farbe hässlich oder die Kombination mit meiner? Ich kann ja nicht davon ausgehen, dass jeder, der nicht zu mir passt, ein schlechter Mensch ist. Eher im Gegenteil. Man muss schon hart am Arsch sein, um mit mir zusammenzupassen."

Ich wusste nicht, ob er damit etwas andeuten wollte. Unabhängig von der Antwort, tat seine Aussage weh. Wie er über sich selbst redete, tat weh.

„Wenn man direkte Komplementärfarben in gleicher Menge und voller Intensität miteinander mischt, kommt schwarz dabei raus."

Er schaute mich verwirrt von der Seite an. „Was willst du mir damit sagen?"

„Weiß nicht." Ich zog die Schultern nach oben. „Finde ich nur cool."

„Mh", machte er nachdenklich, ohne seinen Blick von mir zu lösen.

Er konnte vielleicht hören, wie schnell mein Herz schlug und riechen, was auch immer ich absonderte. Was er nicht konnte (zumindest soweit ich das wusste) war meine Gedanken lesen. Die gehörten nur mir.

Damian trug gerne schwarz. Es passte zu ihm. Genauso wie, dass er nicht gewusst hatte, wie die Farbe zustande kam.

Schwarz war das Ergebnis des vollkommenen Gleichgewichts zwischen den Grundfarben. Sie mussten in exakt gleichem Verhältnis zusammengemischt werden. Das brauchte Präzision und Perfektion.

Das wirklich faszinierende war, dass Schwarz mit Farblosigkeit gleichgesetzt wurde. Obwohl in seiner Mischung die Grundlagen jeder möglichen Farbe steckte.

„Du wolltest letztens darüber reden, was auf dem Sofa los war..."

Überrascht sah ich zu ihm. „Ich hätte nicht gedacht, dass du das von dir aus ansprichst."

„Es passt zum Thema."

„Wie das?"

Er riss seinen Blick von mir und richtete ihn auf die Straße. „Ich habe gerochen, wie aufgewühlt du warst."

„Und das hat dich gestört?"

„Nein. Doch. Keine Ahnung." Er seufzte. Seine Schultern sackten herab und ich beobachtete, wie sich seine Anspannung löste, sobald er mal ins Reden gekommen war. „Ich wollte den Moment genießen, ohne daran zu denken, wer ich bin und was ich anrichten kann. Ich wollte ein ganz normaler Typ sein, mit normalen Sorgen. Sowas wie, ob du bereuen wirst, dass wir gekuschelt haben. Ob du gemerkt hast, wie lange ich wach geblieben bin, um mir anzuschauen wie süß du in meinen Klamotten aussiehst. Oder ob sich etwas zwischen uns verändert hat. Ich wollte nicht wissen, was in dir vor sich geht. Ich wollte nicht riechen, wie traurig du plötzlich wurdest... Aber ich kann es nicht abstellen und dann kam ich mir so lächerlich vor, weil ich nicht mal halbwegs normal sein kann, wenn ich es versuche."

„Was heißt normal überhaupt?", fragte ich ihn und auch mich selbst.

Ich kannte, was er beschrieb. Nicht mit übernatürlichen Sinnen und Fähigkeiten. Ich kannte es auf meine Art. Mit Alpträumen. Dem Gefühl, immer zu rennen, ohne zu wissen wohin. Meiner eigenen Wahrnehmung zu misstrauen, weil sie mich schon mal so stark reingelegt hatte, dass ich jeden Bezug zur Realität verloren hatte und mich Stück für Stück hatte zurückkämpfen müssen. Und niemand wusste davon. Weil ich so verdammt gut darin war, so zu tun als hätte ich diese Probleme nicht. Weil ich mich so gut es ging anpasste. Weil ich so tun konnte als wäre ich normal. Obwohl ich unendlich weit davon entfernt zu sein schien.

Ich hatte immer Angst davor gehabt, was passieren würde, wenn jemand mein Spiel durchschaute. Wenn rauskam, wie viel Mühe es mich kostete, am alltäglichen Leben teilzunehmen und so zu tun als würde ich dazugehören.

Jetzt konnte ich mir sicher sein, dass es jemanden gab, der mich durchschaute. Der immer wusste, was in mir vor sich ging. Auch, wenn er nicht sehr gut darin war, es zu deuten.

Der Gedanke war seltsam befreiend. Der Gedanke, dass ich mich so viel und so gut verstellen konnte wie ich wollte – Damian sah meine wahre Farbe. Und je mehr Zeit er mit mir verbrachte, desto mehr Bedeutung konnte er ihr verleihen.

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