Kapitel 32
»Machst du was an Halloween?«, fragte Amaliel.
Ich hatte mein Handy in der Küche meiner Oma an die Wand gelehnt und wechselte immer wieder zwischen dem Videoanruf und dem Rezept hin und her. Eigentlich konnte ich es auswendig, aber ich wollte auf Nummer sicher gehen, dass alle Mengenangaben richtig waren.
»Du meinst, außer alle möglichen Dinge backen?« Ich zeigte auf den Teig, den ich gerade aus der Schüssel genommen hatte, um ihn auf dem Backblech auszurollen.
Noch war es über eine Woche bis dahin, doch ich hatte schon geplant, Amaliel heute anzurufen und vor seinen Augen zu backen. Inzwischen wusste ich, wie neidisch es ihn machte, mir nur dabei zusehen und nichts probieren zu können.
»Du bringst mich noch um damit«, murrte er und legte das Kinn auf seinen Unterarmen ab. Er hatte das Handy auf dem Esstisch abgestellt, hinter seinem Kopf sah ich dunkle Wolken durch das Fenster. »Wenn ich dich mal besuchen komme, musst du mir all die Dinge backen, die ich mir wünsche.«
»Natürlich«, antwortete ich und nickte ernst. »Und dann werde ich dich mästen, bis du rund bist wie ein Ball, und dich in meinen Ofen schieben, um dich zu verspeisen.«
»Du bist Vegetarier, Delian. Damit kannst du mir nicht drohen.« Dann runzelte er die Stirn. »Aber es wäre mir doch lieber, wenn du kein Lebkuchenhäuschen backen würdest.«
»Ist notiert.« Ich drehte das Blech ein Stück, um auch die letzte Ecke gleichmäßig mit Teig füllen zu können. »Was vernaschst du denn am liebsten?«
»Ich glaube, du stellst die Frage falsch. Die Antwort bist nämlich du.«
»Vielleicht hatte ich ja genau darauf abgezielt.« Ich grinste und begann, meinen Kuchen mit Zwetschgen zu belegen, um von meinen geröteten Wangen abzulenken. Es waren wohl die letzten Zwetschgen für dieses Jahr gewesen und ich war froh, noch einen Kuchen damit backen zu können.
Amaliel lachte. »Dann muss ich dich leider enttäuschen, für Telefonsex bin ich nicht zu haben.«
Ich prustete los und ließ beinahe eine Zwetschge auf den Boden fallen. »Das ist nun wirklich schade. Vor allem, weil die Küche auch eine so gute Location dafür ist.«
»Wir wollen deinen tollen Kuchen auch nicht zerstören.« Er wirkte vollkommen ernst und ich musste mich zurückhalten, um nicht wieder zu lachen. »Ich würde ja nach dem Rezept fragen, aber da ich weiß, dass bei mir zuhause niemand backen kann, lasse ich das lieber.«
»Bei dem Kuchen kannst du kaum was falsch machen«, meinte ich mit einem Schulterzucken und bewegte mich kurz aus Amaliels Bild, um meine Hände zu waschen. »Siehst du? Es fehlen nur noch die Streusel und dann bin ich fertig.«
»Bei dir sieht das auch leicht aus«, murrte er und setzte sich wieder ein Stück weit auf. Dabei fiel mir etwas an seinem rechten Handgelenk auf.
»Du hast es noch?«, fragte ich erstaunt und deutete auf mein eigenes Handgelenk, um ihm verständlich zu machen, was ich meinte.
»Natürlich.« Amaliels Finger fanden das dunkelrote Armband wie von selbst und kurz wirkte er verlegen. »Es hat mich nie gestört und es erinnert mich an dich, also warum sollte ich es ausziehen?«
Wärme ergriff mein Herz und schnell wandte ich mich wieder meiner Schüssel zu, um die passende Menge Zucker abzumessen und zum Rest der Zutaten zu schütten.
Es war nur ein einfacher Wollfaden, ursprünglich ein behelfsmäßiges Lesezeichen und jetzt eine Erinnerung, die nur uns beiden gehörte.
»Also, was soll ich dir backen?«, griff ich unser voriges Gespräch wieder auf.
»Ich weiß nicht, wann ich zu dir kommen werde, aber dieser Kuchen sieht schonmal ziemlich geil aus.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich liebe alles mit Schokolade, solange keine Haselnüsse drin sind.«
Empört schnappte ich nach Luft. »Denkst du, ich hätte in der kurzen Zeit deine Allergie vergessen? Da muss schon mehr kommen als zwei Monate Fernbeziehung.«
»Zwei Monate schon?« Amaliel verzog das Gesicht. »Das sind mir zwei Monate zu viel.«
»Mir doch auch.«
Unser Gespräch ebbte ab und ich konzentrierte mich darauf, die Streusel gleichmäßig auf meinen Kuchen zu streuen. Einige ließ ich übrig, um sie selbst zu essen.
»Ich mich vor meinem Vater geoutet.«
Mir fiel beinahe das Blech aus der Hand, ich gerade in den Ofen schieben wollte, und ich konnte es gerade noch auffangen. Ich fluchte und schob es schnell in die richtige Schiene, bevor ich mich zu meinem Handy umdrehte.
»Kannst du das in einem noch unpassenderen Moment beichten?«
»Nächstes Mal denke ich dran«, meinte Amaliel mit einem Nicken, das seine Grübchen jedoch nicht verbergen konnte.
»Aber erzähl. Wie war's?« Ich hatte keine Ahnung, was ich erwarten sollte, schließlich kannte ich seinen Vater nur aus recht spärlichen Erzählungen. Aber Amaliels Stimmung zufolge konnte es nicht allzu schlimm verlaufen sein. Jedenfalls nicht schlimmer als bei mir.
»Es war ... gut? Wir hatten nicht dieses große Gespräch darüber, wie man vielleicht erwartet hätte. Ich habe es eher nebenbei gesagt.« Er zuckte mit den Schultern und schaute an der Kamera vorbei in die Ferne. »Ich glaube, er konnte es sich sowieso denken, schließlich habe ich immer von dir erzählt.«
Ich musste lächeln und stellte die Zeit ein, die der Kuchen backen musste.
»Was genau hast du ihm erzählt?«, fragte ich, mehr um das Gespräch am Laufen zu halten als aus wirklicher Neugier. Es war seine Sache, ob er genauer darüber reden wollte.
»Dass ich queer bin. Ich glaube nämlich, das passt am ehesten zu mir. Und danach eben auch, dass du mein Freund bist. Jetzt muss ich ihn nur noch überzeugen, dass ich dich besuchen darf.«
»Ich hoffe es«, antwortete ich und versuchte die Tagträume aus meinem Kopf zu vertreiben, die sich dort festsetzen wollten. Später konnte ich mich in ihnen verlieren, jetzt sprach ich gerade mit Amaliel. »Und, Mali, ich bin stolz auf dich, dass du es gesagt hast.«
»Danke.« Er lächelte und ich merkte, wie sehr er sich darüber freute. »Es war gar nicht so schwer, wie ich gedacht hatte. Ich glaube, es war wirklich absehbar, dass du mehr als nur ein Freund für mich bist, und wenn er etwas dagegen hätte, dann hätte er es schon längst gesagt. Aber so hat er abgewartet, bis ich von selbst auf ihn zukomme.«
»Dein Vater klingt wirklich toll«, sagte ich, nicht ohne etwas Wehmut in der Stimme. Nach dem ersten gescheiterten Versöhnungsgespräch mit meinem Vater hatte es ein zweites gegeben, das definitiv besser gelaufen war. Aber mir war durchaus bewusst, dass mein Vater nur mit meiner Homosexualität klarkam, weil ich sein Sohn war. Bei jedem anderen sah er es immer noch kritisch und ich wusste nicht, ob sich das je ändern würde.
»Eigentlich hatte er sich ziemlich abgeschottet von Cara und mir. Aber seit ich wieder da bin, versucht er, mehr mit uns zu sprechen und eine engere Bindung zu uns aufzubauen. Ich glaube, er gibt sich teilweise die Schuld daran, dass ich abgehauen bin, auch wenn ich ihm erklärt habe, dass es nicht so ist. Er und Cara wissen sicherlich, dass ich nicht alles erzählt habe. Aber das mit Lilith ... das kann ich nicht.«
»Das musst du auch nicht. Es war schon so mutig von dir, es mir zu erzählen. Wenn du nicht willst, muss niemand anderes davon erfahren.« Mir kam ein Einfall, etwas, über das ich mit ihm geredet hatte, kurz bevor er gegangen war. »Hast du eigentlich über eine Therapie nachgedacht?«, fragte ich zögerlich. Ich wusste immer noch nicht, wie er auf das Thema zu sprechen war.
Amaliel seufzte und rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. »Ja, tatsächlich. Aber ich weiß nicht, wie ich das machen soll. Wie ich meinen Vater davon überzeugen soll, dass ich zu Therapie möchte, wenn ich ihm nicht erzählen kann, warum. Klar, ich bin achtzehn, aber ich kann sowas doch nicht ohne ihn machen, oder?«
»Nein, ich glaube, da wäre es besser, wenn du mit ihm und Cara darüber reden würdest. Aber wenn er merkt, dass du nicht über die Gründe sprechen kannst, spricht das doch sicher für eine Therapie, oder?« Die These war etwas gewagt, aber etwas Besseres fiel mir nicht ein.
»Wahrscheinlich hast du recht. Die Frau vom Jugendamt, die mit uns allen geredet hat, nachdem ich wieder da war, hat mir auch einen Psychologen vorgeschlagen, weil ich nicht wirklich über meine Beweggründe reden wollte«, murmelte er. »Ich denke, ich sollte es einfach mal versuchen. Also mit ihnen darüber zu reden. Aber es wird so schwer.«
»Ich weiß«, antwortete ich leise. »Aber du schaffst das. Überleg einfach, was das Beste für dich ist. Und wenn der Weg dahin eine Therapie beinhaltet, dann fällt es dir hoffentlich nicht mehr so schwer, mit deiner Familie darüber zu reden.«
Weil es mir im Stehen irgendwann zu anstrengend wurde, schnappte ich mir mein Handy und setzte mich an den Küchentisch.
Amaliel blieb still und so schwieg auch ich eine Weile und betrachtete stattdessen den Himmel vor den Fenstern und die Blätter an den Bäumen, die sich in schöne Gelb- und Rottöne verfärbten. Zwar schien die Sonne und ließ ihr goldenes Licht über die herbstliche Stadt tanzen, aber ich hatte das Gefühl, ich konnte dabei zusehen, wie die Schatten länger wurden.
Ich vermisste die viele Sonne des Sommers schon jetzt.
»Delian«, sagte Amaliel leise und mein Blick schweifte zurück zu ihm in dem kleinen Bildschirm meines Handys. Ich mochte es, wenn er meinen Namen sagte, vor allem wenn es so weich klang wie jetzt.
»Was ist los?«, fragte ich, da ich das Gefühl hatte, dass ihm etwas auf der Seele brannte.
»Hast du das Gefühl, dass das zwischen uns anders ist? Also dass sich zwischen uns in den letzten beiden Monaten, die wir nicht zusammen waren, etwas verändert hat.« Abwesend spielten seine Finger mit dem roten Armband um sein Handgelenk. Ich konnte meinen Blick nicht davon lösen.
»Meine Gefühle für dich haben sich nicht verändert«, antwortete ich nach einigen Sekunden. »Aber es ist einfach anders, wenn wir uns nur so unterhalten können. Natürlich wünsche ich mir, dass es anders wäre und dass wir uns so oft sehen könnten, wie wir wollen. Fühlt sich das zwischen uns für dich anders an?«
»Ich weiß es nicht. Im Moment nicht.« Er seufzte laut und fuhr sich durch die Haare. Er musste sie in den letzten Tagen geschnitten haben, denn der blonde Anteil wirkte viel weniger als gewohnt. Ob seine Haare bei unserem nächsten Treffen wohl vollständig braun sein würden?
»Aber ich habe Angst, dass es anders sein wird, wenn wir uns wiedersehen«, fuhr er fort.
»Dass wir uns auseinandergelebt haben«, ergänzte ich.
Amaliel nickte. »Ich will das nicht. Aber man kann es nicht wirklich verhindern, oder?«
»Ich glaube nicht. Aber ich glaube auch nicht, dass es bei uns so sein wird. Bei anderen vielleicht, nicht bei uns. Es sind nur ein paar Monate, nicht sieben Jahre. Und selbst über die Zeit ist unsere Verbindung nie weniger geworden, oder? Nur mehr.«
»Da hast du recht«, antwortete er und ein Funken Hoffnung kehrte in sein Lächeln zurück. »Wahrscheinlich wird es nur anders, wenn ich weiter so viel zweifle. Als würde uns je etwas auseinanderbringen.«
»Nein, das wird nie passieren.« Ich lachte, ließ mich für einen Moment in Erinnerungen an unsere vergangenen Jahre fallen. »Ich habe dich damals schon gemocht. Als wir noch Briefe geschrieben haben. Wahrscheinlich länger, als mir wirklich bewusst ist.«
»Ich weiß.«
»Ich habe dich damals gemocht, obwohl wir uns das letzte und einzige Mal gesehen haben, als wir zehn waren. Ich habe dich gemocht, als du bei mir warst, die ganze Zeit über. Ich mag dich jetzt und ich werde dich auch noch mögen, wenn wir uns das nächste Mal sehen. Und das Mal danach.« Ein Für immer schwang in den Worten mit, doch kam es mir nicht über die Lippen.
»Okay«, antwortete er leise.
Und so war es.
Wir redeten noch eine Weile danach, ich holte den Kuchen aus dem Ofen und die ganze Wohnung duftete nach einer Mischung aus Zimt und Zwetschgen. Wir redeten über meine Mutter, die die meiste Zeit bei ihrem Freund war und deren Bauch nun deutlicher zu erkennen war. Darüber, dass ich nicht ewig bei meiner Oma wohnen konnte, aber auch nicht allein zu meinem Vater zurückkehren oder mich in Davids Wohnung breitmachen wollte.
Als es dunkel wurde, standen wir gleichzeitig auf, um das Licht anzuschalten. Irgendwann kam Cara nach Hause, aber Amaliel verschwand so schnell in seinem Zimmer, dass sie nicht bemerkte, dass er telefonierte.
»Siehst du«, sagte ich, als wir auflegen wollten, »nichts hat sich verändert. Wenn dann, dass wir mehr geredet haben als normalerweise.«
Amaliel lachte und stimmte mir zu. »Bald sehen wir uns wieder, Bärchen. Und dann lässt du mich einfach nicht mehr gehen.«
»Nie wieder«, flüsterte ich und tief in meinem Herzen fühlte es sich richtig an.
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