Kapitel 30

Delian: Alles Gute zum Geburtstag

Kaum läutete die Kirchturmglocke Mitternacht, schickte ich die Nachricht ab. Schon nach wenigen Sekunden färbten sich die Häkchen blau. Amaliel war noch wach.

Überrascht setzte ich mich in meinem Bett auf, als plötzlich ein Anruf auf meinem Display erschien.

»Amaliel«, begrüßte ich ihn.

»Delian«, antwortete er mit einem amüsierten Unterton. »Ich kann mir bildlich vorstellen, wie du vor deinem Handy gesessen bist und die Sekunden gezählt hast, bis du die Nachricht schreiben konntest.«

»Und du etwa nicht?« Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass er damit genau ins Schwarze getroffen hatte.

»Nein. Ich habe die Sekunden gezählt, bis ich deine Nachricht lesen würde.«

»Schleimer.« Ich musste ein Lachen unterdrücken. Meine Mutter sollte denken, dass ich schon schlief, schließlich war morgen der erste Schultag nach den Sommerferien. Heute, heute war der erste Schultag.

Irgendwann musste ich meinen Freunden, die ich dann häufiger sah, die Wahrheit über Amaliel und mich erzählen. Aber daran wollte ich im Moment nicht denken.

»Jetzt bist du achtzehn«, flüsterte ich und lächelte.

»Mhm. Ich bin jetzt erwachsen und du noch lange nicht«, antwortete er triumphierend, aber ich meinte, das Lächeln in seiner Stimme zu hören.

»Ach, sei leise.« Ich zog die Decke enger um mich und winkelte die Beine an. Es war kalt gewesen die letzten Tage.

Tatsächlich schwieg Amaliel einige Sekunden und ich hatte schon Angst, dass er meinen Ausruf zu ernst genommen hatte, aber dann hörte ich wieder seine Stimme. »Es ist komisch, wieder hier zu sein. Teilweise fühlt es sich an, als wäre ich nie weggewesen, weil alles hier beim Alten geblieben ist. Aber dann erinnere ich wieder an dich und kann nicht mehr damit aufhören, an unsere Zeit zu denken. Wenn wir nur ein wenig näher beieinander leben würden.«

»Ich weiß, was du meinst«, sagte ich leise und rieb mir über den kalten Oberarm. Ich wollte nicht über traurige Momente reden, schließlich war es Amaliels Geburtstag, deswegen sprach ich weiter, bevor er etwas erwidern konnte. »Du kannst jetzt übrigens dein Geschenk aufmachen. Es ist nach Mitternacht.«

»Oh, stimmt.« Deckengeraschel ertönte am anderen Ende der Leitung, dann hörte ich Papier. »Ich muss es nur noch irgendwo finden«, murmelte Amaliel abwesend.

»Um wie viel Uhr wurdest du geboren?«, fragte ich, um die Wartezeit zu überbrücken.

Ein leises Lachen. »Vier Uhr morgens. Vielleicht bin ich deswegen so nachtaktiv. Du?«

»Um kurz vor acht am Abend. Eine viel humanere Uhrzeit, wenn du mich fragst.«

»Da hat deine Mutter aber Glück gehabt. Ah, ich hab dein Paket gefunden.« Wieder raschelte Papier und dann die Bettdecke, als Amaliel sich wieder hinsetzte.

»Sag mir, wie du es findest«, forderte ich und biss mir auf die Unterlippe. Ich war nicht gut darin, anderen Geschenke zu machen.

Ich hörte das Reißen von Karton und dann ein lautes Lachen, das sofort erstickt wurde. »Nein. Nein, das hast du nicht gemacht.«

Ich grinste. »Wir hatten das doch so ausgemacht, erinnerst du dich nicht mehr?«

»Ein Mini-Kronleuchter. Ich fass es nicht.« Wieder ein Lachen. »So fühle ich mich gleich fast so angeberisch reich wie ihr.« Er räusperte sich. »Ah, hier ist noch mehr.«

»Es sind zwei Dinge«, sagte ich, während ich Amaliel beim Öffnen des Umschlags zuhörte.

»Ich sehe es«, sagte er leise. »Ein Bild. Und ein Text.«

»Mary hat es gemalt. Ich habe es gesehen, als ich bei ihr war, und es hat mich sofort an dich erinnert. Sie wollte, dass ich es dir zum Geburtstag schenke. Ich hoffe, es ist okay. Du weißt ja, ich bin nicht wirklich gut im Malen und –«

»Hey, ganz ruhig.« Ein amüsierter Laut drang durch mein Handy. »Ich finde es wunderschön. Sie ist echt talentiert. Ich hätte nicht gedacht, dass man so wunderschöne Wolken malen kann. Sagst du ihr bitte danke von mir?«

»Klar«, antwortete ich, beruhigt, dass es ihm gefiel. Fehlte nur noch mein Text.

»Ich hänge es morgen gleich auf.«

»Da sieht es sicher schön aus. Ich, äh, wollte zu meinem Text noch sagen, dass ich den schon geschrieben habe, bevor du bei mir warst. Er ist nicht neu, aber ich habe ihn bei meinen anderen gefunden und wollte ihn dir schenken.«

»Bärchen«, sagte Amaliel leise und unterbrach damit abermals meinen Redeschwall. »Du redest so viel, wenn du nervös bist. Lass mich doch einfach den Text lesen, ja? Ich bin mir sicher, er ist wunderschön. Ich liebe deine Poesie, Delian.«

»Klar, 'tschuldigung.« Angespannt knetete ich meine Decke in einer Hand, während ich mein Handy in der anderen hielt.

Undeutlich hörte ich Amaliels Stimme von der anderen Seite und bemerkte erst nach einigen Sekunden, dass er meinen Text leise für sich vorlas.

Im nächsten Leben
sagst du
In einem anderen Leben
Doch was ist
wenn wir das schon
in unserem letzten Leben
zueinander sagten?
Wenn diese eine Nacht
dieser eine Moment
all das zwischen uns
schon immer da war
in jedem Leben wieder
und wir nie den Mut hatten
es zu akzeptieren?
Was ist
wenn es irgendwann zu spät ist
und es kein
nächstes Leben mehr gibt?
Wann können wir uns endlich
lieben?

»Delian ... Delian, das ist wunderschön«, sagte Amaliel, nachdem er einige Sekunden still gewesen war. »Das hast du wirklich geschrieben, bevor wir uns getroffen haben?«

»Jaaa«, antwortete ich und war froh, dass er mein rotes Gesicht in dem Moment nicht sehen konnte. »Du weißt doch, dass ich einen Crush auf dich hatte.«

»Fühlt sich seltsam an«, murmelte er nachdenklich. »Du hast mich nur aus meinen Briefen gekannt.«

»Gefühle kann man nicht beeinflussen.« Ich zuckte mit den Schultern, auch wenn er es nicht sehen konnte. Über meine Gefühle von damals wollte ich nicht wirklich reden.

»Ich liebe, was du schreibst«, meinte Amaliel voller Bewunderung, bei der ich gleich wieder rot wurde. »Aber den Text hänge ich nicht auf. Ich verstecke ihn vor der Welt und lese ihn ganz still und heimlich. Ich möchte ihn mit niemandem teilen.«

»Danke«, antwortete ich, weil mir nichts anderes einfiel.

Ich hörte, wie Amaliel sich auf der anderen Seite der Leitung wieder auf sein Bett setzte, und stellte mir für einen Moment vor, er wäre bei mir. Aber es fühlte sich komisch an, nicht echt, und so stellte ich den Versuch wieder ein.

»Hast du noch einen anderen Text, Bärchen? Du hast mir noch nie einen vorgelesen«, sagte er leise und brachte mich zurück in eine Realität, in der er Stunden von mir entfernt war.

»Es ist mitten in der Nacht und ich habe definitiv keine Lust mehr aufzustehen«, stellte ich klar und unterdrückte ein Gähnen. »Aber vielleicht bekomme ich eins auswendig hin. Es heißt Rote Poesie

Mein Blick hob sich von meiner Bettdecke zum Sternenhimmel über mir, gedimmt durch die Laternen auf der Straße. Seit Amaliel weg war, konnte ich nicht mehr aufhören, in den Himmel zu schauen, um mich ihm näher zu fühlen. Meilen entfernt und doch unter dem gleichen Himmel.

»Leg dich hin und schau in den Himmel.« Ich wusste, dass auch er nicht aufgehört hatte, die Wolken zu beobachten.

Leise Geräusche kamen von der anderen Seite, dann war es still und ich schloss die Augen, um mich an meine Worte zu erinnern. Worte, die ich schon so oft gelesen hatte, dass sie mir ins Blut übergegangen zu sein schienen.

»Dies ist Poesie
geschrieben mit Blut
aus meinem Herzen
so tief
so rot

Sie gehört dir
all meine Poesie
all meine Gedanken
nur dir
Jedes ungesagte Wort
auf meinen Lippen
jeder ungeschenkte Kuss
zwischen uns

Wenn die Welt zusammenkracht
bist du hier
doch nicht bei mir
Blut sammelt sich in meinem Mund
rinnt meine Kehle hinunter
Ich kann sie nicht aussprechen
meine Poesie
meine Gedanken
all das
in mir drin
nur für dich«

Es war still, als ich geendet hatte. So still, dass ich meinte, seinen Atem zu hören. Und seine Tränen.

Ich war es, der die Stille brach. Unerklärliche Angst kroch in mir hoch, als Amaliel nichts antwortete. Ich hatte ihm einen Teil meines Herzens dargelegt, etwas, das ich noch nie jemandem gezeigt hatte. Und er schwieg.

»Mali.« Kaum mehr als ein Hauch, keine wirkliche Frage, keine Aussage, irgendetwas dazwischen. Nur seine Stimme wollte ich jetzt hören, dann würde es mir wieder gut gehen.

»T-Tut mir leid, ich musste mich nur sammeln«, sagte er, endlich, die Stimme belegt und voller unterdrückter Gefühle. »Du weißt gar nicht, was für ein Talent du hast, Delian. Ich hätte fast angefangen, wirklich zu weinen.«

»Das ... das war nicht meine Intuition«, antwortete ich, unsicher, was ich mit der Information anfangen wollte.

»Wenn wenn du mal einen Poesieband veröffentlichst, bin ich der Erste, der ihn kauft, ja?«

»Ich signiere ihn dir«, versprach ich schnell, um meine aufsteigende Verlegenheit zu verbergen. Ein Teil von mir wollte nicht glauben, dass er das alles tatsächlich ernst meinte. Aber eigentlich wusste ich, dass Amaliel mich nicht anlügen würde – vor allem nicht, wenn es um etwas ging, das mir so wichtig war wie meine Texte.

»Das will ich wohl hoffen.« Er lachte leise, doch das Geräusch verstummte so schnell, wie es gekommen war, und stattdessen vernahm ich einen dumpfen Laut. Hatte er gegen die Wand geschlagen?

»Amaliel?«, fragte ich leise.

»'Tschuldigung.« Er seufzte. »Ich würde nur so gerne bei dir sein, weißt du? Es ist viel schöner, zu zweit einen Sternenhimmel anzuschauen, als allein.«

»Mir geht es nicht anders«, gab ich zu und wandte meinen Blick vom Himmel ab. Ich konnte den Anblick nicht mehr ertragen. »Aber das war doch klar, oder? Wir waren jetzt zweieinhalb Monate jeden Tag zusammen und wenn das plötzlich wegfällt und du wieder zuhause bist, fühlt sich das falsch an.«

»Du klingst, als hättest du alles schon psychologisch untersucht.« Ich wusste nicht, ob er erfreut oder frustriert klang, vielleicht beides.

»Ich vermisse dich einfach nur«, brach es aus mir heraus. Ich war selbst überrascht und Amaliel anscheinend auch, denn er brauchte einige Sekunden, bis er etwas antwortete.

»Ich dich auch, Bärchen, so sehr. Irgendwann sehen wir uns wieder, ja?«

»Ich will nicht irgendwann, ich will jetzt«, murrte ich, hüllte mich in meine Decke und stellte mir vor, es wären Amaliels Arme. »Aber ich weiß, dass es nicht geht.«

»Nein. Ich ... ich habe mir überlegt, ob ich dich an Weihnachten besuchen kann«, begann Amaliel vorsichtig. »Ich habe noch niemandem davon erzählt und natürlich müssten mein Vater und meine Schwester dem erstmal zustimmen. Ich möchte nicht mehr über ihren Kopf hinweg entscheiden. Aber prinzipiell würde ich dann gerne kommen. Das sind ja nur noch dreieinhalb Monate.« Ein genervter Laut entwich ihm und ich konnte förmlich sehen, wie er sich durch die ungeordneten Haare fuhr.

Plötzliche Aufregung durchströmte meine Adern und ließ einen Teil der Müdigkeit von mir weichen. Die Aussicht, Amaliel wiederzusehen, weckte meine Lebensgeister. »Mali, das wäre wundervoll«, rief ich und zügelte meine Freude sofort wieder, aus Angst, meine Mutter würde mich hören.

»Wirklich? Ich meine, es ist noch so ewig hin, aber ich glaube nicht, dass es früher möglich ist. Ich muss erstmal wieder richtig ankommen, glaube ich.« Die Unsicherheit, die in seinen Worten mitschwang, tat mir im Herzen weh. Er wollte mich nicht enttäuschen, dabei sollten seine Bedürfnisse für ihn immer zuerst kommen.

»Hey«, sagte ich leise. »Ich finde das eine tolle Idee, okay? Nimm dir die Zeit, die du brauchst, und finde heraus, was du machen willst.«

»Das will ich auch. Aber ich habe Angst, dass es dann nicht funktioniert und mein Vater will, dass ich über Weihnachten hierbleibe. Dann können wir uns gar nicht sehen.« Er klang so frustriert, dass ich mir einmal mehr wünschte, ihn in den Arm nehmen zu können.

»Du bist nicht der Einzige, der immer verreisen muss, weißt du? Wenn deine Familie nicht will, dass du gehst, dann kann ich auch zu dir gehen. Ich bin mir sicher, meine Mutter würde es verstehen.« Ich ließ meinen Vater außen vor, schließlich hatte ich immer noch nicht mit ihm gesprochen, geschweige denn mich mit ihm versöhnt.

»Oh. Daran hatte ich gar nicht gedacht.«

»Ist schon okay.« Ich lächelte, immer noch beschwingt von dem Gedanken, dass wir uns in absehbarer Zeit wiedersehen würden. »Es ist dein Geburtstag, also vergiss heute alle deine Sorgen und versuch, dich ein wenig zu entspannen, ja? Du bist jetzt achtzehn, genieß es.«

»Okay«, sagte er leise und ich konnte hören, wie er lächelte. »Telefonieren wir jetzt, bis einer von uns einschläft, oder ist das zu kitschig?«

»Bitte nicht.« Ich lachte möglichst leise. »Ich habe heute Schule, vielleicht sollte ich schlafen gehen. Gute Nacht, Mali.«

»Schlaf gut, Bärchen. Ich denk an dich.«

Er hatte aufgelegt, bevor ich etwas erwidern konnte.

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