Kapitel 1 - Heute

Nachdenklich saß ich im Zug und schaute von dem großen Fenster aus den Bäumen beim Laufen zu, während die Regentropfen auf dem Glas sich ein Wettrennen lieferten. Ich freute mich auf Berlin und meine einmonatigen Semesterferien. Aber vor allem freute ich mich auf Zoe.

„Die Fahrgäste, die uns tragischerweise in Berlin Hauptbahnhof verlassen, müssen sich beim Umsteigen beeilen, andernfalls fährt Ihnen der Zug Richtung Berlin-Vorstadt direkt vor der Nase weg!", rauschte die Stimme des Schaffners durch die Lautsprecher und hektisch fing ich an, meine Sachen zu packen.

Nachdem ich gestresst ausstieg und zu meinem Zug rannte, wurde ich bitter enttäuscht, denn gerade, als ich am Bahnsteig ankam, fuhr der letzte Waggon um die enge Kurve und laut fluchte ich auf. „Scheiße!". Der halbe Bahnhof drehte sich zu mir um und peinlich berührt schleppte ich mich mit meinem Koffer in das dunkle Rauchereckchen. Ich holte mein Handy aus der Jackentasche und sah auf den Akkustand - nur noch 23 Prozent!

„Hast du mal ein Feuerzeug?", fragte mich ein junger, braunhaariger Mann und entschuldigend schüttelte ich den Kopf. „Macht nix! Du schaust eh nicht so aus, als würdest'te rauchen...", meinte er und lehnte sich neben mich an die Wand. Eine alte Dame ging argwöhnisch an ihm vorbei und fragte mich: „Belästigt der Mann Sie?". Ich verneinte grinsend und leise vor sich hin schimpfend ging sie weg.

„Woher kommst du?", fing er wieder an, mich in ein Gespräch zu verwickeln und genervt rollte ich mit meinen Augen. Wortlos holte ich eine Zigarette aus meiner Jackentasche, zündete sie mit einem Streichholz aus der anderen an und hielt ihm das brennende Holzstück hin.

Verwirrt sah er mich an, nahm es aber schnell entgegen, bevor es komplett schwarz werden konnte und zündete sich seinen selbstgedrehten Joint an.

Wir standen schweigend da und pafften, doch nach einer Minute warf ich den glühenden Stummel weg, murmelte unverständlich: „Ich weiß immer noch nicht, warum ich dieses Zeugs inhaliere!", und schwang mir meinen braunen Rucksack auf den Rücken. Gerade wollte ich mit meinem Koffer abdampfen (haha, WORTSPIEL...), als er mich am Arm festhielt und mir eine Visitenkarte in die Hand drückte.

„Solltest du länger in Berlin sein, besuch' mich mal." Schmunzelnd ging ich zu meinem ankommenden Zug und konnte mir eine gewisse Ironie nicht verkneifen. Ich kannte ja noch nicht mal seinen Namen.

Querflöten- und Saxophonlehrer Alex Loeven. Ich ließ diesen Namen auf meiner Zunge zergehen und schloss meine Augen. Wie er wohl ist? „Ist der Platz noch frei?", fragte eine junge Mutter mit kleinem Kind und ich nickte. Unbeholfen rutschte ich zum Fensterplatz, lächelte den Beiden zu, holte mein Buch heraus und wartete auf meine Station.

Suchend sah ich mich auf dem kleinen Bahnsteig um und mummelte mich tiefer in meine Jeansjacke ein. Noch zwei Minuten unter diesen anzüglichen Blicken der betrunkenen Männer auf der anderen Bank und ich würde mich in das nächstbeste Café setzten, dass ich auftreiben konnte. Gerade, als ich aufstehen und gehen wollte, kam ein fleckiger, alter BMW um die Ecke gebogen und eine Frau mit rot gefärbten Haaren kurbelte das Fahrerfenster herunter.

„Willkommen in Berlin, Cousine!", lachte sie und mein Gesicht hellte ich auf.

„Zoe!" Mit einem Klacken ging ihre Beifahrertüre auf und ich ließ mich auf den abgewetzten Sitz fallen. Im Radio lief gerade ,,House of Gold" von TwentyOnePilots und ich trommelte im Takt auf dem Armaturenbrett.

„Ich hoffe, es ist okay für dich, wenn du im Zimmer meines Mitbewohners schläfst, unser Sofa ist gerade bei der Reparatur.", meinte sie entschuldigend, als sie die leere Landstraße entlangfuhr und mein erster Gedanke war: Hoffentlich ist der Typ schwul...


„Jojo, ich bin zu Hause! Zieh dir gefälligst eine Unterhose an, bevor wir in dein Zimmer stürmen!", rief Zoe und schmiss ihren Schlüssel auf die Küchenplatte.

Ganz grau sahen die Wände aus, vermutlich wegen dem miesen Regenwetter und meiner Gefühlslage, aber die WG gefiel mir. Überall lagen kleine Bücherstapel herum und ich fiel erschöpft auf den großen, weichen Teppich im Wohnzimmer.

„Ist es schon mal passiert, dass du ihn so aufgefunden hast?", fragte ich neugierig und amüsiert zwinkerte Zoe mir zu. „Ja, das ist schon mal passiert." Ich wollte lieber nicht ins Detail gehen, aber um zu wissen, wo ich auf dem Boden liegend schlafen würde, war ich immer noch neugierig genug. Jujo oder wie auch immer er heißt, würde ja jetzt fertig sein und ich setzte mich auf.

„Ich mache gerade einen Avocado-Dip, möchtest du auch was?" Stumm nickte ich und strich behutsam mit meiner linken Hand über den alten, von Furchen übersäten Holzboden und beiläufig fragte ich: „Warum soll ich ausgerechnet bei ihm schlafen? Hast du nicht das größere Zimmer?" „Ich werde ehrlich mit dir sein.", seufzte Zoe und sah mich an.

„Jo hat...Sagen wir mal, ein paar Probleme, was seine motorischen und körperlichen Fähigkeiten angeht." Auf einmal wurde mir alles klar: Ihr kleiner Kommentar, den ich für anzüglich gehalten habe, der breite Flur, die große Wohnung und der geräumige Aufzug.

„Also sitzt er im Rollstuhl?", stotterte ich und sie sah mich ganz genau an, während sie ihre Nachos mit Avocado bestrich.

„Ach, es war eine depperte Idee, dich mit ihm zu verkuppeln!", kam es aus ihr heraus, aber ich verneinte.

„Passt schon. Und du wurdest wegen deinem Medizinstudium genommen?", hakte ich nach und sie fing an zu lachen.

„Nein, ich habe einfach nur eine Wohnung gesucht. Seine Eltern zahlen aber meine Miete mit, was echt nett ist, und auch sonst verstehen wir uns super, nur Freunde hat er halt wenige.".

Wir wurden abrupt von einem lauten Knall und einer darauffolgenden Schimpfparade unterbrochen und hektisch lief Zoe in das erste Zimmer am Gang. Eilig lief ich ihr hinterher und fragte mich, was uns dort wohl erwarten würde...

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