Kapitel 28
Ich ließ Amaliels Brief sinken, starrte an meine Decke. »O Mali. Ich wünschte, ich wäre bei dir. Ich wünschte, wir könnten das zusammen durchstehen.«
Mit einem Seufzen faltete ich den Brief wieder zusammen und versteckte ihn unter meinem Kissen. Ich würde später eine Antwort verfassen. Erst hatte ich etwas anderes vor.
Es waren inzwischen sechs Tage vergangen, seit Amaliel gegangen war. Keine Minute war vergangen, in der ich nicht an ihn gedacht hatte.
Vielleicht war ich emotional zu abhängig von ihm, aber ich war frisch verliebt und wollte nichts anderes, als bei ihm zu sein. Ich war mir sicher, irgendwann würde es sich etwas legen, aber für den Moment erlaubte ich mir, ihn zu vermissen.
Ich hatte in der Nacht, in der er gegangen war, nicht mehr geschlafen und seitdem auch nur schlecht. Kaum waren die Polizisten mit Amaliel und seinen Sachen weg gewesen, war der Sturm in Form meines Vaters über mich hereingebrochen. Es war nicht nur meine Homosexualität, auch dass ich Amaliel hier versteckt hatte und wie unverantwortlich ich die ganze Zeit über gehandelt hatte.
Ich hatte es über mich ergehen lassen. Am Morgen war meine Mutter mit mir und einigen unserer Sachen zu meiner Oma gegangen. Als Erklärung hatte sie gesagt, dass mein Vater und ich Abstand voneinander bräuchten, um nachzudenken und uns zu beruhigen. Ich hatte ihr nicht widersprochen.
Die letzten Tage hatte ich sie gebeten, bei uns in dem Briefkasten zu schauen, falls ein Brief von Amaliel kommen sollte. Ansonsten konnte ich nur hoffen, dass er mir eine Nachricht schreiben würde, aber ich wusste nicht, ob er meine Handynummer auswendig konnte.
Wenige Tage, nachdem Amaliel zurückgegangen war, hatte meine Mutter sich zu mir an den Küchentisch gesetzt und mich gebeten, ihr die ganze Geschichte zu erzählen. Sanft, aber bestimmt. Also hatte ich geredet.
Von unserem Urlaub vor so langer Zeit, von den vielen Jahren Brieffreundschaft, von Amaliels Besuch und wie wir uns verliebt hatten. Ich hatte seine psychischen Probleme ausgelassen, davon musste meine Mutter nichts wissen. Aber es war klar, dass Amaliel mehr als einen guten Grund gehabt haben musste, um von zuhause abzuhauen.
Meine Mutter hatte still neben mir gesessen und mich erzählen lassen. Es hatte erstaunlich gutgetan, all meine Erlebnisse und Gedanken mit jemandem zu teilen.
Am Ende hatte sie mich fest in den Arm genommen.
Jemand klopfte an der Tür und ich schreckte aus meinen Gedanken. Es war meine Mutter, die ihren Kopf in das Gästezimmer meiner Oma steckte. »Bist du bereit?«
Ich zuckte die Schultern. »Die bessere Frage ist, bist du bereit?«
Sie lächelte und nickte zögerlich. Ich stand auf und folgte ihr aus dem Zimmer.
Heute sollte ich ihren Freund das erste Mal treffen. Sie hatte mir vor wenigen Tagen mit dem gleichen schüchternen Lächeln auf den Lippen davon erzählt, dass sie uns miteinander bekannt machen wollte. So unsicher war ich meine Mutter gar nicht gewohnt.
Auch in mir machte sich langsam Aufregung breit. Die beiden waren schon wesentlich länger zusammen als Amaliel und ich – knapp zwei Jahre, hatte mir meine Mutter erzählt. Und sie erwarteten ein Kind zusammen. Ich wollte auf keinen Fall einen schlechten Eindruck hinterlassen.
David, wie ihr Freund wohl hieß, hatte uns zum Abendessen bei sich eingeladen. Er kochte gerne und auch gut, behauptete meine Mutter.
»Weiß er, dass du schwanger bist?«, fragte ich, als wir zusammen im Auto saßen.
»Ja. Aber erst seit einigen Tagen. Du kannst dich also nicht verplappern.« Sie lächelte mich beschwichtigend an und lenkte den Wagen auf die Straße.
»Dann ist gut.« Es war immer noch seltsam zu wissen, dass meine Mutter ein weiteres Kind in sich trug. Dass ich ein Geschwisterchen bekommen würde. Noch konnte man nichts erkennen, aber das würde sich bald ändern.
Die Fahrt verlief schweigend, ich lauschte dem Radio, bis wir vor einem Mehrfamilienhaus hielten. Zögerlich stieg ich aus, betrachtete das Haus.
»Bist du nervös?«, fragte meine Mutter, als sie neben mich trat.
Ich schmunzelte. »Schon wieder eine Frage, die ich eigentlich dir stellen sollte. Ich habe dir meinen Freund schon vorgestellt, jetzt bist du an der Reihe.«
»Wo du nicht recht hast ...« Sie seufzte und schaute an der Fassade nach oben. »Lass uns reingehen.«
Etwas aufgeregt war ich dann doch, als meine Mutter auf einen Namen auf dem Klingelschild drückte und wir darauf warteten, dass ihr Freund uns die Tür öffnete. Schließlich war er jetzt der Partner, den meine Mutter sich ausgesucht hatte, und wenn sie sich jetzt offiziell von meinem Vater »trennte«, wollte sie sicher mit ihm zusammenleben. Und ihr Kind zusammen großziehen. Ich musste mich mit ihm arrangieren, da hoffte ich, dass wir uns gut verstanden.
Das Schloss summte und wir traten in das sporadisch erleuchtete Treppenhaus.
»Erster Stock«, murmelte meine Mutter, eher zu sich selbst als zu mir. Ich war ein, zwei Stufen hinter ihr, als wir die Treppe nach oben stiegen. Licht fiel aus einer geöffneten Tür in den Gang, erhellte den restlichen Weg zur Wohnung.
Erst als ich oben stand, wagte ich den Blick zu heben. Vor uns stand ein Mann, etwas älter als meine Mutter, mit ordentlich zurückgekämmtem dunklem Haar und einem freundlichen Lächeln auf den Lippen.
»Guten Abend«, empfing er uns und runzelte im nächsten Moment die Stirn über seine förmliche Begrüßung. Er war mir sofort sympathisch. »Kommt rein.«
Mit einer ausladenden Handbewegung leitete er in seine Wohnung und schloss die dunkle Holztür hinter uns. Er küsste meine Mutter kurz auf die Wange und drehte sich zu mir.
»Du bist Delian?«
Ich nickte, als wäre es nicht offensichtlich gewesen. Aber ich merkte, dass er nervös war, und wollte es ihm nicht unnötig schwer machen.
»David.« Er hielt mir die Hand hin, ich schüttelte sie. »Lia wollte mir noch nicht so viel über dich verraten, aber das können wir jetzt wohl nachholen. Aber sie hat mir erzählt, dass du Vegetarier bist, deswegen habe ich extra ohne Fleisch gekocht. Es ist kein Fünf-Sterne-Menü, aber ich hoffe, es schmeckt.«
David drehte sich um, um uns ins Esszimmer zu führen und sah so nicht, wie ich missbilligend mein Gesicht verzog. Meine Mutter hingegen hob fragend die Augenbrauen.
»Es gibt bei Restaurants keine fünf Sterne, nur drei«, erklärte ich und sie kicherte leise. Als David sich zu uns umdrehte, verstummte sie und tat, als wäre nichts gewesen.
»Ich sehe schon, ihr habt euch gegen mich verschworen.«
{☆}
»Bist du homophob?«, fragte ich, als wir uns alle an den Tisch gesetzt hatten und niemand zu wissen schien, über was wir reden sollten. Und was gab es besseres als Start in eine Konversation, als mit der Tür ins Haus zu fallen.
David schaute überrascht auf und schien erst nicht zu wissen, was er sagen sollte. »Warum fragst du?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Weil ich schwul bin und das alles hier ziemlich unangenehm wird, wenn du in irgendeiner Weise homophob bist.«
Stille breitete sich am Tisch aus und David schaute mich so verdutzt über meine Direktheit an, dass meine Mutter neben mir sich eine Hand auf den Mund schlug, um ihr Kichern zu verbergen. Ich trank einen Schluck Wasser, musste mich aber konzentrieren, ihn auch herunterzuschlucken, weil das Lachen meiner Mutter so ansteckend war.
»Nein, ich glaube nicht«, antwortete David langsam und räusperte sich. »Aber falls ich mal was Diskriminierendes von mir geben sollte, musst du es mir sagen.«
Meine Mutter hatte sich inzwischen wieder beruhigt und nahm die Hand vom Mund. »'Tschuldigung«, murmelte sie. »Aber das war zu lustig. Du darfst David doch nicht so überfordern.«
Ich grinste sie an, losgelöst von der Leichtigkeit des Gesprächs. »Ich wollte nur schon mal alles aus dem Weg räumen, bevor irgendwann noch Missverständnisse auftreten und er mich fragt, ob ich eine Freundin habe.«
Ich wusste nicht, woher es kam, dass ich so offen mit einem mir völlig Fremden sprach, aber es fühlte sich nicht falsch an. Wenn meine Mutter diesen Mann liebte, konnte ich ihm auch vertrauen und dann war es doch nicht schlecht, wenn ich ihn darüber informierte, oder?
Es war eine Sache, die mir generell aufgefallen war, seit Amaliel gegangen war. Mir waren viele Dinge egal. Es war mir egal, dass ich die letzte Woche über keinen Kontakt mit meinem Vater gehabt hatte. Und es war mir egal, dass ich mich jetzt vor David geoutet hatte, einfach so. Noch vor wenigen Tagen hätte ich es noch gar nicht gewagt, ihm anzuvertrauen, dass ich schwul war.
Doch wer wagt, der nicht gewinnt.
{☆}
Erst Stunden später war ich wieder in meinem vorübergehenden Zimmer auf dem Bett und hatte den Kopf gen Decke gewandt. Es war ein wirklich schöner Abend gewesen, das musste ich zugeben. Die Stimmung war locker gewesen und ich konnte sehen, wie nahe David und meine Mutter sich standen. Es war ungewohnt, aber schön.
Amaliels Brief lag immer noch neben meinem Kopf und wartete auf eine Antwort. Ich konnte mich heute noch nicht dazu aufraffen, aber mir fiel etwas anderes ein. In elf Tagen war sein Geburtstag.
Meine Mutter hob überrascht den Kopf vom Display ihres Handys, als ich zu später Stunde nochmal im Wohnzimmer auftauchte. Aber ich hatte Angst, es morgen wieder vergessen zu haben, also erledigte ich es besser früh als nie.
»Was ist los?«, fragte sie und drehte sich mir zu. Das Make-Up war von ihrem Gesicht verschwunden, aber sie trug immer noch die hübsche, hellblaue Bluse von vorhin.
»Weißt du, ob Oma Briefumschläge hat, in denen man so ein DIN A4 verschicken kann?« Ich hielt Marys Bild noch, aber so, dass sie die unbemalte Seite sah.
»Und das möchtest du jetzt wissen?« Sie gähnte hinter vorgehaltener Hand, wie zur Unterstreichung ihrer Worte. »Ich weiß es nicht, aber wir können morgen früh mal schauen, bevor ich wieder zur Arbeit muss.« Ihr Blick wurde weicher. »Es ist für Amaliel, oder?«
Es fühlte sich immer noch falsch an, dass sie seinen Namen kannte, aber ich ignorierte das Gefühl. »Er hat am elften September Geburtstag«, antwortete ich.
Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. »Ach, ihr zwei«, meinte sie und schüttelte den Kopf. »Wir schicken das auf jeden Fall rechtzeitig ab.«
Ich nickte und schenkte ihr ein schnelles Lächeln, bevor ich zurück in mein Zimmer lief. Vorsichtig verstaute ich das Bild in einer Schublade und wandte mich dann wieder meinem Bett zu. Mein Blick fiel auf das Handy auf dem Nachtkästchen, das ich Amaliel gegeben hatte, damit er mir schreiben konnte.
Es war sicherlich das fünfte Mal, dass ich es durchschaute, aber ich konnte nicht widerstehen und nahm es wieder zur Hand. Amaliel hatte wohl kaum etwas damit gemacht, außer beinahe jeden Tag Bilder von den Wolken zu schießen.
Ich konnte nicht aufhören zu lächeln, als ich sie nacheinander anschaute. Die meisten waren große Wolken in allen möglichen Formen und ich schaute sie mir alle genau an, versuchte herauszufinden, was für Dinge Amaliel in ihnen gesehen hatte. Manchmal malten Schleierwolken seltsame Muster an den Himmel und einige der Bilder zeigten Sonnenuntergänge, die Wolken in kräftigem Orange oder hellem Rosa.
Ich stellte mir vor, wie er vorsichtig sein Fenster geöffnet hatte, um den Himmel zu fotografieren, und es dann schnell wieder geschlossen hatte, damit meine Eltern ihn nicht sahen. Wie er die Arme auf dem Fensterrahmen abgestützt und weiter die Wolken beobachtet hatte. Ich konnte das Lächeln nicht unterdrücken, das sich auf meinem Gesicht ausbreitete bei dem Gedanken an Amaliel und seine unerklärliche Liebe für Wolken und die Unendlichkeit des Himmels.
So fühlte ich mich ihm näher, während ich weiter auf eine Nachricht von ihm wartete. Ich wollte mehr wissen als das, was in seinem Brief stand, wollte sein Gesicht wiedersehen, seine Grübchen, wenn er lächelte.
Aber ich musste mich damit abfinden, dass ich ihn so bald nicht wieder bei mir haben würde, so sehr es auch schmerzte. Irgendwann würden wir uns wiederhaben.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top