Kapitel 4

Der nächste Tag lief nach dem gleichen Muster ab wie der Dienstag. Ich stand vor Amaliel auf, weckte ihn und machte uns Frühstück, bei dem er sich zu mir gesellte. Später saßen wir auf der Couch, redeten, spielten Spiele und schauten fernsehen. Es war ruhig und ich hatte das Gefühl, dass wir uns langsam aneinander gewöhnten.

Das Wetter war grau und nicht besonders einladend, die Sonne schien noch weniger als gestern, dafür regnete es zwischendurch. Ich vertraute auf die Wettervorhersage, dass es morgen um einiges besser werden sollte, damit wir endlich aus dem Haus raus und in die Stadt konnten. Amaliel konnte nicht zwei Wochen bei mir verbringen, ohne wenigstens einmal durch die Stadt gelaufen zu sein. Auch wenn sie nicht die schönste war.

Am Donnerstagmorgen kam Amaliel gerade die Treppe nach unten getrottet, als das Wasser für meinen Tee anfing zu kochen. Ich schüttete es in meine Tasse, bevor ich mich zu ihm umdrehte.

»Morgen«, murmelte er mit verschlafener Stimme und fuhr sich mit einer Hand durch die verstrubbelten blonden Haare. Ich wusste nicht, ob er die letzten Nächte besser geschlafen hatte als in der ersten, als ich ihn weinen gehört hatte, aber ich hatte nicht den Mut ihn zu fragen.

»Morgen«, antwortete ich ihm mit einem Lächeln und wandte mich wieder um, bevor ich ihn zu lange betrachtete. Ich zog zwei Schüsseln und Löffel aus dem Schrank, während Amaliel um mich herumging und uns Milch und Cornflakes holte.

»Wollen wir heute in die Stadt?«, fragte ich ihn wenige Minuten später, als wir am Tisch saßen und ich gerade einen Löffel Honig in meinen Tee rührte. Amaliel schüttelte amüsiert den Kopf darüber; er behauptete, dass es überhaupt keinen Unterschied mache, ob nun Honig oder Zucker im Tee war. Damit war er ein paar Stufen auf meiner Sympathieleiter nach unten geklettert.

Auf meine Frage antwortete er erst nach mehreren Sekunden, in denen er nachdenklich auf meine Tasse geschaut hatte. »Klar, irgendwann müssen wir ja auch mal aus deiner Villa raus.« Seine Begeisterung war nicht echt, ich spielte trotzdem mit.

»Sonst versauern wir hier noch. Bereit, den höchsten Kirchturm der Welt zu besteigen? Ich bin nämlich kein guter Touristenführer und habe keine Ahnung, was man hier sonst noch machen kann.« Das stimmte, denn es war noch nie nötig gewesen, dass ich jemanden durch die Stadt führte. Etwas Interessantes würde ich schon finden.

»Ich hatte auch nicht vor, mit dir irgendwelche ätzenden Museen zu besuchen.«

»Manche Museen sind gar nicht so schlimm«, murmelte ich, aber so laut, dass er es noch hören konnte.

Amaliel rümpfte die Nase. »Ich werde trotzdem nie in eins gehen, auch nicht mit dir.«

Ich rollte die Augen. Langweiler.

{☆}

Wir stiegen am Bahnhof wieder aus dem Bus, von hier war es nicht weit bis zum Münster. Amaliel befand sich immer einen Schritt hinter mir, während wir uns durch die Menschen drängten, die an der Haltestelle standen, und an der Bauumgrenzung entlang zur Straße liefen. Ich vertraute darauf, dass er mich nicht verlor, bis wir in der Fußgängerzone ankamen.

An der Ampel trat er schließlich neben mich, die Hände verkrampft an den Seiten. Als wir bei Grün die Straße überquerten, bemerkte ich, wie er sich immer wieder nervös nach rechts und links umschaute.

»Ist alles in Ordnung?« Ich musste mich zurückhalten, um ihn nicht beruhigend am Unterarm zu berühren.

»A-a-a-alles gut.« Frustriert über sein Stottern verzog er den Mund. Es schien ihn so sehr zu frustrieren, dass er mir sofort wieder leidtat.

»Stotterst du, weil du nervös bist oder weil du nicht lügen kannst?«, fragte ich direkt heraus. Mir war aufgefallen, dass er in meiner Gegenwart kaum noch gestottert hatte, da war es seltsam, dass er jetzt weder damit anfing.

Überraschung blitzte in seinem Blick auf, dann wandte er das Gesicht von mir ab. »Sehr lange her, dass i-i-ich in ... einer neuen S-Stadt war. Es ist nur ... ungewohnt für mich«, antwortete er langsam. Ich sah, wie sich seine Hände verkrampften, und wusste, dass er sich gerade für jedes Wort, bei dem er Probleme gehabt hatte, hasste.

»Du brauchst keine Angst haben, außer mir kennt dich niemand. Und wir müssen nicht mehr herkommen, wenn dir hier zu viele Menschen sind«, schlug ich vor und hoffte, dass er sich beruhigte.

»Passt schon, du musst dir keine S-S-Sorgen m-machen.«

Er konnte mich noch immer nicht anschauen und kurzerhand griff ich nach seinem Arm, um ihn nach links in eine Seitengasse zu ziehen, in der außer uns niemand war. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, legte ich meine Arme um ihn.

Amaliel war so groß, dass mein Kopf mitten auf seiner Brust zum Liegen kann und sein Herz direkt unter meinem Ohr schlug. Ein, zwei Sekunden presste ich meine Augen zusammen und hoffte inständig, dass Amaliel nicht zurücktreten und die ganze Situation zwischen uns noch unangenehmer machen würde.

Doch dann spürte ich, wie er seine Arme um mich legte, ganz zaghaft. Er lehnte sich ein Stück nach unten, damit sein Gesicht näher an meinem war. Ich sah ihn nicht, spürte nur seinen Atem sanft an meiner Schläfe entlangstreifen.

»Danke.« Nur ein einfaches Wort, doch ich wusste, dass er es ernst meinte.

Als ich meine Augen öffnete und nach oben schaute, sah ich für einen Augenblick ein Lächeln auf seinen Lippen, bevor er sich wieder von mir löste und einen Schritt nach hinten trat.

»Kein Problem.« Ich wollte etwas anderes sagen, etwas mit tieferer Bedeutung, konnte aber nichts Passendes finden. Deswegen drehte ich mich schnell um und trat zurück in die Fußgängerzone und unter die Menschen, unsere Umarmung hinter mir lassend.

Erst als Amaliel wieder stumm neben mir durch die Straße lief, fiel mir auf, dass das unser erster richtiger Körperkontakt gewesen war. Von kleinen Berührungen im Vorbeigehen und dem Kuss auf seine Hand abgesehen.

Es hatte sich gut angefühlt, ihn so nah bei mir zu haben. Endlich hatte ich das machen können, was ich wollte, seit er am Bahnhof angekommen war. Ihn einfach in die Arme zu schließen und für einige Sekunden zu halten.

Ich wusste nicht, ob es nur eine Wunschvorstellung war, aber es fühlte sich an, als liefe Amaliel jetzt viel entspannter neben mir her.

{☆}

»Und du willst da wirklich hoch?«, fragte Amaliel, als wir auf dem Münsterplatz standen und zur Turmspitze hochschauten.

»Klar, ein wenig Sport kann nicht schaden.« Ich zuckte mit den Schultern und lief auf den Eingang zu, um uns Karten zu kaufen. Er trottete neben mir her und schaute sich immer wieder nach rechts und links auf dem weiten Platz voller Menschen um.

Ich tauschte bei der netten Frau an der Kasse einen 10-Euro-Schein gegen zwei Karten, während Amaliel weiter stumm hinter mir stand. »Hast du Höhen- oder Platzangst?«, fragte ich ihn noch, als wir vor dem Drehkreuz standen. Vielleicht hätte ich das früher in Erfahrung bringen sollen.

»Keins von beidem«, antwortete er zum Glück. Zwar wirkte er immer noch nervös, aber ich hatte das Gefühl, dass es mehr von den Menschen als von der Höhe kam.

»Gut. Die Treppen sind nämlich ziemlich eng. Es ist zwar schon einige Jahre her, dass ich das letzte Mal hier hoch bin, aber daran erinnere ich mich noch. Es gab sogar Stau auf den Treppen, aber da waren mehr Leute unterwegs als heute.«

»Das werde ich schon überleben. Also, wollen wir?« Zum ersten Mal, seit wir losgegangen waren, sah ich ein kleines Lächeln auf seinen Zügen.

{☆}

Ich hörte Amaliel schwer hinter mir atmen, als wir die Stufen vor der letzten Zwischenstation erklommen. Auch meine Atmung war ins Stocken geraten, die über siebenhundert Stufen zogen an keinem unbemerkt vorbei. Der obere Ausgang des engen Treppenhauses kam in Sicht und schnell legte ich die letzten Stufen hinter mich. Langsam hatte ich genug von Wendeltreppen.

Hinter mir trat Amaliel auf die Plattform und schaute sich um. Durch die steinernen Streben auf allen Seiten konnte man Blicke auf Ulm und auch auf Neu-Ulm auf der anderen Seite der Donau erhaschen. Neben dem schmalen Rundweg stieg der Boden in der Mitte nochmal schräg an und eine erneute letzte Wendeltreppe markierte den Mittelpunkt der Ebene.

»Verschnaufpause, bevor wir den Rest machen?«, fragte Amaliel, während er nach oben in die Turmspitze schaute.

»Definitiv.« Ich trat näher an den Rand und schaute nach unten auf den Münsterplatz, auf dem winzige Menschen hin und her liefen. Der Himmel war strahlend blau und nur von wenigen Wolken bevölkert, deren Schatten über die Landschaft zogen.

Amaliel stellte neben mich und legte seine Hände an das Gitter, das zusätzlich als Fallschutz angebracht war. Schweigend sah er auf die Stadt unter uns hinab, während ich stumm sein Seitenprofil betrachtete. Er bemerkte es, doch ich konnte meinen Blick nicht von ihm abwenden.

»Warum hast du Angst vor dem Wasser?« Seine Frage war leise, er schaute mich nicht an, sondern die Stadt, immer nur die Stadt.

Ich brauchte ein paar Sekunden, um eine passende Antwort auf seine unerwartete Frage zu finden. »Ich finde Wasser faszinierend. Es ist wie der Himmel, unendlich, es berührt die ganze Erde, auf der wir leben. Du könntest von den Strömungen getragen werden, überall hin, nach Indien, nach Brasilien, Namibia. Und vielleicht macht mir das Angst. Dass es so unberechenbar ist. In einer Minute kann es ruhig sein, in der nächsten zieht dich eine Strömung nach unten oder eine Welle reißt dich mit. Beim Himmel ist es anders. Er berührt alles, ist immer da. Aber er ist so unendlich weit entfernt, dass man ihn nicht zu fassen bekommt.«

Amaliels ruhiger Blick glitt zu mir. »Das macht alles schon Sinn.« Ergibt Sinn, korrigierte ich ihn in Gedanken. »Und du hast recht, der Himmel ist großartig. « Er lächelte. »Aber warum kannst du dann nicht auch im Schwimmbad schwimmen gehen? Das ist ja etwas ganz anderes als das Meer.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Früher war es noch weniger. Ich schätze, es ist mit der Zeit einfach schlimmer geworden. Aber solange ich noch duschen kann, ist alles gut.«

»Bevor es so schlimm wird, machst du bitte eine Therapie.« Für einen Moment sah er ernsthaft besorgt aus, dann war der Augenblick schon wieder verflogen und er grinste.

»Keine Sorge, das schaffe ich schon.« Ich wandte mich von der Stadt ab und schaute hinauf in die Spitze des Turms. »Wollen wir den Rest noch machen?«

Er nickte und wir setzten uns gleichzeitig in Bewegung, um die letzte Treppe noch zu bezwingen.

Der Ausblick von ganz oben unterschied sich kaum von dem eine Ebene tiefer. Ich schoss dennoch einige Fotos, um sie in meiner Story zu posten. Amaliel schmunzelte darüber und ich versuchte, das A+D zu ignorieren, das in großen Lettern in einen Stein hinter Amaliels Schulter geritzt war.

Wir entschieden uns nach wenigen Minuten spontan für den Abstieg, als eine Gruppe Touristen mit quengelnden Kindern die Ebene erreichte.

Auf der engen Wendeltreppe musste ich mich mit der rechten Hand an der Säule in der Mitte festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren; vor allem, als meine Beine immer mehr zu zittern begangen. Ich spürte, dass ich viel zu wenig Sport betrieb.

Amaliel lief vor mir und einmal passte ich nicht auf, griff zu tief und berührte seine Fingerspitzen mit den meinen. Ich zog meine Hand sofort weg und Amaliel stieg unbeirrt weiter nach unten, doch ich spürte die Berührung noch den gesamten Weg nach unten.

Als wir wieder unten waren, zitterten meine Beine von den ganzen Stufen so sehr, dass ich mich unter Amaliels amüsiertem Lächeln erst einmal ein paar Minuten auf einer Bank setzen musste, bevor wir weiterlaufen konnten.

Wir entschieden uns für ein Eis in einer nahen Eisdiele; Amaliel nahm Vanille, ich dunkle Schokolade und Himbeere. Er war sichtlich unzufrieden darüber, dass ich auch sein Eis bezahlte, aber im Angesicht dessen, dass er kein Geld dabeihatte, hatte er keine andere Wahl.

Als ich schließlich vorschlug, dass wir die Masse an Menschen verlassen und in den Park gehen könnten, hellte sich seine Stimmung wieder auf und er folgte mir bereitwillig das Donau-Ufer entlang.

»Romantisch«, kommentierte Amaliel, als wir auf einem Kiesweg neben dem kleinen See in der Mitte des Parks standen. Einige Kinder beobachteten aus sicherer Ferne zwei Schwäne, etwas weiter weg saßen drei Mädchen auf einer Picknickdecke und einige Paare spazierten auf den Wegen. Mehr war hier im Moment nicht los und ich merkte, wie die Spannung langsam aus Amaliels Schultern wich.

Ich zuckte mit den Schultern. »Hier kann man gut lesen.« Vor allem letzten Sommer war ich öfters hierhergekommen, hatte mich mit einem Buch in den Schatten eines Baumes gesetzt und hin und wieder die Menschen um mich herum beobachtet. Junge Familien, die einen Spaziergang mit ihren Kindern machten, ältere Pärchen, ein Mädchen mit Lippenpiercing und Kopfhörern. »Wollen wir ein wenig laufen?«

Amaliel nickte und folgte mir den Weg am Wasser entlang. Hin und wieder lasen wir eines der Schilder, die am Wegesrand angebracht waren und Informationen zu den Pflanzen gaben, die hier wuchsen.

»Eli, schau mal. Ein Kuchenbaum«, rief Amaliel verzückt aus. Ich hatte nicht gewusst, dass er so klingen konnte. »Die abgefallenen Blätter riechen nach Karamell und Zimt«, las er vor.

»Deswegen wohl Kuchenbaum. Den habe ich noch nicht gekannt.« Ich schaute an dem Baum mit den hellgrünen, fast herzförmigen Blättern empor, der direkt neben dem Fluss stand. Noch roch er nach gar nichts.

»Sieht so aus, als müssten wir im Herbst noch einmal herkommen, um das zu überprüfen.« Diese Aussage überraschte mich. Zum einen, weil Amaliel hier viel lebendiger wirkte als den restlichen Tag. Zum anderen, weil er im Herbst doch gar nicht mehr da war, er blieb schließlich nur zwei Wochen. Bedeutete das, dass er wiederkommen würde? Dass wir uns schon bald wiedersehen konnten?

Ich hatte nicht gewusst, dass ich mir so sehr wünschte, mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Das Verlangen, ihn bei mir zu haben, hatte sich über die letzten sieben Jahre angereichert und jetzt konnte ich nicht genug von seiner Anwesenheit bekommen. Klar, es war noch etwas komisch zwischen uns, aber ich hatte das Gefühl, dass unsere Beziehung – und vor allem Amaliel – auftauten.

»Vielleicht«, antwortete ich ihm, mit den Gedanken noch ganz wo anders. Er bemerkte es und warf mir einen undeutbaren Blick zu, sagte aber nichts weiter. Vielleicht hatte er seine eigene Wortwahl bemerkt.

Wir liefen weiter, immer den Weg lang. Ich wusste selbst nicht genau, wo wir am Ende ankommen würden, ich wusste nur, dass Amaliels Hand manchmal meinen Unterarm und seine Fingerspitzen meinen Handrücken streiften, während er neben mir herlief. Vielleicht bemerkte er die fast beiläufigen Berührungen gar nicht. Aber ich konnte nicht verhindern, dass mein Atem jedes Mal stockte.

Ich wusste, ich sollte mich nicht in meinen Brieffreund verlieben, das war keine gute Idee. Aber was jetzt passierte, bestätigte nur die Vermutung, die ich schon während der letzten Monate gehabt hatte. Dass ich ein paar Gefühle entwickelt hatte, die über die eines normalen Freundes hinausgingen. Und das konnte nicht gut enden.

{☆}

»Heute war ein komischer Tag«, befand ich, als ich zuhause die Tür hinter uns zuzog. Bis ich meinen Schlüssel aufgehängt und meine Schuhe ausgezogen hatte, war Amaliel schon im Wohnzimmer verschwunden. Ich folgte ihm und blieb im Türrahmen stehen.

Er hatte sich auf die Kante der Couch gesetzt und zuckte mit den Schultern, als ich ihn ansah. »Lag wohl an mir.«

Ich biss mir auf die Lippe und konnte ihm nicht mehr in die Augen schauen. »Sagen wir, es war eine Mischung aus uns beiden. Aber ich habe einfach keine Ahnung, was ich mit dir machen soll.« Langsam näherte ich mich ihm.

»Was, du hast dir nicht stundenlang den Kopf darüber zerbrochen, als ich mich angekündigt habe?« Theatralisch drückte er sich eine Hand aufs Herz und ließ sich rücklings auf die Couch fallen.

»Nein. Hätte ich?«, fragte ich ihn amüsiert und stützte meine Unterarme auf der Rückenlehne ab, um von oben auf sein Gesicht schauen zu können. Ein paar blonde Strähnen waren ihm in die Stirn gefallen, konnten mich aber nicht von seinem Grübchenlächeln ablenken, gerade so echt wirkte wie an noch keinem Tag zuvor.

»Vielleicht. Aber dafür ist das hier doch da, damit wir uns kennenlernen können, oder? Und wenn wir nur hier herumsitzen, lernen wir nicht alle Seiten am anderen kennen.« Schon wieder war da diese Unsicherheit in seinem Blick, die etwas in meinem Herzen schmelzen ließ.

»Klar«, antwortete ich und setzte schnell noch etwas hinterher. »Also, welche Seite von mir möchtest du als nächstes kennenlernen?«

»Deinen Filmgeschmack?«, schlug er vor und sah unschuldig zu mir auf.

»Das bedeutet übersetzt, dass du heute rein gar nichts mehr machen, sondern einfach weiter hier liegen und Filme schauen möchtest?« Ein Grinsen hatte sich auf mein Gesicht geschlichen, Amaliel erwiderte es. »Und wer macht dann unser Essen?«

»Ich bewege mich heute nicht mehr von dieser Couch runter, aber du stehst ja noch, da kannst du auch in die Küche gehen.« Er warf mir einen herausfordernden Blick zu.

»Du weißt schon, dass du ziemlich schlechte Karten hast, wenn ich jetzt spucke?« Schnell drehte er sich zur Seite und brachte mich zum Lachen.

»Immer wird die Frau in die Küche geschickt«, murmelte ich, als ich mich umdrehte und ihn zurückließ.

»Genau, Delia.« Sein Lachen folgte mir, bis ich in der Küche verschwunden war.

»Was hätte der Herr denn gern serviert?«, rief ich über meine Schulter und strich mir die schwarzen Locken aus der Stirn, während ich in unseren Kühlschrank schaute.

»Ein fettes Steak, und das am besten schon vor fünf Minuten«, bestimmte er, seine Stimme viel näher als vermutet. Er stand im Esszimmer und trat noch einen Schritt näher, als ich mich zu ihm umdrehte.

Angeekelt verzog ich das Gesicht. »Fleisch ist ekelhaft. Das habe ich dir schon erzählt.«

»Und dass dein Vater dir nicht erlaubt, Vegetarier zu werden. Ich weiß.« Er stellte sich neben mich und schloss den Kühlschrank, den ich ganz vergessen hatte. »Deswegen habe ich auch nur Spaß gemacht.«

Seine Stimme war viel leiser geworden und er schaute mich extra lange aus seinen hellen braunen Augen an, bevor er sich abwandte und wieder zurücktrat.

»Ich weiß«, antwortete ich schwach, etwas verwirrt von seiner ungewohnten Nähe. »Und weil mein Vater die beiden Wochen nicht da sein wird, mache ich nichts mit Fleisch, auch nicht für dich.«

»Ist vielleicht auch besser so.« Er zuckte mit den Schultern. »Zeig mir deine Kochkünste.«

Am Ende bestanden meine ,,Kochkünste" darin, dass ich Frühlingsrollen auftaute und in den Backofen steckte. Zu mehr hatte ich keine Lust. Amaliels sich selbst aufgetragene Aufgabe bestand darin, eine Chipstüte gleichmäßig auf zwei Schüsseln zu verteilen. Er meisterte sie mit Bravour und stellte die Chips auf den Wohnzimmertisch.

»Also, was wollen wir schauen?«, fragte er mich, als ich mit den Frühlingsrollen auf zwei Tellern zu ihm kam, und lehnte sich auf der Couch zurück.

»Jetzt hast du endlich Zugang zu Netflix und hast dir noch nichts ausgesucht?«

»Ich habe mir gedacht, dass ich heute mal den Gastgeber aussuchen lasse.« Er zuckte mit den Schultern und schaute mich abwartend an.

»Und du schaust alles, was ich will? Nur zur Sicherheit.«

»Keine kitschige Romanze, bitte.«

Ich musste lachen bei seinem verzogenen Gesicht und ging auf den dunklen Holzschrank neben dem Fernseher zu. »Keine Sorge, Mali.«

»Was machst du?« Er war mir gefolgt und lugte über meine Schulter. Sein Atem strich über meine Wange und mein Griff um die Schranktür verkrampfte sich.

»Nicht dein Ernst«, rief er aus, als er die Filme sah, die aufgereiht auf einem Regalbrett standen. »Da habe ich einmal Zugang zu Netflix und du holst die Disney-Filme raus.«

»Du hast es mir erlaubt, also ertrage es. Wir haben noch genug Tage, um Netflix zu schauen. Aber niemand aus meiner Familie will mehr mit mir Disney-Filme schauen, deswegen muss ich mir ein neues Opfer suchen.« Lächelnd drehte ich mich zu ihm um. Amaliel bemerkte jetzt wohl auch, wie nah er mir war, denn er trat schnell einen Schritt zurück.

»Gut«, gab er nach und warf noch einen prüfenden Blick auf die Filme, »aber nimm bitte einen ohne eine dieser grausamen Romanzen.«

»Ich habe es schon verstanden«, meinte ich grinsend, als er sich wieder von mir entfernte und auf die Couch fallen ließ. Schnell riss ich meinen Blick von ihm los, bevor er noch sah, wie ich jede seiner Bewegungen betrachtete. Ich sollte verdammt nochmal damit aufhören, dabei würde nichts Gutes rauskommen.

»Wofür hast du dich entschieden?«, fragte Amaliel, den Mund voll mit Frühlingsrolle, nachdem ich die Disc eingelegt hatte.

»Während man isst, spricht man nicht, danke.« Ich hielt ihm die Hülle vors Gesicht und setzte mich neben ihm.

Er rollte belustigt mit den Augen. »Ich habe gewusst, dass du König der Löwen nimmst, das passt so gut zu dir.« Wissend grinste er mich an. »Dann starte mal den Film, Simba.«

{☆}

»Warum magst du Disneyfilme so?«, fragte er unvermittelt, als Simba und Nala gerade den Elefantenfriedhof fanden und von den Hyänen verfolgt wurden.

»Sie erinnern mich daran, wie es als Kind war. Und dieser hier speziell an dich, als wir uns das erste Mal getroffen haben.«

Das war in den Sommerferien 2012, als wir beide in Fredericia in Dänemark im Urlaub gewesen waren. Wir hatten uns am ersten Tag auf dem Spielplatz getroffen. Ich war das einzige Kind, das mit ihm hatte spielen wollen, alle anderen hatte sein Stottern abgeschreckt. Er hatte sich so gefreut, dass er sich die ganze Zeit an mich gehängt hatte.

Amaliels Mutter stammte ursprünglich aus Fredericia und wollte ihre Heimatstadt ihren Kindern zeigen.

Am Ende des Urlaubs waren Amaliel und ich uns so nahegekommen, dass wir am letzten Tag heimlich unsere Adressen ausgetauscht hatten, damit wir uns Briefe schreiben konnte. Wir waren beide erst zehn Jahre alt gewesen, niemand hätte ahnen können, dass es so lange halten würde.

»Du meinst dieses hässliche Löwen-Kuscheltier, das du überall dabei hattest?« Seine Mundwinkel zuckten amüsiert.

Entsetzt sah ich ihn an, die Augen aufgerissen. »Simba ist doch nicht hässlich.« Da fiel mir etwas ein. »Warte, ich habe ihn sogar noch.«

Ich sprang auf und rannte beinahe die Stufen inden ersten Stock hoch. Amaliels amüsiertes Lachen folgte mir bis in mein Zimmer, wo ich mich auf die Suche nach meinem Kuscheltier begab.


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