*(11) Hand*

Seine Hand in deine Rettung

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Der Raum, in den Damian mich führte, stellte sich als Küche heraus.

„Trinken?", fragte er mich, während er ein Glas auf die Ablage stellte.

„Mhm", machte ich zustimmend.

Ich traute seiner Gastfreundschaft nicht. Er wirkte so... normal. Nicht sein Normal. So ein zwanghaftes Perfekt-Normal.

„Wie lange wohnst du schon hier?", fragte ich ihn, während er ein Glas für mich aus dem Schrank holte.

Er murmelte etwas von wegen „war klar, dass Nick nicht die Fresse halten kann" und richtete sich etwas lauter an mich: „Zwei Monate. Nein, es gefällt mir nicht. Ja, Eltern zu haben ist slightly weniger nervig als Betreuungspersonen. Nein, ich habe keine Ahnung, was mit meinen richtigen Eltern ist. Ja, ich kam als Baby ins Heim. Beantwortet das deine nächsten Fragen?"

Damian stellte drei Flaschen vor mir ab: Eine mit Apfelsaft, eine mit Orangensaft und eine mit Wasser. Danach lehnte er sich an die Küche und schaute mich mit diesem einen herausfordernden Blick an, der dem Ausdruck, mit dem ich ihn kennengelernt hatte, in allem widersprach. Er war nicht leer, kalt und emotionslos. Im Gegenteil. Er trug eine Hitze in sich, die direkt auf meinen Körper übersprang. Als wäre er Feuer und ich vertrocknetes Unterholz, das aus ein paar Flammen innerhalb kürzester Zeit einen wild lodernden Waldbrand entfachte.

Genau so fühlte es sich an, ihm in die Augen zu sehen. So warm, so ansteckend, so gefährlich.

„Du urteilst ganz schön schnell", antwortete ich, im Versuch mich von seinen bisherigen Erfahrungen unberührt zu zeigen. Dabei kam ich nicht umhin, mich zu fragen, wie oft er schon ein und dasselbe Gespräch geführt haben musste, um jetzt so genervt vor mir zu stehen.

„Als wärst du nicht neugierig."

„Natürlich bin ich neugierig. Ich kann auch nicht abstreiten, dass mich das alles interessiert hat. Aber ich bin kein Fan davon, Interviews mit meinen Gesprächspartnern zu führen. Ich habe es ganz gern, wenn ich auch ein bisschen was über mich erzählen darf."

Für einen Moment schaute Damian mich völlig ausdruckslos an. Langsam, kontrolliert, legte sich ein Lächeln auf seine Lippen.

„Gut, dann erzähl etwas über dich. Aber wehe du langweilst mich."

„Sowie du mich mit deiner Standard-Heimkind-Biographie?"

Da passierte es.

Er lachte.

Er stand da, lehnte an der Küchenablage, hatte die Hände an den Hosentaschen, schaute mich an und lachte.

Es klang so hell und so rein, dass ich kaum glauben konnte, dass es von ihm kam. Sonst lag in seiner Stimme, in jedem seiner Töne, eine raue Dunkelheit. Sein Lachen dagegen war pures Licht.

„Ich wohne bei meiner Tante, seit ich drei bin. Als ich sechs wurde, sind wir zu ihrem damaligen Verlobten und jetzigen Mann gezogen. Er hat ein Kind aus einer vorherigen Beziehung und sie haben versucht, uns als Brüder aufzuziehen, aber wir haben uns entweder ignoriert oder komplett terrorisiert. Nach dem ersten halben Jahr haben meine Tante und ihr Mann ein größeres Haus gekauft, damit Torben und ich uns nicht mehr über den Weg laufen müssen, wenn er bei uns ist. Seit ein paar Jahren hat er eine eigene Wohnung, deshalb sehen wir uns kaum. Ich habe unsere Villa quasi für mich allein, weil meine Tante und ihr Mann entweder arbeiten sind oder sich in ihrem Schlafzimmer einschließen und quality time miteinander verbringen."

„Wie groß ist eure ‚Villa'?", fragte Damian. Er versuchte gelangweilt zu klingen, aber ich sah ihm an, dass es in seinem Kopf ratterte.

„Wir haben einen Pool im Keller."

Seine Augenbrauen schossen nach oben. „Schwimmst du da drin?"

„Was soll ich sonst damit machen?"

„Keine Ahnung. Vielleicht ist das so wie mit Designer-Tellern, die man nur hat, damit man sagen kann, dass man sie hat."

„Nope, der Pool ist zum Schwimmen da. Willst du mal vorbeikommen?"

Damian kniff die Augen zusammen. „Ist das dein Versuch, einen Unglücklichen an deinem lächerlichen Reichtum teilhaben zu lassen, damit du dich weniger schuldig fühlst, weil es Kinder auf den Straßen gibt, die verhungern, während du in deinem Pool chillst?"

„Das ist mein Versuch, dich nackt zu sehen."

Damians Mund öffnete sich, ohne die Intention Worte hervorzubringen.

Ich genoss es einen Moment zu lange, ihn sprachlos gemacht zu haben, bevor ich aufklärte: „Das war ein Witz."

Er ließ seinen angehaltenen Atem in einem Stoß entweichen. „Was genau war daran witzig?"

„Dein Gesicht."

Er schnaubte verbittert.

Ich presste meine Lippen zusammen, um nicht darüber zu lachen. Zu allem Überfluss verschränkte er auch noch beleidigt die Arme.

Ich hatte noch lange nicht genug davon, seine Grenzen auszutesten, als Nick und Finn dazu kamen.

Nick fragte, warum wir in der Küche herumstanden und Finn zog mich von ihm und Damian weg, um mir ins Ohr zu flüstern: „Ich erzähle dir später alles. Bis dahin nur so viel: Nick küsst wie ein Gott."

Ich bekam nur am Rande mit, wie ein Streitgespräch zwischen Damian und Nick entfachte, bis sie einander bereits anzickten.

„Ich bitte dich um eine einzige Sache und du entscheidest, dass ich es nicht brauche. Danke, echt."

„Damian, du isst mehr Fleisch an einem Tag als ich in einem Monat. Hast du dich mal gefragt, was wäre, wenn alle so viel konsumieren würden wie du?"

„Sehe ich so aus, als würde mich das interessieren?"

„Nein. Genau das ist das Problem. Tiere sind Lebewesen und durch unseren Konsum fügen wir ihnen Leid zu, das kein-"

„Ich kann nichts dafür, wie die Tiere behandelt werden", machte Damian klar.

„Du kannst was dafür, dass du den Leuten, die sie wie Scheiße behandeln, Geld hinterherwirfst, weil du den Rachen nicht vollbekommst", sagte Nick. Er war erstaunlich ruhig dafür, dass ihm das Thema offensichtlich am Herzen lag. „Reiß dich einfach ein bisschen zusammen und ernähre dich einen Ticken bewusster, dann halte ich meinen Mund und lasse dich machen. Heute gibt es jedenfalls kein Fleisch. Und, wenn du es wagst, etwas zu bestellen, kannst du damit rechnen, dass ich dir jeden Tag neue Bilder von gequälten Tierleichen an deine Zimmertür pflastere."

„Du kannst froh sein, dass ich dich nicht zu einer gequälten Leiche mache", zischte Damian Nick zu, ehe er an uns vorbeistapfte.

Wir schauten ihm hinterher, hörten ihn im Flur fluchen und zuckten unisono zusammen, als er die Haustür hinter sich zuknallte.

Sobald Damian weg war, atmete Nick durch und strich sich in einer erschöpften Geste die Haare zurück. „Sorry. Das hätten wir unter vier Augen besprechen sollen."

„Gesellschaftlich relevante Themen dürften auch in Gesellschaft diskutiert werden." Finn stellte sich zu Nick und streichelte über seinen Rücken. „Er ist bestimmt bloß hangry."

„Ich gehe mal nach ihm schauen", sagte ich, obwohl ich mir sicher war, dass ich einfach gehen konnte, ohne, dass die beiden es bemerkten.

„Sicher? Er hat Probleme mit seiner Impulskontrolle. Uns wurde geraten, ihn alleine zu lassen, wenn wir das Gefühl haben, er könnte gefährlich werden."

Wenn ich Damian einholen wollte, hatte ich keine Zeit, ebenfalls eine Diskussion mit Nick zu starten. Deshalb nickte ich bloß. Ich war mir sicher. Scheiß egal, was letztes Mal, als ich ihm hinterhergerannt war, passiert war oder was vielleicht passieren würde.

„Okay", seufzte Nick und deutete mir, ihm zu folgen. Er führte mich durch den Flur zur Terrasse und deutete über den Zaun des kleinen Gartens hinweg auf den mit Bäumen bestückten Horizont. „Meistens, wenn er von seinen Wutspaziergängen zurückkommt, sagt er, er war im Wald. Vielleicht findest du ihn da."

Nick legte eine Hand auf meine Schulter und drehte mich zu sich, um mir ernst in die Augen zu sehen. „Pass auf dich auf, okay? Halt Abstand, bis du dir absolut sicher bist, dass er sich im Griff hat."

Wieder nickte ich und schluckte meine Meinung dazu herunter. Je schneller er mich gehen ließ, umso besser.

Als ich das Haus verließ, stellte ich fest, dass es draußen dunkel geworden war. Dunkel und kalt. Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke bis nach ganz oben zu und schaltete die Taschenlampe an meinem Handy an, um mich zu orientieren.

Ich ging direkt durch den Garten, stieg über den Zaun und stampfe über die Wiese, die nahtlos in den Wald überging. Ich erkannte einen frischen Weg, auf dem große Schuhabdrücke zu sehen waren und folgte ihnen.

Zuerst war es noch eine relativ gerade Linie. Dann begannen die Spuren, hin und her zu schwanken.

Ich bewegte mich beinahe im Entenmarsch fort, weil ich mich so nah an Boden kniete, um nach den nächsten Schritten zu suchen.

Ich kam mir absolut lächerlich dabei vor. Lächerlich und kalt.

Im ersten Moment, als ich ein Knurren hörte, bildete ich mir ein, es müsste ein Motorgeräusch von der Straße irgendwo hinter mir gewesen sein. Als es wieder erklang, stellte ich meine Suche ein und schaute mich um.

Beinahe hätte ich ihn übersehen. Sein Fell verschmolz direkt mit der Nacht. Nur seine Augen glühten hell genug, um sich von der Umgebung abzuheben.

Vor Schreck ließ ich mein Handy auf den Boden fallen und plumpste auf den Hintern.

„Nicht schon wieder", zischte ich, in dem Moment mehr besorgt um die Matschflecken auf meiner Hose als um das Raubtier mir gegenüber.

Obwohl es diesmal ein Panther war, machte sich ein Gefühl der Vertrautheit in mir breit.

Ich konnte nicht sagen, was mir durch den Kopf ging, als ich meine Beine in den Schneidersitz zog. Alles andere - den Boden nach meinem Handy abzutasten, mich aufzusetzen, weiterzugehen - kam mir falsch vor. Also schaute ich den Panther an und ließ ihn mich anschauen, wohlwissend, dass er mit einem Satz direkt vor mir landen und mir das Gesicht abbeißen konnte.

„Schüchtern?", fragte ich das Tier, das mich aus der Distanz beobachtete.

Es legte in einer fast schon menschlichen Geste den Kopf schief und stieß ein leichtes Schnauben aus.

„Willst du gestreichelt werden?"

Ich streckte meine Hand nach ihm aus, ohne tatsächlich zu versuchen, ihn zu erreichen. Er hatte die Wahl, ob er das Angebot, annehmen wollte.

Er wägte sorgfältig ab, schaute lange und ausgiebig in meine Augen und machte schließlich ein paar Schritte zu mir, um an meiner Hand zu schnuppern.

Ich spürte seinen warmen Atem an meinen eisigen Fingern und begann zu lächeln. „Dir ist nicht kalt, mh? So fluffig wie du aussiehst."

Mir war klar, dass er nicht antworten konnte. Dass er wahrscheinlich nicht einmal verstand, was ich sagte. Aber ich war mir sicher, anhand meiner Stimme musste er hören, dass ich ihm freundlich gesonnen war.

Wie er begann, seinen Kopf in meine Handfläche zu drücken, sah ich als Beweis dafür, dass er zumindest das verstand. Ich begann also, ihn zu streicheln. Erst zwischen den Ohren, dann dahinter und schließlich am Hals.

„Okay, du siehst nicht nur fluffig aus, du bist fluffig. Und warm."

Sein Atem stieß in mein Gesicht. Als wir uns diesmal in die Augen sahen, war nicht einmal ein Meter zwischen uns. Ich sah mein eigenes Spiegelbild in seiner schwarzen Pupille und fragte mich, ob es ihm bei mir genauso ging.

Dabei streichelte ich mit beiden Händen über seinen Hals, ohne zu wissen, ob ich es tat, um ihm Streicheleinheiten zu geben oder, um mich aufzuwärmen. Vermutlich beides.

„Du musst total einsam hier sein", murmelte ich.

Natürlich konnte er mir nicht antworten, aber wie er seinen Kopf an meine Schulter schmiegte, war Bestätigung genug.

„Ich dachte, ich bin stabil", flüsterte ich, während ich meinen Kopf an seinen lehnte und verträumt durch sein Fell streichelte. „Ich hatte schon seit ein paar Wochen keine Alpträume mehr. Ich habe gut gegessen. Meine Gedanken waren okay. Du bist echt. Oder?"

Der Panther stellte eines seiner Beine auf meine Wade.

Irgendwie brachte mich das zum Lachen. „Zum Glück kannst du nicht reden. Wenn meine Tante wüsste, dass ich entweder mit einer Halluzination rede oder mit einem echten Raubtier kuschele, würde ich bestimmt wieder in der Psychiatrie landen."

Er schnaubte und nahm den Fuß zurück auf den Boden.

Meinetwegen hätten wir ewig kuscheln können. Oder zumindest solange, bis ich herausgefunden hatte, ob ich einen psychotischen Schub hatte.

Der Panther hatte eine eigene Idee. Er ging ein paar Schritte zurück und betrachtete mich aus der neuen Distanz, während die Kälte nach mir griff.

Schließlich senkte er seinen Kopf, als würde er eine Verbeugung andeuten und trabte davon.

„Hey, warte!", rief ich, schaffte es aber nicht, aufzustehen. Meine Beine waren eingeschlafen.

Viellicht war das gut so. Psychose oder keine Psychose, es konnte keine gute Idee sein in der Dunkelheit und Kälte noch weiter in den Wald zu rennen. Egal, ob dort ein warmes Raubtier herumschlich oder nicht.

Nein, nicht nur ein Tier. Zwei. Ein Panther und ein Jaguar. Tiere, die hier nicht vorkommen sollten und Tiere, die so zutraulich waren, dass sie gar nicht echt sein konnten.

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