Kapitel 5
Am nächsten Morgen fand ich Amaliel unten auf der Couch sitzend, einen Kaffee in der einen und einen Keks in der anderen Hand. Er schaute auf, als ich die Wendeltreppe hinunterlief, mit vom Schlaf verwuschelten Haaren.
»Wehe du krümelst«, warnte ich ihn und deutete auf das Gebäck, das er aus einer Tüte auf dem Beistelltisch hatte. »Dann saugst du das gesamte untere Stockwerk.«
Schnell steckte er sich den Keks in den Mund und leckte sich die Krümel von den Fingern, woraufhin ich angeekelt den Mund verzog. »Du hast es so gewollt«, grinste er und gönnte sich einen Schluck seines Kaffees.
»Warum bist du schon so früh hier unten?« Ich setzte mich im Schneidersitz neben ihn und griff nach kurzem Überlegen ebenfalls nach einem der kleinen Schokoladenkekse.
»Hab zwar gut geschlafen, aber mein Körper hat zu früh beschlossen, dass es genug ist. Deswegen auch der Kaffee.« Er hob seine Tasse ein Stück an und tunkte einen der Kekse in die dunkle Flüssigkeit.
»Ich wusste nicht, dass du der Kaffee-Typ bist. Eher der Typ, der am Morgen gar nichts trinkt.«
Amaliel lachte. »Wenn Kaffee, dann nur mit Kakaopulver. Schmeckt viel besser.«
»Wer trinkt denn Kaffee mit Kakao?« Es klang nicht grundlegend nach einer schlechten Idee, ich kannte nur niemanden, der das in seine morgendliche Tasse Kaffee kippte.
»Ich, offensichtlich. Willst du mal probieren?« Er hielt mir seine Tasse vor die Nase. Es war eine von meinen, die ich mal zum Geburtstag bekommen hatte. In geschwungenen türkisenen Lettern stand sogar mein Name darauf. Vielleicht hatte Amaliel sie extra deswegen genommen.
Zögerlich nahm ich sie entgegen, streifte dabei unbeabsichtigt seine Hand, die sich im Gegensatz zum Porzellan unter meinen Fingern kalt anfühlten. Der vertraute, warme Kaffeegeruch stieg mir in die Nase, normalerweise roch unsere Küche jeden Morgen danach, wenn meine Eltern da waren.
Das Heißgetränk schmeckte bitter, auch wenn der Geschmack durch die hinzugefügte Milch geschwächt wurde, und ich wusste wieder, warum ich es normalerweise nicht trank. Dann schmeckte ich die Schokoladennote und war wieder besänftigt.
Ich wiegte meinen Kopf hin und her. »Es gibt Schlimmeres«, sagte ich schließlich, als ich Amaliel die Tasse zurückgab. Ich hatte von der anderen Seite getrunken als er, damit ich nicht über die Tatsache nachdenken musste, dass unsere Lippen die gleiche Stelle berührt hatten.
»Sag ich ja.« Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht, er versteckte es aber, indem er schnell noch einen Schluck trank.
Ich stand auf, um mir meinen morgendlichen Tee zu machen, setzte mich aber wieder zu ihm, als dieser ziehen musste. Amaliel hatte seinen inzwischen leergetrunkenen Kaffee auf dem Tisch abgestellt und kaute gerade auf einem der letzten Kekse herum.
»Was sollen wir heute machen?« Ich hatte nicht vor, ihn heute wieder aus dem Haus zu zerren, nachdem er gestern unter den ganzen Menschen so nervös geworden war. Aber jeden Tag Kartenspiele zu spielen, war keine Lösung.
»Ich weiß nicht.« Er seufzte und drehte mir das Gesicht zu. »Wir können ja in den Garten gehen, dann sind wir auch mal draußen.«
Ich nickte bedächtig. »Das klingt nach einer guten Idee. Nachdem ich meinen Tee getrunken habe, okay?«
Amaliel blieb auf der Couch zurück, schaute weiter nachdenklich in die Ferne. Irgendwann brachte ich ihm die Tageszeitung vorbei, die ich aus dem Briefkasten gefischt hatte, damit er etwas zu tun hatte, wenn er schon nicht bei mir am Tisch saß, aber er schüttelte schmunzelnd den Kopf. Ich ließ sie trotzdem bei ihm liegen und irgendwann sah ich über den Tassenrand hinweg, wie er danach griff, und musste lächeln.
{☆}
Ich ging zuerst allein in den Garten, Amaliel musste sich noch ein anderes T-Shirt anziehen, da auf dem ersten Kaffeeflecken waren.
Heute Nacht war es draußen abgekühlt, aber die Sonne wärmte die Luft rasch auf und schien hell ins Wohnzimmer. Es war noch nicht so heiß, dass ich die Vorhänge zuziehen musste, damit sich unser Haus nicht weiter aufheizte.
Ich setzte mich mit angezogenen Knien auf den mit Steinen gepflasterten Boden und lehnte mich an die Hauswand, während ich auf Amaliel wartete. Der raue Putz drückte sich in meinen Rücken, war aber nicht so unangenehm wie erwartet.
»Bin wieder da«, ertönte Amaliels Stimme von der Gartentür aus und ich hörte seine Schritte auf mich zukommen. Er setzte sich neben mich, aber so weit entfernt, dass wir uns nicht berührten.
Ich drehte meinen Kopf zu Amaliel und bemerkte, dass seine hellbraunen Augen schon auf mir lagen.
»Deine Augen sind gar nicht braun«, stellte ich fest.
Er blinzelte irritiert. »Was?«
»Wenn die Sonne so in deine Augen scheint, dann sind sie am Rand eher grün als braun. Wusstest du das nicht?« Ich erntete ein Kopfschütteln. »Sieht aber schön aus.«
»Wenn du meinst«, brummte er und senkte den Blick. »Deine Augenfarbe kann ich aber trotzdem nicht toppen.« Ohne mir noch Zeit für eine Antwort zu geben, stand er auf und klopfte sich den Staub von der Hose. »Also ... du wolltest mir euren Garten zeigen?«
»Das meiste erklärt sich von selbst, schätze ich.« Ich machte eine ausladende Armbewegung über unseren Garten. Hohe Hecken wuchsen am Rand, ansonsten gab es nicht viel mehr als Wiese, Bäume und das Gartenhaus. »Aber ich kann dir sagen, was für Pflanzen in unserem Hochbeet wachsen.«
Amaliel lächelte mich an, dieses wunderschöne, echte Lächeln mit den Grübchen in beiden Wangen, das mich schwach werden ließ. »Dann fang mal an, ich pass auf.«
Über die nächsten Minuten zeigte ich ihm in unserem überwucherten Beet die Himbeeren und Stachelbeeren, den Rosmarin und den Schnittlauch und alle anderen Pflanzen, deren Namen ich nicht kannte. Auf dem Rand standen Blumenkästen mit Erdbeerpflanzen und Salat.
»Wenn meine Mutter nicht da ist – also die meiste Zeit –, muss ich mich darum kümmern, dass hier nichts vertrocknet. Vielleicht werden die Erdbeeren noch reif, bevor du gehst.« Mit einem Lächeln schaute ich hoch und blinzelte gegen die helle Sonne, die mir ins Gesicht schien. Amaliel sah nachdenklich auf die größtenteils noch grünen Erdbeeren und nickte.
»Erdbeeren mag ich sowieso lieber als Himbeeren.«
»Lass das nicht meine Mutter hören, sie liebt Himbeeren abgöttisch. Ich muss immer aufpassen, dass sie mir nicht alle wegisst, wenn sie hier ist.« Schmunzelnd schüttelte ich den Kopf.
»Dafür kann sie dir Souvenirs von überall auf der Welt mitbringen.« Amaliel lehnte sich mit verschränkten Armen an den Rand des Hochbeets. »Oder dir Geschichten von ihren ganzen Erlebnissen erzählen.«
Seine Stimme hatte einen kaum merklichen verbitterten Unterton angenommen und seine Augen blickten starr in die Ferne. Er sprach nicht weiter, trotzdem konnte ich hören, was ihm auf der Zunge lag. Wenigstens hast du eine Mutter.
Ich streckte meinen Arm aus und meine Finger streiften für einen Moment die warme Haut seines Unterarms. Im selben Augenblick entschied ich, das Thema nicht weiter aufzugreifen. Wenn er darüber reden wollte, würde er es schon ansprechen. Hoffte ich.
»Wenn du willst, kann ich dir nachher meine ganzen tollen Souvenirs zeigen. Ich habe ein ganzes Regal davon.« Aufmunternd strich ich ihm noch einmal über den Arm und wandte mich dann ab. Mir entging nicht, dass sein Blick die ganze Zeit an meinen Fingern klebte, und ich biss mir auf die Lippe, um ein dümmliches Grinsen zu unterdrücken.
»Klingt gut.« Amaliel tauchte neben mir auf und zusammen traten wir von den Steinplatten, zwischen denen sich Löwenzahn ausbreitete, auf den Rasen, den mein Vater kurz vor der Fahrt in den Urlaub gemäht hatte.
»Hier stand mal mein Baumhaus.« Ich deutete auf unsere Eiche, die über ihre vielen Lebensjahre schon beachtlich gewachsen war. Mein altes Baumhaus hieß zwar so, hatte aber nur neben dem Baum auf Stelzen gestanden und war nicht wie in all den Kinderfilmen hoch oben im Baum und nur mit einer Strickleiter zu erreichen gewesen. Meine Mutter hatte zu viel Angst gehabt, dass ich mich verletzen könnte.
Amaliels Augen leuchteten auf, vielleicht erinnerte er sich an meine Briefe. »Du wolltest darin übernachten, hattest dann aber Angst, dass Spinnen in deinen Schlafsack kriechen, und hast es am Ende nie gemacht.«
Verlegen über mein früheres Ich lachte ich auf. »Manchmal bereue ich wirklich, was ich dir über die Jahre alles geschrieben habe. Was du alles gegen mich verwenden könntest ...«
»Oh, Bärchen. Ich mindestens genauso schlimme Sachen geschrieben.« Der Spitzname war auch schon Jahre alt, aber wärmte er immer noch mein Herz. »Du könntest mich wegen Diebstahls anzeigen.«
»Wegen den paar Süßigkeiten vor ein paar Jahren?« Ich musste lachen und Amaliel schloss sich mir an. »Das ist doch irgendwann verjährt.«
Wenige Sekunden blieben wir stumm, dann erhob Amaliel wieder seine Stimme, eine Nuance tiefer als zuvor. »Wir sollten es machen.«
»Was? Süßigkeiten klauen?« Das hatte ich sicher nicht vor.
Ein Lächeln huschte über seine Züge. »Nein, natürlich nicht.« Er machte eine Pause und ich wollte schon nachfragen, als er weitersprach. »Hier draußen schlafen.«
Ich riss die Augen auf. »Meinst du wirklich?«
Amaliel wandte sich mir zu, anscheinend überrascht darüber, dass ich seine Idee nicht sofort ablehnte. »Klar. Ich beschütze dich auch vor den Spinnen.« Jetzt grinste er.
Ich biss mir auf die Lippe und betrachtete das Gras unter meinen nackten Füßen. »Aber nicht heute«, sagte ich, bevor ich weiter darüber nachdenken konnte. Eine Welle der Aufregung erfasste mich, als ich den Gedanken an eine Nacht mit Amaliel einmal durch meinen Kopf laufen ließ.
»Nein, nicht heute.« Er wirkte nachdenklich und zeichnete Kreise mit seinen Füßen ins Gras, während er sich eine passende Antwort überlegte. »Lass es uns in der zweitletzten Nacht machen. Von Donnerstag auf Freitag.«
»Warum nicht in der letzten?«
Er zuckte mit den Schultern. »Einfach so. Also?«
Ich ergriff grinsend seine ausgestreckte Hand und drückte sie kurz, während ich innerlich den Kopf schüttelte. Worauf hatte ich mich hier eingelassen?
Seichter Wind kam auf und sorgte dafür, dass meine Locken in mein Gesicht gewirbelt wurden. Amaliel quittierte meine Bemühungen, sie wieder wegzuwischen, mit einem amüsierten Lächeln. Ich rollte mit den Augen und drehte mich weg von ihm, um zum Gartenhaus zu gehen, das halb versteckt hinter einem Haselstrauch stand.
»Wir benutzen es kaum, da drin stehen nur alle möglichen Sachen rum.« Ich öffnete die helle Holztür. Der vertraute Geruch nach abgestandener Luft und Holz kam mir entgegen. »Das Einzige, was wir öfter brauchen, sind die Blumenerde und die dazugehörigen Töpfe. Mein Vater hat schon gemäht, also wird der Rasenmäher dieses Jahr auch nicht mehr benötigt.« Ich stoppte in meinem plötzlichen Redeschwall, fragte mich, warum ich überhaupt so viel über unser Gartenhütte zu erzählen hatte.
»Wirklich sehr interessant«, meinte auch Amaliel und lugte neugierig in das Innere.
Vorne befanden sich genannte Erde und Töpfe, daneben mehrere Schaufeln und Spaten. Der Rasenmäher stand weiter hinten unter dem einzigen Fenster, zusammen mit anderen technischen Geräten. Ein großes Regal stand an der hinteren Wand neben der Tür, darin aller möglicher Kleinkram. Der größte Teil des Bodens aber blieb frei.
Amaliels Blick schweifte sorgfältig über jedes einzelne Teil, länger, als ich es erwartet hätte. Als er sich schließlich abwandte, war sein Blick nachdenklicher geworden. Doch einen Augenblick später war der Ausdruck verschwunden und machte seinem spielerischen Grinsen Platz. »Ich hätte gedacht, ihr macht mehr im Garten. Wenn man so reich ist, muss doch alles blitzblank sein.«
»Immer dieses stereotypische Denken ...« Theatralisch schüttelte ich den Kopf und presste eine Hand auf meine Brust. »Du verletzt mich. Wir sind doch nicht wie die anderen.«
»Ihr habt einen riesigen Kronleuchter im Wohnzimmer. Natürlich seid ihr wie die anderen.«
Ich musste lachen. »Ich schenk dir ein Bild von unserem Kronleuchter zum Geburtstag, wenn du ihn so sehr liebst.«
»Wenn schon, dann musst du mir eine kleinere Kopie davon schenken, damit ich ihn an meine Zimmerdecke hängen und mich reich fühlen kann.«
»Deal.« Ich streckte meine Hand aus, Amaliel schüttelte sie. »Dann ist es beschlossen.«
Wir liefen weiter durch den Garten, in dem es nichts Interessantes mehr zu sehen gab. Es war angenehm, das frische Gras unter den Füßen zu spüren, das an schattigen Stellen noch feucht vom Tau war. Aber weil unser Garten nicht unendlich groß war, standen wir nach kurzer Zeit wieder vor der Tür ins Haus.
Unsicher darüber, was wir als nächstes machen sollten, schaute ich zu Amaliel auf, dessen Blick wieder auf unserem Hochbeet haftete. Ich folgte seinen Augen, fand aber nichts Spannendes.
»Ich wollte nochmal danke sagen«, vernahm ich seine leise Stimme und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn.
Vorsichtig, als würden zu schnelle Bewegungen ihn erschrecken, kam ich auf ihn zu und nahm zögerlich seine Hände in meine. Seine Finger waren kälter als meine und etwas rau an der Unterseite. Er zog sie nicht weg. Als ich es schaffte, mich von unseren Händen loszureißen, sah ich direkt in Amaliels warme Augen.
»Du musst dich für gar nichts bedanken«, sagte ich sanft.
»Doch. Weil ... ich hasse Menschen nicht generell, aber ich kann nicht unter zu vielen sein. Manchmal, nicht immer. Und dann ...« Er leckte sich über die Unterlippe, seine Finger bewegten sich in meinen, ließen aber nicht los. »Ich weiß nicht, dann werde ich nervös und denke, alle schauen mich an und warten darauf, dass ich etwas falsch mache. Und du hast bemerkt, dass etwas nicht gestimmt hat.«
Ich erwiderte sein vorsichtiges Lächeln und drückte seine Finger. »Ich verstehe das. Du kannst mir in Zukunft ja sagen, wenn dir etwas zu viel wird. Vielleicht bemerke ich es nicht immer.«
»Werde ich«, versprach er, wenn auch mit einem kurzen Zögern. Ich wusste nicht, ob ich ihm glauben sollte. Seine Finger entglitten den meinen und er trat einen Schritt zurück. »Wollen wir rein gehen?«
Ich folgte ihm ins Haus und die Wendeltreppe nach oben. »Warum sind wir jetzt hier?«
Er zuckte mit den Schultern. »Immer nur im Wohnzimmer sein ist auf Dauer doch auch langweilig. Wollen wir in dein Zimmer?«
Ich öffnete die Tür und trat zur Seite, damit er an mir vorbei gehen konnte. Mein Blick fiel auf mein ungemachtes Bett, aber Amaliel beachtete es nicht und ging stattdessen zum Fenster. Nachdenklich betrachtete er die vier Pflanzen, die auf meinem Fensterbrett standen und sich der Sonne entgegenstreckten, die ungehindert vom blauen Himmel strahlte.
»Eigentlich möchte ich noch mehr«, bemerkte ich und stellte mich neben ihn. »Aber ich muss erst schaffen, dass die alle am Leben bleiben. Noch sehen sie gut aus, aber wer weiß, wie es in zwei Wochen aussieht.«
»Vielleicht sollte ich dir zum Geburtstag lieber Samen schenken. Pflanzensamen natürlich«, fügte er rasch hinzu und presste im nächsten Moment die Lippen aufeinander, als bereute er seine Worte schon wieder.
Ich verdrehte die Augen. »Meine Güte, ich weiß doch, dass du Pflanzensamen meinst und nicht ... irgendwelche anderen. Ich bin schwul, aber das heißt nicht, dass ich mit dem erstbesten Jungen, der mir über den Weg läuft, Sex haben will. Du doch auch nicht.«
Er antwortete nicht und ich schaute schnell auf den Boden, bevor ich den Ausdruck in seinen Augen sehen konnte. Es war das erste Mal, dass ich es aussprach. Amaliel war der Einzige, der es wusste, der Einzige, dem ich davon erzählt hatte. Wir hatten nie wieder darüber gesprochen, aber ich hatte heute bemerkt, dass es das erste war, woran er dachte, wenn er mich ansah.
»'Tschuldigung«, murmelte er und klang ehrlich bedrückt. Mit einer Hand fuhr er sich durch die blonden Haare und senkte den Blick. »Es ist nur so ... ich weiß auch nicht. Ich versuche nicht daran zu denken, aber es ist irgendwie schwer. Mein ganzes Umfeld ist irgendwie homophob und ich bekomme dieses Denken nicht so gut aus meinem Kopf raus. Bei mir ist niemand ... schwul, von dem ich das weiß. Und dann weiß ich nicht, wie ich mich dir gegenüber verhalten soll. Ich bin manchmal etwas ... verwirrt.«
Am liebsten würde ich ihm eine Hand auf den Arm legen, aber es wäre vielleicht nicht die beste Entscheidung, während wir über meine Sexualität redeten.
»Ich verstehe das, ich verstehe es. Aber versuch es, ja? Sonst wird die nächste Zeit lustig, wenn du so um mich herumtippelst.«
Er schmunzelte bei meiner Formulierung und nickte, wenn auch zögerlich. »Ich versuche es. Du bist einfach Delian, mein langjähriger Brieffreund, den ich endlich richtig kennenlerne.«
»Genau«, murmelte ich leise und sah wieder zu meinen Pflanzen. »Aber lassen wir es sein. Wenn du willst, können wir es für die restliche Zeit ignorieren. Vielleicht fühlst du dich dann wohler.«
Es tat weh, das zu sagen. Ich versuchte selbst oft genug mich so „normal" wie möglich zu verhalten, damit niemand Verdacht schöpfen könnte. Aber zu Amaliel konnte ich ehrlich sein. Ich würde mich so viel freier fühlen mit dem Wissen, dass er zwar wusste, dass ich homosexuell war, es aber nichts an der Beziehung zwischen uns änderte.
»Nein, bitte nicht. Du brauchst dich nicht zu verstellen. Du bist schwul und das ist okay, aber ... ich bin es nicht und das war's.« Er sah erleichtert aus, als er endete, und so schenkte ich ihm nur ein warmes Lächeln und ließ die Sache auf sich beruhen. Vielleicht musste er sich wirklich noch daran gewöhnen.
»Also ...«, begann er mit einem nachdenklichen Unterton, als ich gerade nach meiner kleinen, metallenen Gießkanne griff, um meinen Pflanzen Wasser zu schenken. Amaliel redete nicht weiter, bis ich alle Pflanzen gegossen hatte und ihm meine volle Aufmerksamkeit schenkte. »Findest du mich attraktiv?«
Fast fiel mir die Kinnlade herunter. Ich musste mich verhört haben, ganz sicher. »Meinst du das ernst?«
Er verschränkte die Arme und lehnte sich ans Fensterbrett, den Blick weiter auf mich gerichtet. »Jetzt habe ich mal die Gelegenheit zu erfahren, was der männliche Teil der Gesellschaft von meinem Aussehen hält, dann sollte ich die Chance doch nutzen.«
»Weil ich auch der gesamte männliche Teil bin und alle die gleiche Auffassung von Attraktivität haben. Außerdem muss man nicht auf Männer stehen, um das zu beurteilen. Ich kann auch sagen, ob ich eine Frau attraktiv finde oder nicht.«
Amaliel bemerkte meine Bemühungen, Zeit zu schinden. »Du willst es nicht sagen, oder?«
Nein, verdammt, wollte ich nicht. Was sollte ich schon sagen?
»Du ...« Ich brach ab und drehte mich von ihm weg. »O Gott, das fühlt sich so komisch an.« Für ein paar Sekunden betrachtete ich den Boden, dann seufzte ich und sah ihn wieder an. »Gut, ähm ... die blonden Haare stehen dir, aber ich würde dich auch echt gern mal mit deiner Naturhaarfarbe sehen. Und ... sie sind vielleicht etwas kurz, also für meinen Geschmack. Aber ... insgesamt siehst du ... vielleicht gar nicht so schlecht aus.«
Ich schlug mir die Hände vors Gesicht, um meine Verlegenheit zu verstecken. Warum hatte ich das sagen müssen? Ich hatte einen verdammten Crush auf ihn, natürlich sah er dann in meinen Augen ein Stück besser aus.
Ein leises Lachen ertönte und als ich zwischen meinen Fingern hindurchschaute, sah ich die Grübchen auf seinem Gesicht.
»Und ich mag deine Grübchen«, fügte ich noch leise hinzu. Bevor er antworten konnte, kam mir eine Idee. »Findest du mich attraktiv?«
Seine Augen weiteten sich ein Stück und er schluckte unmerklich. »Deine Augen ... deine Augen sind schön. Aber das habe ich schon gesagt.« Seine Stimme klang, als würde er gleich wieder anfangen zu stottern. Vielleicht lag es daran, dass er die Frage nicht erwartet hatte.
»Ich weiß nicht, ob attraktiv das richtige Wort für dich ist. Du bist eher ... knuffig.«
»Ich bin doch nicht so klein, dass du mich knuffig nennen kannst!«, empörte ich mich.
Das entlockte ihm ein Lächeln. »Doch, schon. Du bist knuffig, Bärchen.«
»Der Spitzname lässt es tatsächlich knuffig wirken. Aber bitte, lass dir was anderes einfallen, ich will dieses Adjektiv nicht an mir hängen haben.«
Wieder lachte er und streckte die Hände nach mir aus. Unsicher trat ich einen Schritt näher, sodass wir nur noch etwa eine halbe Armlänge auseinander standen.
»Gut, ich mag deine Haare.« Er griff nach einer der schwarzen Locken und zog sie lang. Ich spürte das sanfte Ziehen auf meiner Kopfhaut. »Ich wollte immer Locken haben, ich mag sie mehr als glatte Haare.«
Sein Arm fiel wieder an seine Seite, ich vermisste die Wärme, die von seiner Hand ausging, an meiner Schläfe. »Jetzt besser?«, fragte Amaliel neugierig.
Mehr als ein Nicken brachte ich nicht heraus. Mit einem Räuspern trat ich wieder von ihm weg und fuhr mir einmal durch die Haare. »Dann hätten wir das Thema ja geklärt.«
{☆}
»Wenn du willst, können wir heute etwas auf Netflix schauen«, schlug ich nach dem Abendessen vor, als ich gerade die Spülmaschine einschaltete.
Amaliel saß noch am Esstisch, den Blick auf den Garten hinter dem Fenster gerichtet. Die Schatten draußen wurden länger, aber noch war es hell. Er wandte mir erst das Gesicht zu, als ich wieder neben ihm stand. Ich wollte schon meine Frage wiederholen, als er den Mund öffnete.
»Weißt du, Eli ... schlecht fand ich die Idee mit den Disney-Filmen gar nicht. Bringt ein bisschen Erinnerungen an früher hoch.« Lächelnd blickte er zu mir hinauf, die Hände auf dem Tisch miteinander verschränkt.
»Und das sagst du auch nicht nur, weil ich die Filme so sehr mag?«, fragte ich unsicher nach. Auf sein Verneinen hin breitete sich auch auf meinem Gesicht ein Grinsen aus.
»Hast du einen Lieblingsfilm?«, fragte ich, als ich schon halb auf dem Weg ins Wohnzimmer war.
»Ich ... früher die Bärenbrüder gemocht, aber ich weiß nicht, ob ich das jetzt noch schauen kann«, sagte Amaliel mit einem Zögern in der Stimme, während er mir folgte.
Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen, worauf er anspielte. »Oh.« Mehr konnte ich nicht sagen, meine Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an. In dem Film verlor Koda seine Mutter – so wie Amaliel seine verloren hatte.
Als ich mich umdrehte, stand Amaliel nur einen Schritt von mir entfernt. »Ist schon okay«, sagte er leise. »Tarzan ich damals auch gemocht, glaube ich.«
»Dann wohl Tarzan.« Schnell suchte ich den Film heraus und legte ihn ein.
Während den ersten Minuten des Films sah Amaliel starr geradeaus auf den Fernseher, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass er irgendetwas davon mitbekam. Besorgt betrachtete ich ihn von der Seite. »Ist wirklich alles okay?«, fragte ich schließlich.
»Ich weiß nicht«, antwortete er. »Es ist ... Manchmal ist es besser, manchmal schlechter. Es hat mich nur daran erinnert ... Meine Mutter hat den Film auch so gemocht.« Er schluckte und wandte mir kurz das Gesicht zu. »Aber morgen ist es wieder besser.«
» Sagst du mir, wenn es nicht so ist?«
Ich wusste, dass es Phasen gab, in denen er seine Mutter so sehr vermisste, dass ich seinen Schmerz durch seine Briefe spüren konnte. Entweder schrieb er mir in diesen Zeiten gar nicht oder übermäßig viel. Und manchmal saß ich an meinem Schreibtisch und weinte über einen Verlust, den ich nie erlitten hatte.
»Vielleicht.« Seine Antwort war kaum zu vernehmen.
»Danke.«
Ohne groß darüber nachzudenken, lehnte ich mich an seine Schulter. Amaliel bewegte sich kaum, drehte nur leicht das Gesicht zu mir. Seine Mundwinkel zuckten, als versuchte er ein Lächeln, bekam es aber nicht ganz zustande.
Mitten im Film lehnte er seinen Kopf an meinen und zog mich mit seinem Arm näher an sich. Wir verblieben so für den Rest desAbends.
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