Kapitel 33
Ich würde es nie zugeben, aber ich hatte tatsächlich einen Countdown gestartet, bis ich Amaliel endlich wiedersehen würde.
Der Brief war am Tag vor Halloween angekommen, von da an waren es noch vierundfünfzig Tage. Aber das Datum, das Amaliel oben in den Briefkopf geschrieben hatte, war zwei Tage älter. Da waren es noch sechsundfünfzig Tage gewesen. Nicht dass das wichtig gewesen wäre.
Die Vorstellung, endlich wieder mit ihm zusammen sein zu können, war noch so unwirklich, dass ich noch weitere zwei Tage wartete, bis ich meiner Mutter davon erzählte. Jetzt waren es noch zweiundfünfzig Tage.
In der folgenden Woche war ich in der Schule unkonzentriert, weil meine Gedanken sich nur noch um Amaliel drehten. In die Ecken meiner Arbeitsblätter schrieb ich die Anzahl der Tage, bis er bei mir war. Neunundvierzig, sechsundvierzig ...
Irgendwann war ich selbst genervt von meiner Vorfreude und steckte all meine Energie in das Backen von Plätzchen und Kuchen und Kürbis-Pies.
Ich machte Spaziergänge mit Mary und sammelte Kastanien und bunte Blätter, aus denen wir Figuren bastelten wie damals als Kinder. Ich schrieb erste Klausuren und lernte den Freund meiner Mutter besser kennen. Er strickte gerne, was ihn mir irgendwie sympathisch machte.
Abends saß ich hingegen oft auf meinem Bett und las entweder oder ich schrieb oder telefonierte mit Amaliel. Heute war es die erste Option geworden, da ich von meinem Freund den ganzen Tag noch nichts gehört hatte.
Ich gähnte herzhaft und stand auf, um das Licht auszuschalten und schlafen zu gehen. Es war Freitagnacht, aber Schule war anstrengend gewesen heute und ich zu müde, um noch länger wach zu bleiben.
Just in dem Moment klingelte mein Handy neben mir. Amaliel. Ich lächelte. Wie schaffte er es immer, mich genau dann zu erwischen, wenn ich schlafen gehen wollte?
Ich setzte mich im Schneidersitz auf mein Bett und nahm den Videoanruf an, in Erwartung seines fröhlichen Gesichts. Stattdessen begrüßten mich nervös umherhuschende Augen und zerzauste Haare, als hätte Amaliel in den letzten Stunden permanent an seinen Strähnen gezogen.
Sofort setzte ich mich aufrechter hin und umklammerte das Handy in meinen Händen. »Mali, was ist los?«
Seine Augen fanden meine durch den Bildschirm und seine hochgezogenen Schultern senkten sich ein Stück. »Delian.« Er atmete aus und lehnte sich hinter sich an die Wand. »Es tut so gut, deine Stimme zu hören.«
Er antwortete nicht auf meine Frage, auch nicht, als ich noch ein paar Sekunden nichts sagte. »Ich habe gelesen, dass es in den nächsten Tagen Sternschnuppen geben soll«, schnitt ich ein Thema an, das ihn interessieren sollte, falls er Ablenkung von etwas brauchte.
»Wusstest du, dass der Fachbegriff für Sternschnuppe Meteor ist?« Er bemühte sich um einen neckenden Ton und ich lachte leise.
»Bitte entschuldige, Herr Meteorologe. Ich bin nur ein ungebildeter Erdenbürger.« Ich rollte gespielt mit den Augen, beobachtete Amaliel aber immer noch viel zu genau, um entspannen zu können.
Er lächelte schwach. »Ich weiß von dem Meteorschauer, ja. Die Leoniden.«
»Wollen wir sie uns gemeinsam anschauen?«, fragte ich das, worauf ich die ganze Zeit hinausgewollt hatte. Nachdem unsere Beobachtung der Ste– der Meteoren im August schon nicht geklappt hatte, weil wir sie beide irgendwie vergessen hatten, wollte ich diese Möglichkeit nicht auch noch verpassen.
»Die Idee klingt wundervoll«, murmelte Amaliel und schaute über den Rand seines Handys hinweg in sein schwach erleuchtetes Zimmer. Das einzige Licht war das seiner Nachttischlampe, die manchmal grell leuchtend am rechten Bildschirmrand auftauchte. »Dann muss nur das Wetter bei uns beiden mitspielen.«
»Ich werde Regentänze durchführen. Oder wohl eher Regenvertreibungstänze.«
Das brachte Amaliel zum Lachen und mein Herz hüpfte erfreut. »Bitte mach ein Video davon.«
»Nur weil du es bist.« Ich lehnte mich zurück an meine Wand und betrachtete meinen Freund durch die Kamera. Er sah irgendwie müde aus, auch wenn der verschreckte Ausdruck von vor wenigen Minuten einem leichten Lächeln gewichen war.
Irgendetwas war heute vorgefallen und ich wüsste nur zu gerne, was es war, aber ich konnte und wollte ihn nicht drängen. Wenn er bereit war, würde er mir davon erzählen.
Ich strich mir einige Haarsträhnen zurück, als Amaliel stutzte. »Was ist denn das? Da, an deinem Finger.«
Verdutzt hob ich erneut meine Hand reckte den Daumen in die Höhe. »Ein Pflaster?«
»Was hast du gemacht?« Er beugte sich vor, als könnte er dadurch erkennen, woran ich mich verletzt hatte, was ich unglaublich amüsant fand.
Ich zuckte mit den Schultern. »Nur an einem heißen Blech verbrannt.«
Er riss die Augen auf. »Du meinst, du, der große Bäcker, hat sich an etwas Profanem wie einem Blech verbrannt?«
»Profan? Amaliel, seit wann verwendest du solche Worte?« Ich lachte. »Und außerdem –«
»Ich weiß.« Er winkte ab. »Groß war vielleicht etwas übertrieben.«
»Autsch. Außerdem passiert das dauernd. Der Finger ist noch dran, also ist doch alles gut.«
»Hm. Wenn ich jetzt bei dir wäre, würde ich ihn natürlich gesund küssen.« Sanft lächelte er und schaute wieder auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne.
»Danke«, murmelte ich und betrachtete ihn nachdenklich. Er suchte Ablenkung in dem Gespräch mit mir, aber langsam gingen mir die Themen aus, von denen ich ihm erzählen konnte.
Wir schwiegen eine Weile, ich studierte seine feinen Gesichtszüge und wartete darauf, dass er ein neues Thema anschnitt.
»Heute ist alles scheiße«, seufzte er schließlich und ließ seinen Kopf nach hinten gegen die Wand fallen.
»Warum?«, fragte ich leise.
»Ich weiß es nicht. Den ganzen Tag bin ich schon so ... aufgekratzt und ... ich ertrage keine Berührungen.« Gegen Ende sprach er so leise, dass ich ihn kaum noch verstand. »Ich weiß nicht, woran es liegt, aber heute war einfach alles beschissen.«
»Manchmal gibt es solche Tage einfach. Dafür braucht es keinen Grund. Und es ist okay, dass es einem nicht jeden Tag gut geht.«
»Das sagst du so einfach«, murmelte er. »Aber du hast mich heute nicht erlebt.«
»Dann erzähl mir von heute. Und ich höre dir zu«, bot ich ihm an. Ich schlug mir meine Decke um die Beine und lächelte Amaliel aufmunternd zu.
Er schwieg einige Herzschläge lang und ich merkte, wie die Unruhe in seine Bewegungen zurückkehrte. Vielleicht war es doch nicht die beste Idee gewesen, ihn alles Revue passieren zu lassen.
»Ich bin Bus gefahren. Er war relativ voll und das war okay. Aber dann hat mich diese Frau mit ihrer Hand an der Hüfte berührt, ganz aus Versehen.« Er schluckte. »Und dann musste ich an der nächsten Station raus, weil da plötzlich zu viele Menschen waren, zu viel körperliche Nähe. Und seitdem halte ich es nicht aus, auch nur in der Nähe von anderen Menschen zu sein.«
Er presste fest die Lippen aufeinander und meine Eingeweide zogen sich schmerzhaft zusammen, weil es nichts gab, mit dem ich ihm helfen konnte.
»Ich hab Cara vorhin beinahe ihren Kaffee aus den Händen geschlagen, weil ich so schreckhaft bin. Ich will das nicht mehr.«
»Das verstehe ich, Mali. Und ich wünschte, ich könnte dir diese Last irgendwie abnehmen.« Er war so weit weg, ich wollte ihn doch nur in meiner Nähe wissen. Dann hätte ich wenigstens das Gefühl, ihn irgendwie beschützen zu können.
»Es hilft schon, dass wir miteinander reden«, sagte er mit einem kleinen Lächeln. »Sich alles von der Seele reden – vor allem, dir davon zu erzählen –, hilft immer.«
»Das ist gut. Mir hilft es übrigens auch. Ich weiß, bei dir sind meine Gedanken und Geheimnisse sicher.«
Er lachte leise und seine angespannten Schultern sanken herab. »Das ist gut. Wie viele Tage sind es noch, bis wir uns wiedersehen? Ich würde dich jetzt gerne küssen.«
»Fünfundvierzig Tage«, antwortete ich ohne nachzudenken und wurde ob seines letzten Satzes rot.
Überrascht hob er eine Augenbraue. »Du hast wirklich einen Countdown gestartet. Gut zu wissen.« Er lächelte wieder und ich sah seine Grübchen. »Dann mach dir bitte noch einen zweiten; acht Tage bis zum Meteorschauer.«
Ich nickte hastig. »Auf jeden Fall. Es wäre ja peinlich, wenn wir zweimal Sternschnuppen verpassen würden.«
{☆}
Keiner von uns vergaß den Meteorschauer – die Leoniden, wie Amaliel gesagt hatte. Der Höhepunkt des Sternenregens sollte weit nach Mitternacht liegen, also stellten wir uns beide einen Wecker, um mitten in der Nacht aufzustehen.
Die Idee war verrückt und ich bereute sie in der Sekunde, in der mein Wecker mich aus dem Schlaf holte. Aber als ich Amaliels grinsendes Gesicht im Bildschirm meines Handys sah, machte es das fast wieder wett.
Dick eingepackt stellte ich mich nach draußen hinter das Haus, um weniger vom Licht der Straßenlaternen und der vorbeifahrenden Autos gestört zu werden. Amaliel lief sogar einige Straßen weiter, um die Sterne besser beobachten zu können.
Am Ende blieben wir etwa eine Stunde draußen, redeten leise miteinander und entdeckten tatsächlich den ein oder anderen glühenden Sternenschweif. Amaliels Augen leuchteten jedes Mal auf und er bestand darauf, dass wir uns zu jeder Sternschnuppe etwas wünschten. Nur schaute ich viel öfter zu ihm als zum Himmel.
Als ich meine Zehen kaum mehr spürte, machte ichmich auf den Weg zurück nach drinnen und ließ eine Nacht voll Meteoren undunausgesprochenen Wünschen hinter mir.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top