Kapitel 3

Ich hatte kaum geschlafen, als ich am nächsten Morgen aufwachte. Meine Gedanken hatten sich nur um Amaliel gedreht und was ihn wohl zum Weinen gebracht hatte. Es hatte mir das Herz zerrissen, ihn zu hören und nichts tun zu können, um ihm zu helfen.

Es war zehn Uhr, als ich mich dazu entschied aufzustehen. Ich wusste nicht, ob Amaliel morgens lange schlief oder früh aufstand, weswegen ich nur hoffen konnte, dass er nicht schon seit drei Stunden wach im Gästezimmer saß.

Wir waren schon so lange befreundet, doch eigentlich kannten wir uns kaum.

Vor seiner Tür blieb ich stehen und klopfte zögerlich an. Nach wenigen Sekunden ertönte ein leises »Herein«, auf das ich die Tür öffnete. Amaliel saß auf dem Bett, den Rücken an die Wand gelehnt, die Beine noch verdeckt von der Decke. Er zog sich gerade hastig ein T-Shirt über, als ich in den Raum tapste und mich am Schrank auf den Boden gleiten ließ.

»Hi«, sagte ich leise und ließ unauffällig meinen Blick über ihn gleiten auf der Suche nach Hinweisen darauf, was heute Nacht passiert war. Seine blonden Haare waren zerzaust, auf seiner Wange entdeckte ich den Abdruck des Kissens und seine Augen glänzten müde. Aber sie waren weder rot noch geschwollen. Natürlich nicht.

»Morgen«, murmelte er in der gleichen Lautstärke, dabei war seine Stimme viel tiefer als meine.

»Habe ich dich geweckt?«, fragte ich vorsichtig, weil er genauso müde aussah, wie ich mich fühlte.

»Nein, alles gut. Konnte sowieso nicht gut schlafen.« Ich ließ mir nicht anmerken, dass mir das schon klar war. »Liegt nicht an dir oder so. Manche Nächte sind einfach so.« Er zuckte mit den Schultern. »Warum bist du hier?«

Ich imitierte seine Geste. »Mir war langweilig drüben und ich wollte fragen, ob du Frühstück willst.« Eigentlich wollte ich nur nach ihm schauen, überprüfen, ob er nicht über Nacht verschwunden war.

Amaliel nickte langsam. »Klingt ganz gut.«

»Super.« Deutlich zu motiviert, etwas tun zu können, sprang ich vom Boden auf und musste mich sogleich an der Wand abstützen, weil Sternchen vor meinen Augen tanzten.

»Alles gut?«, fragte Amaliel besorgt in meinem Rücken und die Decke raschelte, als wollte er aufstehen.

»Keine Sorge, mir geht's gut. Ich habe nur zu wenig getrunken.« Ich hatte mein Gleichgewicht schnell wiedergefunden und lächelte ihm beruhigend zu, bevor ich den Raum wieder verließ und die Tür hinter mir zuzog.

Amaliel kam in die Küche, als ich gerade das heiße Wasser in meine Teetasse goss.

»O Gott, Delian. Es ist Sommer, warum trinkst du Tee?« Entgeistert blickte er erst zu mir, dann zu meiner Tasse und wieder zurück.

»Man kann immer Tee trinken«, behauptete ich, als ich den Wasserkocher zurück auf seinen Platz stellte, und drehte mich zu Amaliel um. »Kannst du gerne auch mal ausprobieren, wir haben auch noch andere Teesorten.«

»Was hast du für einen?«, fragte er, obwohl er nicht so aussah, als würde er es ernsthaft in Erwägung ziehen.

»Aromatisierter Kräutertee mit Orangengeschmack, den trinke ich beinahe jeden Morgen.« Ich zuckte mit den Schultern und wechselte das Thema. »Was möchtest du frühstücken? Wir haben noch etwas Brot, Müsli, Sandwiches oder nur ein Joghurt.«

»Ich glaube, ein Joghurt mit etwas Müsli reicht, ich bin nicht wirklich hungrig. Aber ich kann mir das schon selbst machen«, fügte er hinzu, als ich mich schon der Arbeit widmen wollte.

Schuldbewusst lächelte ich und trat einen Schritt zurück, um ihn vorzulassen.

{☆}

»Deine Haare sind gefärbt, oder?«, fragte ich nach einer Weile Stille am Esstisch. Das Radio spielte leise im Hintergrund.

»Woher weißt du das? Sieht es so schlimm aus?« Er hob den Kopf von seinem Essen, die Lippen ein Stück geweitet. Um ihn nicht weiter anzustarren, trank ich einen Schluck aus meiner Tasse und drehte sie danach unschlüssig in den Händen.

»Du hast vor ein paar Jahren mal geschrieben, dass deine Mutter deine Haare blond färben wollte, deswegen sind sie wohl nicht von Natur aus so. Das ist mir heute Nacht wieder eingefallen. Ich merke mir die unnötigsten Sachen.« Hoffentlich kam es nicht zu komisch rüber, dass ich mich noch daran erinnerte.

»Dass du das noch weißt. Erwarte nicht dasselbe von mir, mein Kopf ist manchmal wirklich ein Sieb. Du solltest froh sein, dass ich deinen Geburtstag noch nicht vergessen habe.« Er lachte und wandte sich wieder seinem Essen zu.

»Apropos Geburtstag.« Ich löste meine Hand von meiner Tasse und zeigte mit dem Finger auf ihn. »Deiner ist in genau drei Monaten. Dann bist du volljährig.«

»Und du bist gerade erst siebzehn geworden«, schmunzelte er, den Blick in die Ferne gerichtet. »Manchmal kommt es mir so vor, als wärst du der Ältere von uns beiden. Du ... weißt so viel mehr und ich habe echt keine Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen will, und mache nur das Falsche draus.«

»Das glaube ich nicht, Mali. Du musst einfach noch herausfinden, was du gern machen willst. Vielleicht kann ich dir helfen, darüber haben wir nie wirklich gesprochen«, bot ich an und trank einen Schluck von meinem Tee, der inzwischen schon etwas abgekühlt war.

Einige in meinem Freundeskreis hatten schon genaue Pläne, was sie später erreichen wollten. Andere hatten zumindest eine grobe Idee und ich gehörte zu denen, die es noch überhaupt nicht wussten. Amaliel dem Anschein nach auch.

»Wir haben darüber gesprochen, als wir noch halb so groß waren wie jetzt. Als alle noch Polizist werden wollten und das Leben noch viel einfacher war.« Er lächelte traurig und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

»O Gott, ich erinnere mich. Als unsere Briefe noch aus drei Sätzen bestanden haben und niemand ahnen konnte, dass es so lange andauern würde.«

Manchmal überkam mich der Drang, Amaliels alten Briefe auszugraben und sie noch einmal zu lesen, noch einmal in den Erinnerungen zu schwelgen, die wir zusammen und doch jeder für sich erlebt hatten.

Ich seufzte. »Für mich wäre Polizist definitiv keine Möglichkeit mehr. Ich könnte nie konsequent in brenzligen Situationen durchgreifen, dafür bin ich viel zu nett. Und am Ende hätte ich noch viel zu viel Mitleid mit den Tätern, wenn ich die Hintergrundgeschichte erfahre.«

»O ja, das glaube ich dir. Ich könnte dich mir nie als Polizist vorstellen. Du hast eher einen ... ruhigen Job, in dem du Menschen glücklich machen kannst. Das kannst du nämlich ziemlich gut.«

Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass er von sich redete. Dass er gesagt hatte, dass ich ihn glücklich machte. Ein warmes Gefühl breitete sich in meiner Brust aus und ich musste mich zurückhalten, um nicht dumm zu grinsen. Es machte mich unglaublich froh, dass ich ihm helfen konnte und sein Leben verbesserte.

»Danke«, antwortete ich leise und trank schnell den letzten Schluck meines Tees, bevor ich mich ruckartig erhob und mich in die Küche begab. Amaliel folgte mir, er war schon länger mit seinem Frühstück fertig.

»Hast du schon eine Ahnung, wie dein Leben später aussehen soll?«, fragte er und schaute mich mit aufmerksamen Augen an. Er lehnte neben mir am Kühlschrank und hatte die Arme vor der Brust verschränkt.

»Nicht wirklich. Einfach eine Arbeit finden, die mich glücklich macht, und jemanden, mit dem ich mein Leben zusammen verbringen kann«, antwortete ich vage.

»Vielleicht sind wir doch nicht so unterschiedlich«, sagte er mit einem seichten Lächeln und senkte den Blick wieder.

Doch, denn du willst ein Mädchen und ich nur dich, fügte ich in Gedanken hinzu, wagte aber nicht es auszusprechen. Ich wusste nicht, ob er schon bereit war, über das Problem mit meiner Sexualität zu reden, merkte aber, wie das Thema seit gestern wie ein dunkler Schatten über uns lag.

Es wäre so viel einfacher zwischen uns, wenn ich nicht schwul wäre.

{☆}

Weil es zwar nicht mehr regnete, das Wetter aber heute und morgen immer noch sehr bedeckt und kalt sein sollte, beschlossen wir, solange noch drinnen zu bleiben und uns so die Zeit zu vertreiben. So kam es, dass wir später am Tag zusammen auf dem Sofa endeten und alle möglichen Spiele neben uns auf dem Tisch lagen, die ich in unserem Haushalt gefunden hatte.

»Ewig her, dass ich Uno gespielt habe«, murmelte Amaliel, während er meine Hände beim Austeilen der Karten beobachtete.

»Dann wird es höchste Zeit. Ich hoffe, du kannst die Regeln noch.« Ich schob ihm einen der Kartenstapel hin und griff nach meinem eigenen.

»Die sind doch sowieso bei jedem anders. Wie spielst du?« Er hob die erste Karte vom Stapel und legte sie zwischen uns. Eine grüne Zwei.

»Auf eine Vier Ziehen oder Farbwechselkarte darf man keine andere schwarze Karte legen. Wenn man zwei identische Karten hat, darf man doppelt legen. Nachdem man gezogen hat, darf man sofort legen, wenn die Karte passt.«

»Damit kann ich leben. Der Jüngere beginnt.«

»Was bekommt der Gewinner?«, fragte ich, während ich noch schnell meine Karten sortierte. Ziemlich viel blau und grün, ein gelbes Aussetzen und ein Farbwechsel. Da konnte ich nur hoffen, dass Amaliel nicht allzu viele Aktionskarten hatte. Ich warf ihm einen abschätzenden Blick zu, aber sein Blick sagte nichts aus.

»Einen Kuss«, schlug er wenige Sekunden später mit einer so ernsten Stimme vor, dass ich mich beinahe an meiner Spucke verschluckte und mich räuspern musste. Amaliel grinste und rückte seine Karten zurecht.

Ich schüttelte den Kopf. »Manchmal kann ich dich überhaupt nicht einschätzen, Mali.« Die meiste Zeit hatte ich keine Ahnung, wie ich mich im gegenüber verhalten sollte, damit zwischen uns keine unangenehme Situation entstand. Vielleicht ging es ihm auch so, aber wenn dem so war, dann zeigte er es nicht so deutlich wie ich.

»Du kennst mich besser als die meisten anderen, das wirst du schon schaffen.« Er hatte Recht, andersrum war es genauso und doch war alles zwischen uns anders in dieser Realität. Wir hatten uns sieben Jahre Briefe geschrieben, bei denen wir jeden Satz zweimal überlegen und umbauen konnten, bevor wir ihn auf Papier schrieben. Das fehlte jetzt zwischen uns und daran mussten wir uns erst noch gewöhnen.

Bevor ich noch länger darüber nachdenken konnte, legte ich meine erste Karte. Erst auf Amaliels überraschten Blick hin bemerkte ich, dass ich seinen Vorschlag gar nicht abgelehnt hatte.

Ein Kuss. Er hatte einen Kuss vorgeschlagen. Ich war mir sicher, dass er das nicht ernst gemeint haben konnte, konnte aber kaum die Unsicherheit aus meinen Bewegungen nehmen.

Wir fingen ein lockeres Gespräch an, während wir die nächsten Karten ausspielten, Amaliel wirkte fast so, als hätte er den Gewinn schon wieder vergessen. Ich hatte schnell kaum noch Karten, musste aber immer wieder welche nachziehen, weil ich nicht legen konnte. Jedes Mal, wenn ich nach dem Kartenstapel griff, hob sich Amaliels Mundwinkel und machte mich noch nervöser.

Ich hätte Amaliel nie als undurchsichtige Person bezeichnet, schließlich kannte ich ihn gut genug und wusste, wie er tickte, aber im Moment hatte ich nicht den blassesten Schimmer, worauf dieses Spiel hinauslaufen würde. Da half es auch nicht, dass es sich immer weiter in die Länge zog.

»Uno.« Wieder hatte ich nur eine Karte in der Hand, eine blaue Acht.

Amaliel grinste mich an, als er nach der nächsten Karte auf seiner Hand griff; das konnte nichts Gutes bedeuten. Ich sollte recht behalten, als er eine Vier Ziehen legte. »Uno und ich wünsche mir Rot.«

Mit nervösen Fingern zog ich vier Karten, wusste dabei nicht, ob ich lieber welche hätte, die das Spiel beendeten, oder welche, die es noch weiter hinauszögerten. Mein Mundwinkel zuckte unzufrieden, als sich herausstellte, dass meine gezogenen Karten definitiv der ersten Option entsprachen. Ich konnte nichts anderes tun, als eine rote Vier zu legen und auf meine Niederlage zu warten.

»Uno, Uno.« Bedächtig legte er seine rote Sieben auf den Stapel und lehnte sich auf dem Sofa zurück. Er machte keine Anstalten, den Gewinn zu erwähnen, also sagte ich auch nichts, aber meine Hände fühlten sich immer noch zittrig an, als ich nach dem Spiel griff, um es wieder zu mischen.

»Noch eine Runde?«, fragte ich ihn ohne aufzuschauen. Bevor er antworten konnte, klingelte es an der Tür und wir zuckten synchron zusammen. Erschrocken sprang Amaliel von der Couch auf, sein Blick wanderte unruhig im Raum umher, als suche er nach der bestmöglichen Versteckmöglichkeit.

»Du kannst hoch gehen, wenn du nicht willst, dass dich jemand hier sieht.« Dass das genau das war, was er brauchte, merkte ich, als er nickte und schnell die Spiele aufsammelte, um die Spuren seiner Existenz zu verwischen.

Währenddessen war ich schon auf dem Weg zur Tür, um zu schauen, wer davorstand. Für die Post war es zu spät und wir erwarteten auch keine Pakete. Schnell durchforstete ich meine Erinnerungen, ob meine Eltern etwas von einem Besuch erwähnt hatten, fand aber nichts.

Als ich die Haustüre öffnete, stand meine Oma mit einem Korb in der Hand vor der Tür. Ihre dunklen Haare hatte sie wie immer streng nach hinten gebunden, aber auf ihren Lippen lag ein strahlendes Lächeln.

»Oh, hi«, sagte ich und trat zur Seite. »Was machst du hier?«

Sie erwiderte meinen Gruß und trat an mir vorbei in die Wohnung. »Delian, ich wollte nur schauen, wie es dir geht.«

»Ist nicht das erste Mal, dass ich ein paar Tage allein bin. Ich werde schon nicht verhungern, da brauchst du dir keine Sorgen machen.« Ich lief hinter ihr her ins Esszimmer, wo sie ihren Korb auf einem der Stühle abstellte. Mit einem Seitenblick bemerkte ich, dass Amaliel und unsere Spiele verschwunden waren.

»Das weiß ich doch. Aber ich wollte mal wieder nach meinem einzigen Enkel sehen. Es ist schon eine Weile her, dass du mir das letzte Mal im Laden ausgeholfen hast.« Aus ihrem Korb holte sie einen mit Alufolie umwickelten Teller heraus.

»Ich weiß, aber ich bin gerade ziemlich in der Klausurenphase.« Wenn ich nur daran dachte, wurde mir schon schlecht bei dem, was ich alles noch lernen musste. Biologie, Mathe und Religion standen noch an.

»Aber jetzt hast du Ferien und damit einen freieren Kopf. Und zur Feier des Tages habe ich dir meinen Himbeerkuchen mitgebracht.« Sie deutete auf den Teller. »Ich bin mir sicher, dass du ihn genauso gut backen könntest wie ich, wenn du es probieren würdest.«

»Ich würde nie an deine Meisterkreation herankommen.« Meine Oma besaß eine Konditorei in der Stadt und in manchen Tagträumen malte ich mir aus, wie es wäre, den gleichen Beruf zu ergreifen.

»Ach, lass gut sein.« Sie warf mir eine mitgebrachte Zeitschrift an den Kopf. Ich war nicht schnell genug sie zu fangen und musste mich bücken, um sie vom Boden aufzuheben. »Hier hast du was zu lesen.«

»Das war jetzt nicht nötig gewesen«, murmelte ich und legte die Zeitschrift auf den Esstisch.

»So, ich gehe dann wieder oder hast du noch etwas, worum ich mich kümmern müsste?« Auf mein Kopfschütteln hin drehte sie sich wieder um. Ich folgte ihr bis zur Haustür, um sie zu verabschieden.

»Wahrscheinlich komme ich nochmal irgendwann vorbei, um zu schauen, ob hier alles mit dem Rechten zugeht. Das sollte für dich doch kein Problem sein.« Das hoffte ich. Normalerweise war dem der Fall, aber diesmal war Amaliel bei mir und alles fühlte sich anders an.

Ich rief ihr noch lächelnd eine Verabschiedung hinterher, bevor ich die Tür hinter ihr schloss. Alle Luft wich aus meinen Lungen, als ich meinen Kopf für einen Moment gegen das kühle Holz lehnte und die Augen schloss. Ich liebte meine Oma, aber ich wusste nicht, ob sie Amaliel und mich gerade im ungünstigsten oder passendsten Moment unterbrochen hatte.

Meine Schritte waren unsicher, als ich die Stufen in den ersten Stock erklomm. »Amaliel?«, rief ich leise, ich wusste nicht, in welchem Raum er sich befand.

»Hier«, kam es überraschenderweise aus meinem Zimmer. Ich hätte vermutet, dass er ins Gästezimmer verschwunden war.

Leise öffnete ich die Tür und fand ihn im Schneidersitz auf dem Boden wieder, den Rücken an mein Bett gelehnt. Vor ihm lagen die Spiele unordentlich verteilt, wenigstens hatte er die Uno-Karten wieder in ihre Verpackung geräumt.

»Wer war das?«, fragte er, die Hände im Schoß abgelegt.

Ich ließ mich vor ihm auf dem Boden nieder, nur wenige Zentimeter von ihm entfernt, aber nicht so nah, dass es aufdringlich wirkten würde. »Meine Oma. Sie wollte schauen, wie es mir geht, und hat Kuchen vorbeigebracht.«

»Kuchen ist immer gut«, stellte Amaliel fest und wollte sich schon erheben, als ich ihn zurückhielt. Jetzt oder nie.

Ich hielt ihm meine Hand hin und war erstaunt, dass sie nicht zitterte. Er ergriff sie mit einem fragenden Ausdruck im Gesicht. Für einen Moment betrachtete ich unsere verwebten Finger; meine Haut war so blass in seiner und meine Hand so klein.

Dann führte ich sie zu meinem Mund und drückte einen sanften Kuss auf seine Fingerknöchel, ohne dabei den Blickkontakt zu seinen weit aufgerissenen braunen Augen zu verlieren. Sekunden verstrichen, die sich wie Minuten anfühlten, ehe ich meinen Blick wieder auf unsere Hände senkte. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass er das gleiche tat.

Dann löste er seine Finger aus meinen und zog sich zurück.

»Für deinen Gewinn«, erklärte ich leise, meine Stimme versagte beinahe. Dann stand ich ruckartig auf, ich konnte die sich zwischen uns aufbauende Spannung nicht aushalten. »Ich geh dann mal schauen, wie viel Kuchen meine Oma gebracht hat. Du kannst auch kommen, wenn du willst.«

Ohne ihn noch einmal anzuschauen, rauschte ich aus dem Raum und atmete erleichtert auf, als ich seinen brennenden Blick auf dem Gang nicht mehr spürte. Ich hätte das nicht tun sollen, definitiv nicht.

Er folgte mir erst nicht, sondern verschaffte mir ein paar ruhige Minuten im Esszimmer, in denen ich mich beruhigen und herunterfahren konnte. Dafür war ich ihm dankbar.

Ich hätte die Sache einfach auf sich beruhen lassen sollen, sicher hatte Amaliel seinen Gewinn schon wieder vergessen gehabt. Aber ich konnte es nicht, konnte nicht die eine Chance an mir vorbeiziehen lassen, seine weiche Haut unter meinen Lippen zu spüren. Nur ein einziges Mal.

Als er bedächtig die Stufen runterstieg, hatte ich den Kuchen schon auf zwei Teller aufgeteilt und auf den Tisch gestellt. Ich war froh, dass meine Oma mir zwei Stück gebracht hatte, so war genug für uns beide da.

»Wenn du den Himbeer-Pistazienkuchen meiner Oma nicht mindestens genauso liebst wie ich, verweise ich dich des Hauses«, warnte ich ihn, als er sich mir gegenüber hinsetzte. Bislang hatte er noch keinen Blick auf mich geworfen.

Jetzt hob er ihn, ein amüsiertes Funkeln in den Augen. »Ich werde mich hüten. Aber wenn du sagst, dass er gut ist, kann es ja nicht anders sein.«

»Weise Entscheidung.« Ich nahm auf meinem Stuhl Platz.

Kaum hatte er sich die erste Gabel Apfel in den Mund gesteckt, wurden seine Augen groß. »Shit, das ist heftig. Eigentlich ist Pistazie nicht so meins, aber das ist echt geil.«

»Habe ich dir doch gesagt.« Wenn auch nie im Leben mit diesen Formulierungen. Grinsend begann ich selbst zu essen und genoss einmal mehr das Talent meiner Oma. »Sie hat eine Konditorei in der Stadt, ich habe dir sicher schon einmal davon erzählt.«

Ich zögerte und Amaliel bemerkte es. »Und du hast mir auch erzählst, dass du mindestens genauso gern backst wie sie und manchmal bei ihr aushilfst.«

Ich senkte den Blick auf meine Gabel, mit der ich in den letzten Resten des Kuchens stocherte. »Na also, du vergisst doch nicht alles, worüber wir geschrieben haben.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich bin ziemlich gern bei ihr.«

»Das freut mich.« Amaliel nickte bestätigend und wandte sich wieder seinem Kuchen zu. Wir aßen den Rest schweigend. Ich bemerkte seine stummen Blicke, die er mir alle paar Sekunden zuwarf, entschloss mich aber nichts zu sagen. Wenn er etwas von mir wollte, konnte er mich auch ansprechen.

»Ich hab dir nichts zum Geburtstag geschenkt«, merkte er leise an, als ich unsere Teller in die Spülmaschine stellte. Sein Blick war auf die Pflanzen am Fenster gerichtet, er wandte ihn mir zu, als ich mich dicht neben ihn an den Küchenschrank lehnte. Er zuckte keinen Zentimeter zurück.

»Ich weiß«, antwortete ich leise. Ich hatte auch nichts erwartet. Wir hatten uns zu nicht einmal der Hälfte unserer Geburtstage etwas geschenkt, das war nie unser Ding gewesen. »Es reicht doch, dass du jetzt her bist. Bei mir. Mein Geburtstag war erst vor zwei Wochen und eine genauso lange Zeit werden wir auch miteinander verbringen.«

Amaliel erwiderte das Lächeln, das ich ihm schenkte, aber es erreichte nicht ganz seine Augen. »I-ich weiß, ich hätte trotzdem ...« Er schüttelte den Kopf, als er anfing über seine Worte zu stolpern. Das war ihm heute noch gar nicht passiert. »Aber wenn du meinst, dass meine alleinige Anwesenheit dir reicht, dann werde ich das wohl akzeptieren.«

Ein spielerischer Unterton hatte sich in seine Stimme geschlichen und beim Lächeln zeigte er wieder seine Grübchen.

»Du bist mir genug.« Zu meiner Überraschung berührte er für einen Moment die Hand, bevor er den Kopf schüttelte und mich in der Küche zurückließ.

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