Kapitel 6
Als ich aufwachte, war es mitten in der Nacht. Und als ich mich aufrichtete, merkte ich, dass ich mich nicht in meinem Zimmer befand, sondern im Wohnzimmer auf der Couch.
Der Mond schien durch die hohen Fenster und tauchte alles in ein silbrigweißes Licht. Bald war Vollmond und so strahlte er die Tage besonders hell.
Wie war es gekommen, dass ich immer noch hier unten war und nicht in meinem Zimmer?
Ich konnte mich daran erinnern, dass Amaliel und ich auch nach dem Film aneinander gelehnt sitzen geblieben waren, ohne ein Wort zu sagen. Da musste ich wohl eingeschlafen sein.
Müde setzte ich mich auf und zog die Beine an. Eine dünne Decke rutschte von meinen Schultern und beinahe auf den Boden, hätte ich sie nicht rechtzeitig ergriffen und wieder zu mir hochgezogen.
Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus, als mir auffiel, dass Amaliel mich damit zugedeckt haben musste, bevor er selbst ins Bett gegangen war. Wo ich mich jetzt auch schleunigst hinbegeben sollte, wenn ich heute Nacht noch schlafen wollte.
Schwerfällig stand ich von der gemütlichen Couch auf und musste mich sofort an der Lehne festhalten, um einen Schwindelanfall zu unterdrücken. Nach wenigen Herzschlägen und übermäßigem Blinzeln konnte ich mich wieder aufrichten und setzte meinen Weg in mein Zimmer fort.
Beim Gefühl des kalten Bodens unter meinen nackten Füßen zuckte ich kurz zurück und huschte dann so schnell wie möglich die Wendeltreppe nach oben und verschwand in mein Zimmer. Mein Bett empfing mich und nach wenigen Minuten war ich wieder eingeschlafen.
{☆}
An diesem Morgen war ich allein im Esszimmer und trank meinen Tee, stand aber auf und lief ins Wohnzimmer, als ich oben eine Tür öffnen hörte.
»Guten Morgen«, rief ich Amaliel zu, der oben an der Brüstung erschien.
Er drehte mir den Kopf zu und lächelte. »Morgen. Ist es okay, wenn ich erst duschen gehe?«
»Klar, warum nicht?« Er zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder ab. Als er im Bad verschwunden war, begab ich mich zurück ins Esszimmer, um meinen Tee weiter zu trinken und auf Amaliel zu warten.
Er brauchte deutlich länger, als ich gedacht hätte, aber ich dachte mir nichts dabei. Vielleicht duschte er immer so lange. In der Zwischenzeit hörte ich der leisen Musik aus dem Radio zu, die aber von den Nachrichten unterbrochen wurde. Gerade, als die Überleitung zum Wetter kam, hörte ich, wie Amaliel die Treppen hinunterstieg, etwas langsamer als gewöhnlich hatte ich das Gefühl.
Wortlos stellte er sich an die Kaffeemaschine. Als er sich schließlich zu mir an den Tisch setzte, war mein Tee nur noch lauwarm und fast leer.
Amaliel sah mich nicht an, sondern starrte wortlos in seinen Kaffee. Unsicher fragte ich mich, ob sich seit gestern etwas geändert hatte, dass er sich wieder von mir distanzierte. Gerade, als ich zu einer Frage ansetzen wollte, hob er den Kopf.
»Tut mir leid, wenn ich heute etwas abwesend bin«, sagte er mit rauer Stimme und räusperte sich. »Ich glaube, heute wird nicht mein Tag.«
Das glaubte ich auch. Seine Augen waren rot gerändert und er wirkte bleicher als sonst. Das war wohl der Grund, warum er länger beim Duschen gebraucht hatte.
Ich wollte ihn darauf ansprechen, wollte wenigstens etwas Aufmunterndes sagen – dass er mit mir reden konnte und ich bei ihm war. Aber ich konnte nicht. »Ist okay«, antwortete ich schließlich leise und drehte meine Tasse in den Händen, damit sie eine Beschäftigung hatten. »Ich wollte noch danke für heute Nacht sagen.«
Sein rechter Mundwinkel hob sich und er zuckte die Schultern. »Kein Problem. Ich konnte dich nicht die Treppen hochtragen, dann hab ich dich unten zurückgelassen.«
Wenigstens konnte er noch Scherze machen. »Wenn du mich in mein Bett getragen hättest, wäre es zu kitschig gewesen, oder?«
Jetzt zeigte sich ein echtes Lächeln auf seinen Lippen. »Definitiv. Erwarte nicht, dass ich je so eine Aktion bei dir abziehen werde.«
»Davon abgesehen, dass wir nie in einer Beziehung sein werden, verlange ich das gar nicht von dir.« Es tat weh, warum tat es so weh, das zu sagen? Selbst wenn er nicht hetero wäre, wie sollte eine Beziehung bei uns aussehen, wenn er in einer Woche wieder ging? Das war einfach nicht genug Zeit.
»Da hast du auch wieder recht.« Amaliel seufzte und senkte den Blick. »Ich weiß auch nicht, was du mit mir als Freund anfangen wollen würdest.«
»Mach dich nicht runter, Mali«, sagte ich, leiser als beabsichtigt. »Das klingt, als würdest du überhaupt nichts von dir halten.«
Er trank einen Schluck Kaffee, um einer Antwort zu entgehen. »Eli, es ...« Er verstummte wieder. »Wenn du mir nicht unglaublich wichtig wärst, hätte ich schon lange aufgehört, mit dir zu schreiben. Einfach, weil ich dich nicht mit meiner ganzen Scheiße belasten will. Seit ... seit vier Jahren ist irgendwie alles scheiße.«
»Aber ich bin noch da, Mali. Und ich will dir helfen.«
»Es reicht, dass du da bist. Und dass ich hier sein kann. Ich brauche mal diesen Abstand von zuhause, um ... einfach Luft zu bekommen.« Hilflos zuckte er mit den Schultern.
»Das glaube ich auch, du hast es in deinen Briefen geschrieben.« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, damit er sich besser fühlte. Damit er Luft bekam.
»Ist ... ist es okay, wenn ich mich nochmal hinlege? Ich hab scheiß Kopfschmerzen.«
»Natürlich. Es steht dir hier frei zu tun, was auch immer du willst. Ich hoffe, es wird besser.«
Wir standen gleichzeitig auf, Amaliel streifte mit der Hand meinen Arm, als er an mir vorbei zur Treppe lief. »Danke«, hörte ich ihn leise sagen, bevor er verschwand.
{☆}
Ich sah ihn den Großteil des Tages nicht mehr.
Stattdessen saß ich draußen in der Sonne und versuchte ein Buch zu lesen, doch als ich selbst nach mehrmaligem Lesen der Seite nicht wusste, worum es ging, brach ich das Vorhaben ab.
Mittags stand ich unschlüssig vor der Tür zum Gästezimmer und versuchte mich zu überzeugen, zu klopfen und Amaliel zu fragen, ob er zum Mittagessen runterkommen wollte. Schließlich hob ich die Hand und klopfte leise gegen das Holz, vielleicht zu leise.
»Mali?«, schob ich etwas lauter hinterher. Keine Antwort war zu vernehmen. »Wenn du etwas willst ... es gibt Essen.«
Im Esszimmer wartete ich noch einige Minuten, bis ich zu essen begann. Enttäuschung machte sich in mir breit, so sehr ich sie auch verdrängen wollte. Jeder hatte schlechte Tage, da konnte ich ihm nichts vorwerfen. Dennoch fühlte ich mich versetzt.
Nach dem Essen blieb ich auf meinem Platz sitzen und sah auf den Regen, der aufgezogen war und gegen die Scheiben klatschte. Ich fühlte mich an den ersten Tag zurückversetzt, als wir den Regen von meinem Zimmer aus beobachtet hatten.
Das Ganze war fünf Tage her, fühlte sich aber viel länger an. Inzwischen hatte ich das Gefühl, Amaliel zu kennen, auch außerhalb der Briefe. Es war ganz anders und doch so vertraut, dass ich es kaum beschreiben konnte.
Manchmal hasste ich es. Manchmal hasste ich, dass wir uns so nah kamen und ich immer mehr das Gefühl hatte, mich in ihn zu verlieben, nicht nur in die Person, die mir jahrelang Briefe geschrieben hatte.
Frustriert vergrub ich das Gesicht in den Händen. In einer Woche ging er wieder. Und diese Woche wollte ich ihm so schön wie möglich gestalten, ohne dass meine Gefühle dazwischenfunkten.
Schlussendlich stand ich auf und machte mich auf den Weg nach oben, um wieder vor seiner Tür zu stehen. Resigniert über mich selbst, dass ich es schon wieder nicht schaffte anzuklopfen, lehnte ich den Kopf an die Tür.
»Mali?«, fragte ich leise gegen das Holz, abermals ohne eine Antwort. Ich seufzte. »Bist du überhaupt noch da?«, wollte ich wissen, plötzlich von der Angst ergriffen, er hätte seine Sachen gepackt und wäre auf irgendeine Weise heimlich aus dem Haus verschwunden.
Als ich Schritte hörte, hob ich den Kopf und wartete darauf, dass etwas passierte.
Amaliel brauchte noch ein paar Sekunden, bis er es schaffte, die Tür zu öffnen und vor mir zu stehen, den Blick auf den Boden gerichtet. Er trug noch das gleiche schwarze T-Shirt wie vorhin, die Haare waren inzwischen nicht mehr feucht, standen dafür aber in alle Richtungen ab.
»Hier bin ich im Moment lieber als an allen anderen Orten der Welt.« Seine Antwort war leise, die Stimme rau und er musste sich räuspern. »Tut mir leid, wenn du gedacht hast, ich könnte abhauen.«
Immer noch nicht schaffte er es, seinen Kopf zu heben und mich anzuschauen. Wahrscheinlich waren seine Augen immer noch rot vom Weinen.
»Darf ich dich umarmen?« Ich wollte ihn nicht um Erlaubnis fragen, wollte es einfach tun, aber ich hatte Angst, dass er vor mir zurückzucken würde. Vielleicht waren Berührungen gerade das letzte, was er gebrauchen konnte
Er nickte schwach. Ich wartete nicht länger, trat den uns trennenden Schritt vor und legte meine Arme um seinen Oberkörper. Ein Seufzen war zu hören, als er sich schwer gegen mich lehnte, seine langen Arme meinen kleinen Körper umschlossen und er mich fest an sich drückte. Sein wild pochendes Herz schlug direkt unter meinem Ohr, es brauchte lange, bis es sich beruhigte.
»Ich bin für dich da, weißt du«, nuschelte ich in sein Oberteil, während meine Hände sanft über seinen Rücken strichen.
»Ich weiß«, antwortete er genauso leise und legte den Kopf auf meinen Locken ab. »Falls ... falls es dir mal nicht gut geht ... du weißt, ich wäre auch da.«
»Danke.«
Eine Weile standen wir so da, aneinander gelehnt, bei dem jeweils anderen Halt suchend. Amaliel entspannte sich in meinen Armen, sein Körper löste sich aus seiner Starre und eine Hand fand den Weg in meine Haare, hielt sich daran fest. Ein Lächeln legte sich auf meine Lippen bei der Bewegung, zum Glück konnte er es nicht sehen.
Irgendwann, nach ewigen Sekunden, wurde sein Griff um mich schwächer, die Hand fiel aus meinen Haaren, zurück auf meinen unteren Rücken. Ich löste mich langsam von ihm, wollte ihn aber noch nicht ganz loslassen. Meine Hände rutschten nach unten, bis sie auf seinen Hüften lagen.
Augenblicklich versteifte Amaliel sich und zuckte von der Berührung zurück.
»Tut mir leid«, rief ich sofort aus, auch wenn ich nicht wusste, was genau ich falsch gemacht hatte.
»Ich ... nein, es ist alles gut. Einfach ... nicht da, okay? Berühr mich nicht da.« Seine Stimme wurde immer leiser, flehentlicher.
»Natürlich nicht«, antwortete ich sanft, Unsicherheit schwang mit. Ich wusste nicht, warum er so panisch darauf reagierte, aber ein kleiner Verdacht machte sich in mir breit. Nur hatte ich das Gefühl, ihn darauf anzusprechen, würde alles nur noch schlimmer machen.
»Tut mir leid. Ich sollte nicht so reagieren.« Wieder konnte er mir nicht in die Augen sehen. »Aber ... danke für die Umarmung.«
»Gern, wann immer du eine brauchst, ich bin da.« Unentschlossen stand ich vor seiner Tür. Sollte ich jetzt wieder gehen oder war das Gespräch noch nicht beendet?
Amaliel erlöste mich aus meinen Überlegungen. »Ist noch Mittagessen da?«
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