Kapitel 29

Amaliel

»Du bist komisch.«

Ich schaute von meinem Kaffee auf und warf Caramida, die gerade das Esszimmer betreten hatte, einen fragenden Blick zu.

»Ich meine, du machst deinen Rollladen nicht mehr runter. Wie kannst du bei dem ganzen Licht so lang schlafen?« Sie ließ sich auf den Stuhl mir gegenüber fallen und klaute mir meine Tasse, um selbst einen Schluck zu trinken.

»Du nennst deinen blauen Wellensittich Green und deinen grünen Blue. Wen nennst du hier komisch?«

»Touché.« Sie verdrehte sie Augen. »Aber ich mache das, weil es Menschen verwirrt und ich es lustig finde. Mit dem Licht störst du nur dich selbst. Hast du plötzlich Angst im Dunkeln?«

»Natürlich nicht«, wehrte ich ab und luchste ihr nebenbei meinen Kaffee wieder ab. Mehr als einen Schluck sollte sie nicht bekommen. »Aber ich hab mich so daran gewöhnt, dass es mich nicht mehr stört.«

Cara schien aus meiner Antwort nicht schlau zu werden – verständlich, schließlich hatte ich meiner Familie noch nichts erzählt. Lange würde ich es nicht mehr aufschieben können, das war mir durchaus bewusst.

»Ich hab bei Delian zwei Monate lang im Gartenhaus geschlafen. Und wenn ich das Fenster irgendwie verdunkelt hätte, hätten seine Eltern bemerkt, dass da jemand wohnt.« Ich grinste schief, schaute ihr aber nicht direkt in ihre Augen. »Es war nicht mal so schwer, sich vor ihnen zu verstecken.«

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass du das gemacht hast«, antwortete meine Schwester mit einem Kopfschütteln. »Hast du vor, noch mehr zu erzählen, oder war's das? Ich muss wissen, ob ich mir jetzt einen Kaffee machen muss.«

Ich liebte es, wie sie versuchte, ihre Neugier zu zügeln und mit etwas Amüsantem zu verdecken, damit ich mich nicht gezwungen fühlte, ihr etwas zu erzählen. »Mach dir lieber einen.«

Cara nickte eifrig und begab sich in die Küche, während ich in mein Zimmer ging. Ich hockte mich vor meinen noch immer kaum ausgepackten Rucksack. Das Foto fiel mir fast entgegen, als ich es aus dem Seitenfach holte.

Wenn ich schon anfing zu erzählen, konnte ich auch gleich alles auspacken, oder?

Als Cara sich mit ihrem Kaffee in ihrer geliebten blauen Blümchentasse wieder zu mir an den Küchentisch setzte, waren meine Finger nassgeschwitzt. Das Foto lag vor mir, umgedreht.

»Was ist das?«, fragte meine Schwester und deutete mit einem Finger darauf, ohne die Hand von ihrer Tasse zu lösen.

»Ein Bild«, antwortete ich langsam. »Von Delian und mir. Er hat es vor einem Monat geschossen, Ende Juli.«

Etwas in mir sträubte sich dagegen, ihr das Bild zu zeigen, aber ich musste beenden, was ich angefangen hatte. Also schob ich ihr das Foto über den Tisch zu, damit sie es selbst umdrehte.

Kurz bedachte sie mich noch mit einem misstrauischen Blick, dann siegte die Neugier und sie griff danach.

Die ersten Sekunden passierte nichts. Caras Miene blieb unverändert, während sich eine Schlinge immer fester um meinen Hals legte und mir das Atmen erschwerte.

Ich hatte das noch nie zuvor getan. Es fühlte sich ganz anders an, als bei Delians Outings dabei zu sein. Viel naher, viel unmittelbarer, viel echter. Dieses Mal ging es um mich, ich war nicht nur der Freund, der zufällig dabei war. Ich war die Hauptperson und es machte mir Angst.

Was machte ich, wenn Cara mich abstoßend finden würde?

Dann hob sie den Blick und schaute mir direkt in die Augen. Aus ihrem Gesicht konnte ich weder Abscheu noch Ekel lesen, was ich als guten Zeichen nahm.

»Wenn ich das richtig sehe ...«, begann sie leise, beinahe vorsichtig. So war ich sie gar nicht gewohnt.

»Da waren wir noch nicht zusammen«, platzte es aus mir heraus, weil ich die Ungewissheit nicht mehr aushielt. »Aber kurz danach«, schob ich etwas ruhiger hinterher.

Überraschung über meinen Ausbruch zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, dann nickte sie langsam. Ich wartete, aber sie sprach nicht weiter, sondern schaute nur auf unser Bild.

»Kannst du auch etwas dazu sagen?«, fragte ich, vielleicht etwas zu grob. Ich wollte nicht, dass sie unser Foto so lange anschaute. Es fühlte sich an, als würde es dadurch etwas von seinem Zauber verlieren.

»'Tschuldigung«, murmelte sie und hob endlich den Blick. »Es ist nur etwas ungewohnt. Ich hätte es irgendwie nicht erwartet.«

»Aber du findest es nicht schlecht?«, hakte ich weiter nach und beugte mich vor.

»Nein, warum sollte ich? Es ist doch ganz normal. Außerdem – weißt du eigentlich, wie viele queere Fanfictions ich die letzten Jahre gelesen habe? Da kann ich es doch gar nicht schlecht finden.« Sie lachte und nahm einen Schluck aus ihrer Tasse.

Meiner Meinung nach ging sie viel zu leicht mit dem Thema um, wo es mir doch gerade noch so schwergefallen war. Aber das war mir egal, denn sie akzeptierte mich und das war mir im Moment genug.

»Aber nun, da ich das weiß, kann ich die ganze Geschichte erfahren?« Ich wusste, darauf war sie die ganze Zeit aus gewesen, und so nickte ich ergeben.

Natürlich erzählte ich ihr nicht alles – vor allem nicht, warum ich abgehauen war – aber sie erfuhr die grobe Geschichte, von den zwei Wochen, die ich ursprünglich nur bleiben wollte, bis zu den zwei Monaten, die ich mich danach im Gartenhaus versteckt hatte.

Cara lachte über die Absurdität der Situation und ich konnte es ihr nicht verübeln.

»Es ist echt krass«, meinte sie, als ich geendet hatte. »Die Story hört sich an wie aus einem Buch oder Film, aber sie ist wirklich passiert. Mein Bruder hat das erlebt. Das muss irgendwann verfilmt werden.«

»Jetzt übertreibst du aber.«

Ich stand auf, um meine inzwischen leere Kaffeetasse in die Küche zu bringen. Hoffentlich verstand meine Schwester, dass das Gespräch damit für mich beendet war, bevor sie sich noch weiter Gedanken zu einer Verfilmung machen konnte. Ganz so spektakulär war meine Geschichte sicher nicht.

»Was machst du?«, fragte Cara, als ich in den Flur ging und meine Schuhe anzog. Ich hörte, wie sie mir folgte.

»Mich mit Freunden treffen. Ist das verboten?« Tim hatte mir bereits gestern Abend geschrieben und ich hatte zugestimmt, dass wir uns heute treffen würden. Mit wir war die ganze übliche Gruppe gemeint und ich wusste, dass Lilith darunter sein würde. Sie würde es sich nicht entgehen lassen, mich wiederzusehen.

Diese Begegnung würde nicht gut enden, das wusste ich. Aber irgendwann musste ich mich allem stellen, nicht wahr?

Als ich aufschaute, runzelte Cara die Stirn. »Ich will ja nichts sagen, aber während deiner Abwesenheit schien es nicht so, als würden sie dich sehr vermissen.«

Obwohl ich so etwas in der Art geahnt hatte, schmerzte es immer noch zu wissen, dass diese Leute wohl kaum echte Freunde waren. Ein Grund mehr, sich endlich von ihnen zu lösen.

»Ich weiß. Wobei ich mich frage, woher du das weißt«, fragte ich und bedachte nun sie mit hochgezogener Augenbraue.

»Aaron ist gut mit Tim, da haben die beiden mal über dich gesprochen. Die wollten schon wissen, wo du bist, aber richtig interessiert hat es sie nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Denk nicht, ich würde mit denen abhängen. Ich hab Niveau.«

Natürlich kannte sie sich über ihren Freund mit der Gruppe aus. Ich schmunzelte über meine Schwester und nickte. »Was du nicht sagst. Man sieht sich.«

Ich steckte meinen Hausschlüssel in die Jackentasche und hatte die Wohnung verlassen, bevor sie noch etwas sagen konnte. Auch wenn es eine Weile dauern würde, machte ich mich zu Fuß auf den Weg zu unserem Treffpunkt. Die letzte Woche war ich nur zuhause gewesen, da konnte ich die Bewegung wirklich gebrauchen.

Wir sollten uns am Faulen See treffen, an der gleichen Ecke wie immer. Es war ein ungeschriebenes Gesetzt, von dem niemand wirklich wusste, wie es entstanden war.

Etwas weiter bog eine Straße ab, in der auch die Sternenwarte lag. Früher war ich oft dort gewesen, hatte Vorträgen gelauscht und die Sterne bewundert. Wenn Delian irgendwann hierherkommen würde, würde ich ihn auf jeden Fall dorthin führen, ihn Teil an meiner Leidenschaft haben lassen.

Wir würden die Straße entlanglaufen, in der Villen standen, die sogar Delians Haus winzig aussehen ließen. Hin und wieder, ganz unauffällig würde seine Hand meine berühren. Wir würden das verfallene Haus ganz am Ende der Straße entdecken und uns vorstellen, es zu kaufen, zu renovieren und darin zu wohnen. Zusammen.

Aber ich wusste nicht, ob er mich je besuchen würde, also verlor ich mich besser nicht in Tagträumen.

Tim und zwei andere standen schon an der üblichen Ecke und entdeckten mich, als ich nur noch einige Meter von ihnen entfernt war.

»Amaliel, auch mal wieder da«, rief er und trat seine Zigarette aus.

Ich antwortete nur mit einem Schnauben und nickte den anderen beiden zu, die ich kaum kannte. Eigentlich kannte ich fast niemanden aus der Gruppe, auch wenn wir früher öfters abgehangen haben. Es kam nie zu wirklichen Gesprächen, alles blieb oberflächlich.

Erst durch Delian war mir aufgefallen, wie unsinnig das alles war. Was brachten mir diese losen Bekanntschaften denn, wenn ich keine echten Freunde hatte?

Ich stand neben den drei, in der Gruppe und doch irgendwie nicht, hörte ihre Unterhaltung, aber nicht, was sie sagten. Würde es ihnen auffallen, wenn ich wieder verschwinden würde?

»Hätte nicht gedacht, dich mal wiederzusehen.«

Alles in mir gefror bei der Stimme in meinem Rücken. Mein Herz krampfte sich zusammen und einen Moment hatte ich Angst, dass es nie wieder schlagen würde. Ich hätte vorbereitet sein müssen, ich hatte doch gewusst, dass sie kommen würde. Aber nichts hätte mich auf sie vorbereiten können, auf die Person, die mein Leben auf einen Schlag und doch unmerklich zerstört hatte.

Als ich mich umdrehte, stand sie da vor mir, sah so aus wie immer und lächelte mich zuckersüß an. Blonde Locken, die ihr in Wellen über die Schultern fielen, perfekt sitzendes Make-Up. Unschuldig sah sie aus.

Wie ich sie hasste.

»Überraschung?«, fragte ich und schaute sie unbeeindruckt an. Vielleicht verlor sie das Interesse an mir, wenn ich ihr nicht zeigte, wie weh sie mir getan hatte.

Sie schnaubte und verlor die schöne Maske für eine Sekunde. »Ich weiß nicht, ob ich das so sagen würde.« Dann wandte sie sich den anderen zu und umarmte jeden einzeln mit einem breiten Lächeln. »Es freut mich so, euch alle mal wieder zu sehen.«

Hinter ihrem Rücken verdrehte ich die Augen, war aber insgesamt froh, dass sie von mir abgelassen hatte. Ich wusste nicht, wie lange ich ihre Gegenwart aushalten konnte, ohne dass die Erinnerungen hervorbrachen.

An unsere Nacht.

An die Vergewaltigung.

Fast zuckte ich bei dem Gedanken zusammen, zwang mich aber, ihn zu Ende zu denken. Delian hatte es so genannt und ich wusste, dass er recht hatte, ich hatte es schon immer gewusst. Aber ich hatte es die ganzen Monate nicht akzeptieren wollen. Vielleicht sollte ich jetzt damit anfangen.

Allmählich wurde die Gruppe größer, Nicolas und Kate waren unbemerkt hinzugestoßen. Ich sah ihre Gesichter, zum ersten Mal seit Monaten und fühlte – nichts. Bei meinem Anblick erhellten sich ihre Mienen etwas und Kate winkte mir sogar zu, aber ich schaffte kaum mehr als ein halbes Lächeln.

Dieses Treffen strengte mich unheimlich an, dabei war noch kaum etwas passiert.

Als ich gerade gedacht hatte, sie hätten mich alle vergessen, stand plötzlich wieder Lilith vor mir und schaute zu mir auf. »Wir müssen reden.«

»Müssen wir das?« Es gab nichts auf der Welt, das ich weniger wollte, dennoch folgte ich ihr, als sie mich einige Schritte weiter führte. Vielleicht wäre dann endlich alles vorbei und ich konnte sie hinter mir lassen.

»Natürlich.« Verständnislos schaute sie mich aus ihren großen braunen Augen an. »Du kannst nicht nach drei Monaten einfach wieder hier auftauchen.«

»Zweieinhalb. Und jetzt tu nicht so, als würde ich dich irgendwie interessieren.« Ich rollte mit den Augen und wollte mich eigentlich schon wieder wegdrehen, aber irgendetwas hielt mich auf. »Was willst du von mir?«

»Wir waren mal in einer Beziehung, da kann ich doch wohl erwarten, dass du mir irgendetwas erzählst.«

»Genau, Lilith. Waren. Größter Fehler meines Lebens.« Es tat gut, wütend zu sein, es verdeckte den Schmerz und den Selbsthass, die sie in mir auslöste. Ich wollte keine Schwäche vor ihr zeigen, nie wieder.

Empört schnappte sie nach Luft. »Was ist denn passiert, als du weg warst? Du bist so anders.«

»Du meinst, ich füge mich dir nicht mehr?« Ich hätte das nicht sagen sollen, denn die schmerzhafte Erinnerung tauchte wie gerufen vor meinem inneren Auge auf. Nur mit Mühe konnte ich sie zurückdrängen.

»Was redest du denn?« Sie schien es einfach nicht zu begreifen. »Irgendjemand hat dich verändert, als du weg warst.«

»Das hat dich nicht zu interessieren.« Ich hasste es, dass ich in der Defensive gelandet war.

»Also hast du jemanden getroffen. Was macht sie besser als mich?«

Verwirrt schaute ich auf sie herab. »Was ist in deiner Kindheit eigentlich falsch gelaufen? Es gibt einen Grund, warum wir nicht mehr in einer Beziehung sind. Warum ich jetzt mit jemand anderen zusammen bin, der viel besser für mich ist.«

Sie schien überrascht zu sein, fing sich aber schnell wieder. »Ach, und wo ist die Person jetzt? Nicht hier, oder?«

»Was interessiert dich das eigentlich? Warum hältst du dich nicht einfach aus meinem verdammten Leben heraus? Früher haben dich meine Gefühle doch auch nicht interessiert.« Ich wollte nur noch, dass es vorbei war.

»Natürlich haben sie das.«

»Denk mal genauer nach. Ich erinnere mich da nicht mehr dran.« Inzwischen war mir alles so egal, ich war so ausgelaugt von diesem Gespräch, dass es mich nicht mehr interessierte, wenn sie von Delian erfuhr. »Er drängt mich zu nichts. Nimm dir mal ein Beispiel daran.«

Einige Sekunden blieb sie still, blinzelte mich nur an, dann entfuhr ihr ein so schrilles Lachen, dass einige Mitglieder der Gruppe die Köpfe in unsere Richtung drehten. Ich hatte sie ganz vergessen. Jetzt schauten sie aufmerksam in unsere Richtung.

»Du meinst, du wolltest keinen Sex mit mir, weil du schwul bist? Ist das dein scheiß Ernst?«, rief sie und stellte somit sicher, dass alle anderen jedes einzelne Wort verstanden.

Es prallte wie an einer festen Hülle an mir ab, dass sie mich gerade vor der ganzen Gruppe outete. Zwar als schwul, aber es lief auf das Gleiche hinaus. Nur ein dumpfes Gefühl kam in meinem Herzen an, kaum der Rede wert. Ich konnte es kaum erwarten, endlich von hier wegzukommen und mit Delian zu telefonieren.

Ich schnaubte. »Und wenn schon. Du lässt mich jetzt endlich in Frieden, verstanden? Lass mich einfach in Frieden.« Ich baute mich vor ihr auf, weil, fuck, ich war gute zwanzig Zentimeter größer als sie und einmal sollte mir meine Größe doch zu etwas nützen. Dann ließ ich meinen Blick abschätzig über die anderen wandern. »Und ihr am besten auch, wenn ihr so scheiße seid wie sie.«

Keine gute Wortwahl, aber das war egal, denn endlich konnte ich mich umdrehen und den Weg durch den Schlossgarten laufen, so weit, bis meine Füße schmerzten und ich mich nach Hause aufmachen konnte. Bis diese Wut in mir abgeklungen war.

Ich war erst vielleicht zwanzig Meter weit gekommen, als ich Schritte hinter mir hörte. Bevor ich Lilith genervt anschnauzen konnte, dass sie mich gefälligst in Ruhe lassen sollte, rief eine Stimme meinen Namen, die definitiv nicht zu ihr gehörte.

Im ersten Moment erkannte ich sie nicht, doch als ich mich umdrehte, sah ich Nicolas auf mich zulaufen.

»Amaliel, warte«, rief er noch einmal und widerwillig blieb ich stehen. Es war mir relativ egal, was er von mir wollte.

Schnell hatte er mich eingeholt und strich sich einige seiner dunkelbraunen Locken zurück, die sich aus dem Knoten an seinem Hinterkopf gelöst hatten. »Danke«, sagte er mit einem Grinsen und fing wieder an zu laufen.

Wohl oder übel musste ich ihm folgen, wenn ich wissen wollte, warum er mir nachgelaufen war. Wenn er mich zusammenschlagen wollte, hätte er es sicher sofort und nicht allein gemacht. »Was willst du?«

Er zuckte mit den Schultern und führte mich weiter durch den Schlossgarten. »Hier ist es so voll. Ich würde gerne mit dir reden.« Er drehte sich einmal um die eigene Achse und bog dann rechts ab. »Hier gibt es irgendwo einen kleinen Steg, lass uns dahin gehen.«

»Damit du was machen kannst?« Ich hatte keine Lust auf seine schwammigen Antworten.

»Mit dir reden. Ich will nicht, dass du denkst, dass ich genauso scheiße bin wie die anderen.« Er grinste mir zu und plötzlich hatte ich nicht mehr das Gefühl, dass er mir etwas Schlechtes wollte.

Gezwungenermaßen folgte ich ihm, während er mich aus dem Schlossgarten und einen geteerten Weg durch den kleinen Wald entlangführte, vorbei an einem Spielplatz und einem Segelclub. Sogar sein Schweigen ertrug ich, auch wenn ich gespannt war, was er mir sagen wollte.

Schließlich bog er vom eigentlichen Weg ab auf einen aus Holzplanken, der bis ans Wasser führte. Wir setzten uns nebeneinander an den Rand, ließen die Beine über den Rand baumeln und den Blick über den See und zum Schloss schweifen.

»Mein Bruder ist trans«, begann Nicolas unvermittelt. »Als er sich vor zwei Jahren geoutet hat, habe ich nicht optimal reagiert.«

»Und das möchtest du jetzt besser machen?«, fragte ich, den Blick weiter starr nach vorne gerichtet. Ich wollte nicht, dass er bei mir war, nur damit er sich besser fühlte.

»Nein. Vielleicht. Aber nicht nur. Ich habe es damals gar nicht akzeptiert und ihn total abgeblockt. Erst später habe ich bemerkt, dass er jemanden gebraucht hätte, der für ihn da ist. Erst durch ihn habe ich gelernt, dass Sexualität und Geschlecht mir eigentlich scheißegal sein sollten. Weißt du, was ich meine? Deswegen bin ich hier. Damit du weißt, dass es mich nicht interessiert, wenn du auf Typen stehst.«

Ich nickte abwesend, verarbeitete das Gesagte einige Sekunden. »Ich bin nicht schwul.«

Nicolas zuckte mit den Schultern. »Sind wir schonmal zwei.«

»Ich weiß nicht genau, was ich bin. Ich meine, ich habe einen Freund, also kann es hetero schonmal nicht sein. Aber ich weiß es einfach noch nicht.« Wann war es so einfach geworden, darüber zu reden?

»Ist ja auch nicht schlimm. Es ist ein Prozess, die eigene Sexualität kennenzulernen – und das Geschlecht. Das habe ich auch von meinem Bruder gelernt. Schließlich wachst du nicht eines Morgens auf und stellst fest, dass du trans bist, ohne dass es vorher Anzeichen gegeben hat.«

»Da hast du recht.« Nachdenklich kaute ich auf meiner Unterlippe herum, dann wandte ich mich Nicolas wieder zu. »Danke, dass du mir nachgelaufen bist.«

»Kein Problem.« Er grinste das unbeschwerte Grinsen, das ich schon zuvor von ihm kennengelernt hatte. »Sieht aus, als hätten wir jetzt nur noch uns. Also, freut mich dich kennenzulernen, neuer bester Freund.«

Unsicher betrachtete ich seine ausgestreckte Hand, schlug dann aber ein. »Die Freude ist ganz meinerseits.«


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