Kapitel 35
»Gibt es eigentlich irgendetwas, das ich wissen sollte?«, fragte Amaliel am nächsten Morgen, als wir noch im Bett lagen. Wir waren schon eine Weile wach, aber keiner wollte sich mehr bewegen als nötig.
Ich runzelte die Stirn. »Was meinst du?«
»Bezogen auf Weihnachten. Ob du mit deiner Familie etwas Besonderes machst oder ob es etwas Wichtiges gibt, das ich wissen sollte.«
»Hm.« Ich drehte mich ein wenig zur Seite und wandte den Blick gen Decke. »Es gibt jedes Jahr Raclette zu Weihnachten, aber das habe ich dir sicher schonmal erzählt. Und sonst ... wir haben noch diese große Spielerunde an Heiligabend vor dem Essen, an der alle mitmachen müssen.«
»Oh, das klingt schön. Ist ewig her, dass ich das das letzte Mal gemacht habe. Sind das dann ganz klassische Gesellschaftsspiele, Mensch ärgere dich nicht und so, oder was Neueres, das ich nicht kenne?« Ehrliches Interesse schwang aus seiner Stimme.
»Es ist mehr Ersteres, aber für Vorschläge sind wir immer offen. Und ein Tipp: Du darfst dich nicht von meinem Cousin zum Schach überreden lassen. Er ist gerade mal zehn, aber ziemlich talentiert in Schach.« Ich könnte Amaliel noch einiges mehr erzählen, wusste aber nicht, ob er schon alles über meiner Familie wissen wollte.
Er lachte auf, gleichzeitig spürte ich, wie seine Hand sich in meine Locken schob. »Das werde ich mir merken. Ich bin schon gespannt auf deine restliche Familie«, ergänzte er.
»Wirklich?« Ich drehte den Kopf wieder in seine Richtung. »Von meiner Oma hast du ja schon viel gehört, sie ist echt supernett. Mein Onkel, also ihr Sohn, ist gerade mal Mitte zwanzig und eigentlich ziemlich cool. Er war ewig nicht mehr da. Dann kommen eigentlich nur noch die Schwester meines Vaters mit ihrem Mann und ihre beiden Kinder. Und David.«
»Das sind schon einige«, antwortete er leise und ließ den Kopf tiefer in die Kissen sinken.
»Du brauchst keine Angst haben«, sagte ich und merkte im gleichen Moment, was sein Problem war. Er hatte Angst. »Es ist wirklich alles okay. Wenn es dir zu viel wird, können wir ja immer noch in mein Zimmer gehen.«
»Du bist echt der tollste Mensch der Welt«, murmelte er und versteckte sogleich seinen Kopf halb unter der Decke.
Lachend zog ich sie ihm wieder runter und schlang meine Arme um seinen Oberkörper. »Du bist auch toll«, behauptete ich und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
Er verzog das Gesicht und küsste mich stattdessen richtig. »Ich fühle mich gleich viel besser«, meinte er und ich spürte, dass er es ernst meinte.
Warum konnte nicht jeder Morgen so beginnen?
»Was steht heute noch an?«, fragte Amaliel, nachdem wir es endlich geschafft hatten, aus dem Bett zu kriechen und uns nach unten ins Esszimmer zu begeben. In seinen Händen hielt er eine Kaffeetasse, während in meiner mein heißer Tee darauf wartete, getrunken zu werden.
Ich zuckte mit den Schultern, »Heute wäre der letzte Tag Weihnachtsmarkt, aber dann sind immer so viele Menschen da, dass ich nicht hinwill. Und ich war schon zweimal dieses Jahr.«
»Keine Sorge, ich war zuhause auch schon. Das reicht mir«, meinte er mit einem Lachen.
»Ihr könnt den Weihnachtsbaum aufstellen und dekorieren«, schlug meine Mutter vor, die gerade das Esszimmer betrat und unser Gespräch wohl mit angehört hatte.
»Jetzt weiß ich endlich, was mich hier die ganze Zeit gestört hat«, rief Amaliel. »Euer Weihnachtsbaum steht noch gar nicht. Seid ihr immer so spät dran?«
»Irgendwie schon«, gab ich zu. »Der liegt jetzt schon eine Weile auf der Terrasse, aber niemand hat sich die Mühe gemacht, ihn aufzustellen.«
»Gut, dann ist das wohl unser Plan.« Amaliel grinste und trank einen letzten Schluck aus seiner Kaffeetasse, bevor er sie in die Küche brachte.
Seufzend schloss ich mich ihm an und gemeinsam verbrachten wir die nächste Stunde damit, den Baum aufzustellen und mit schönen roten Kugeln, Lichterketten und allen möglichen bunten Anhängern zu schmücken.
Am Ende sah er nicht wirklich anders aus als in allen anderen Jahren auch, aber es fühlte sich besonders an, weil ich ihn zusammen mit Amaliel dekoriert hatte. Als wir fertig waren, trat Amaliel hinter mich und legte seine Arme um mich. Ich biss mir auf die Lippe, um mein Lächeln zurückzuhalten.
»Das haben wir gut gemacht, oder?«, fragte er und stützte sein Kinn auf meinem Kopf ab.
»Es sieht okay aus«, meinte ich. »Aber ganz oben hättest du das schon schöner aufhängen können.«
Gespielt genervt seufzte er und ließ mich wieder los. »Ich frag dich nie wieder nach deiner Meinung.«
»Damit kann ich leben.«
Wir verbrachten den restlichen Tag damit, noch mehr Weihnachtsdeko auszukramen und im Haus aufzustellen, weil wir irgendeine Beschäftigung brauchten, um uns nicht wieder in meinem Zimmer zu verkriechen und nichts anderes auszutauschen als Küsse und leise Worte.
Natürlich war daran nichts verwerflich, aber es fühlte sich irgendwie komisch an, wenn meine Mutter zeitgleich im Haus war. Und wir hatten heute Nacht noch genug Zeit dafür.
Amaliel deckte den Tisch, als ich meiner Mutter half, das Abendessen vorzubereiten. Heute Abend würden wir nur zu dritt essen, da mein Vater noch arbeitete. Wie durch ein Wunder hatte er an Heiligabend freibekommen, dafür fühlte es sich an, als wäre er in den Wochen davor kaum zuhause, nur um diesen einen Tag nicht arbeiten zu müssen.
Das Abendessen war entspannt. Es tat gut, noch etwas Ruhe mit Amaliel und meiner Mutter zu haben, bevor in zwei Tagen hier das Chaos herrschte und alle aufgeregt herumwuselten.
Sie fragte Amaliel interessiert, wie es ihm in den letzten Monaten so ergangen war und was er gerade machte, hakte aber nicht weiter nach, wenn er ausweichend antwortete, wofür ich sie hätte drücken können. Sie schien ihn zu mögen und ich konnte mich nicht glücklicher schätzen.
Zusammen schafften wir es auch, Amaliel zu einem weiteren Film zu überreden, diesmal Merida.
»Ich mach das nur, weil du es bist«, flüsterte er nah an meinem Ohr, während vor uns auf dem Bildschirm Merida und ihre Mutter Fische fingen.
»Und weil die drei Bärchen knuffig sind«, entgegnete ich und wandte mein Gesicht ihm zu. Er hatte einen Arm um mich geschlungen, irgendwann in der Mitte des Films, ganz still und heimlich, auch wenn ich mir sicher war, dass meine Mutter es gesehen hatte.
»Vielleicht. Aber wer will schon diese Bärchen, wenn ich dich haben kann?«
Meine Mutter hustete leise und brachte uns damit ganz schnell wieder in die Realität zurück. Amaliels Wangen färbten sich rot und er senkte peinlich berührt den Kopf. Ich drückte mich näher an ihn und wandte mich wieder Merida zu.
Irgendwann gegen Ende des Films kehrte mein Vater zurück und ich spürte, wie Amaliel ein Stück von mir abrückte, aber sogleich seine Finger mit meinen verschränkte. Ich sagte nichts.
Mein Vater begrüßte uns kurz, verschwand dann aber nach oben, um schlafen zu gehen, und niemand hielt ihn auf. Da meine Mutter eingenickt war und ich sie nicht wecken wollte, schaltete ich leise das Licht und den Fernseher aus, als der Film zu Ende war, und verschwand mit Amaliel nach oben.
»Heute war schön«, meinte er, als er sich wenig später fertig umgezogen auf mein Bett fallen ließ. Seinen Hoodie hatte er wieder über das T-Shirt angezogen, da es recht kühl in meinem Zimmer war.
»Auch wenn wir eigentlich nichts gemacht haben?«, fragte ich und setzte mich neben ihn.
»Gerade deswegen.« Er schien unzufrieden damit, dass ich so weit von ihm entfernt war, und zog mich an meinem Ärmel zu ihm herunter. Ich fiel neben ihn auf die Matratze, so nah, dass unsere Nasenspitzen sich fast berührten.
»Ich muss noch das Licht ausmachen«, flüsterte ich gegen seine Lippen, die schon fast auf meinen lagen. Bevor er protestieren konnte, rollte ich mich schon von ihm weg und stand auf. Wenn er mich jetzt geküsst hätte, hätte ich es die nächsten paar Minuten nicht mehr geschafft aufzustehen. Oder Stunden.
Kaum war es dunkel, richtete Amaliel sich wieder auf und zog sich den Hoodie über den Kopf. Im fahlen Licht der Straßenlaterne, die draußen vor meinem Fenster schien, sah ich, wie sein T-Shirt dabei ein Stück hochrutschte und einen Streifen Haut freigab, und wandte schnell den Blick ab.
»Und was machen wir morgen?«, fragte er, nachdem er das Kleidungsstück achtlos auf den Boden geschmissen hatte.
»Nicht mehr als heute. Die Party steigt hier erst am Dienstag.« Ich zuckte die Schultern und legte mich wieder neben ihn, um mich unter die warme Decke zu kuscheln.
»Heiligabend an einem Dienstag. Wer hat sich das bitte ausgedacht?«, beklagte er sich.
Ich lachte leise. »Naja, ich wurde nicht an dem Tag geboren, da musst du dich schon bei jemand anderem beschweren.«
»Besser werde ich an Weihnachten geboren als an 9/11. Bin gerade rechtzeitig auf die Welt gekommen, um die Twin Towers fallen zu sehen.« Ich hörte eine Bitterkeit in seiner Stimme, die ich sonst nicht von ihm kannte.
»Darüber macht man keine Witze«, murmelte ich und rückte näher an ihn heran, um ihm Trost zu spenden.
»Sorry«, antwortete er und legte seine Arme fest um meinen Oberkörper. »Es nervt mich nur manchmal, dass ich mir echt den schlimmsten Tag für meine Geburt ausgesucht habe.«
Ich hob meine Hand und strich sanft über seinen Oberarm. »Der fünfundzwanzigste Mai ist der Internationale Tag der vermissten Kinder.«
Amaliel riss die Augen auf. »Nein. Nein, sag, dass das nicht wahr ist«, rief er aus und unterdrückte ein Lachen.
»Es stimmt. Finde mal einen Tag, der besser zu unserer Geschichte passt als dieser.« Ich hatte erst letztens herausgefunden, dass dieser Tag auf meinen Geburtstag fiel und sofort an Amaliel gedacht. Es war schon ein gewaltiger Zufall.
»Es gibt keinen«, flüsterte Amaliel, plötzlich wieder ganz nah an meinen Lippen. »Du hast dir den perfekten Tag ausgesucht.«
Ich schmolz in seinen Kuss und presste mich enger an meinen Freund, um keine seiner Bewegungen zu verpassen. Seine Hand rutschte in meinen Nacken, während meine auf seinem Oberarm liegen blieb.
Als er sich wieder von mir löste, war ich noch lange nicht bereit dafür, ließ ihn aber gewähren.
»Können wir Weihnachten nicht einfach zu zweit feiern? Ich mag nicht, dass so viele Menschen kommen«, murrte er und vergrub das Gesicht in meiner Halsbeuge.
Ich strich ihm über den Rücken. »Es wird okay. Dieses Weihnachten wird sowieso chaotisch, wenn David auch noch kommt. Da wird niemand mehr Augen für dich haben.«
»Außer dir natürlich.«
Wärme durchflutete meine Venen und breitete sich in meinem Körper aus bei seinen Worten. »Außer mir. Ich werde immer Augen für dich haben.«
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